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Bundesparteitag der Grünen
"Wir definieren uns als Partei der linken Mitte"

Der frühere Grünen-Fraktionschef, Trittin, hat Forderungen aus den eigenen Reihen zurückgewiesen, die Grünen müssten mehr Pragmatismus beweisen. In vielen Bereichen seien grüne Positionen bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sagte Trittin im Deutschlandfunk. Als Beispiele nannte er den Atomausstieg und das Staatsangehörigkeitsrecht.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Grünen-Politiker Jürgen Trittin
    Aus Sicht von Ex-Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sind die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. (dpa / picture-alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Vor 30 Jahren seien die Grünen für ihre Positionen belächelt worden, ohne Atomkraft zu leben und Strom aus Windkraft zu erzeugen, sagte Jürgen Trittin, ehemaliger Fraktionschef der Grünen, im Deutschlandfunk. "Wir haben in vielen Fällen die Mitte der Gesellschaft für uns gewonnen." Als weitere Beispiele nannte Trittin die Mitwirkung der Grünen an Einwanderungs- und Zuwanderungsgesetzen sowie die Frage der Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben. Die Grünen definierten sich ausdrücklich als Partei der linken Mitte, so der ehemalige Bundesumweltminister.
    Die Partei setzt heute ihre Bundesdelegiertenkonferenz in Hamburg fort. Auf der Tagesordnung steht unter anderem eine Debatte über die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann will dabei vor der Basis sein umstrittenes "Ja" zum Asylkompromiss im Bundesrat gegen Kritik der Parteilinken verteidigen. Am zweiten Tag des Parteitages geht es außerdem um die Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik sowie den Klimaschutz.

    Das Interview in voller Länge:

    Thielko Grieß: Vielleicht ist es eine ganz gute Idee gewesen, die zur Beruhigung beiträgt: sich in Hamburg zu treffen, der eher kühleren Stadt im Norden, recht weit weg von Hessen oder von Baden-Württemberg. Die Grünen treffen sich dort seit gestern und noch bis morgen, in Hamburg, zu ihrem Parteitag, den die Grünen selber Bundesdelegiertenkonferenz nennen. Kritik an den eigenen Leuten, Kritik am Wahlkampf des vergangenen Jahres und der Wunsch, endlich mehr Mitte zu wagen, wirtschaftsfreundlicher zu sein - all dies kam in den vergangenen Wochen in deutlichen Worten aus dem Süden der Republik, wo grün regiert oder mitregiert. Am Telefon begrüße ich Jürgen Trittin, den früheren Fraktionschef der Grünen im Bundestag. Schönen guten Morgen, Herr Trittin!
    Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr Grieß!
    Grieß: Süddeutsch, grün und erfolgreich - wie sehr geht Ihnen dieser Dreiklang inzwischen auf die Nerven?
    Trittin: Das trage ich mit Gelassenheit. Ich freue mich darüber, dass wir Grünen im Süden gut sind. Ich muss aber auch zu bedenken geben, dass sowohl in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen und demnächst wahrscheinlich auch in Hamburg Grüne regieren. Also die Nordgrünen müssen sich in ihrem Zugang zur Macht und zur Beteiligung an Macht vor niemandem verstecken.
    Mitregieren im Norden
    Grieß: Aber die Deutungshoheit, die liegt doch im Augenblick in Hessen, in Baden-Württemberg und auch noch in Rheinland-Pfalz. Das kann der Norden doch so nicht durchgehen lassen.
    Trittin: Das hätten vielleicht einige gerne, aber im Ergebnis glaube ich, dass diese Partei vor der Aufgabe steht, zunächst im nächsten Jahr in Hamburg die absolute Mehrheit von Olaf Scholz zu brechen und gleichzeitig die rot-grüne Regierung und die Beteiligung in Bremen fortzusetzen. Und dann, im Jahre 2016, werden alle Grünen ein gewisses Interesse daran haben, auf der einen Seite in die Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen, wo wir übrigens auch regieren, im größten Bundesland, und in Rheinland-Pfalz die Regierungsbeteiligung ebenso zu verteidigen, wie wir natürlich alles daran setzen werden, den einzigen Ministerpräsidenten, den wir haben, Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, dafür zu sorgen, dass der auch nach 2016 noch der Ministerpräsident ist.
    Grieß: Mit sehr eigenen Rezepten zum Teil, die nicht immer grüner Mainstream waren. Und das ist eben die Frage, ob es jetzt dazu kommt. Wir haben gestern früh hier im Programm Boris Palmer gehört, den Tübinger Oberbürgermeister , gerade wiedergewählt mit großer Mehrheit. Hören wir kurz, was er Ihnen, den Grünen, empfiehlt.
    Boris Palmer: Da gibt es eben zwei Grundhaltungen. Die eine ist, die reine Lehre vertreten - dann hat man gesehen, was bei der Bundestagswahl passiert: Wenn man sich zu weit links einsortiert, dann endet man irgendwo bei acht Prozent. Oder aber man orientiert sich stärker an der Mitte, und dann, mit pragmatischem Kurs, kann man sehen, dass man in Baden-Württemberg auch den Ministerpräsidenten stellen kann.
    Investitionsschwäche überwinden
    Grieß: Möchte Jürgen Trittin etwas mehr Pragmatismus lernen?
    Trittin: Ich muss, glaube ich, keinen Pragmatismus lernen. Ich habe im Laufe meines Lebens zum Beispiel über einen Atomkonsens, über die Frage, wie man in Europa mit einem Stabilitätsmechanismus tatsächlich Solidarität übt, hinreichend Pragmatismus bewiesen. Es ist übrigens auch kein Widerspruch, zwischen Festigkeit in Prinzipien und pragmatischer Umsetzung zu agieren. Das hat die Grünen immer stark gemacht. Die Grünen würden sich schwächen, wenn sie Prinzipien gegen pragmatische Umsetzung setzen. Das ist genau das, was sie ausmacht. Um ein Beispiel zu geben: Wir haben gestern darüber gesprochen: Wirtschaft brauche einen Ordnungsrahmen. Ja. Was ist ein Ordnungsrahmen? Ein Ordnungsrahmen ist zum Beispiel ein Erneuerbares-Energien-Gesetz, was in diesem Lande 300.000 neue Arbeitsplätze, eine florierende, exportorientierte Industrie geschaffen hat. Ein Ordnungsrahmen wäre es, wenn wir endlich da hinkämen, die private, also die der Unternehmen, und die der öffentlichen Hand anzutreffende Investitionsschwäche in diesem Lande überwinden würden und nicht erst ab 2016 gegen die Krise investieren, sondern das jetzt tun, und das auch tun, indem wir das nicht über neue Kredite machen, sondern zum Beispiel durch den Abbau ökologisch schädlicher Subventionen. Das ist pragmatische und auch werteorientierte Wirtschaftspolitik.
    Grieß: Halten Sie es für möglich, Herr Trittin, dass die süddeutschen Grünen, während sie mit ihren Wahlerfolgen wedeln, die Grünen auf Dauer verändern?
    Trittin: Ich halte weder davon, dass die einen den anderen meinen, sie könnten es besser als die anderen, noch halte ich etwas davon, dass man sich unentwegt selber auf die Schulter klopft. Ich halte viel davon, voneinander und miteinander zu lernen, und dass wir es geschafft haben im Süden - das gilt nicht nur in Baden-Württemberg, auch in Bayern, wo wir in der Opposition sind - so wahrgenommen zu werden als die tatsächliche Alternative zur CDU, das ist etwas, was unter diesen Bedingungen, gerade dort Politik zu machen, ein großartiger Erfolg ist und das macht einen großen Teil unserer Stärke aus.
    Grieß: Wenn Sie sich zurückerinnern in die Geschichte der Grünen, da gab es Zeiten, da galt es, als Alternative zur CDU zu gelten, als Teufelswerk.
    Trittin: Nein, das ist übrigens auch nach meiner Erinnerung nie so gewesen, sondern wir haben den Anspruch gehabt seit langer Zeit: Wir sind die Grünen, wir definieren uns und sagen nichts gegen andere und über andere, sondern aus uns selber heraus, und wir vertreten das. Sehen Sie, wir sind gegen Weiterbetrieb von uralten Kohlekraftwerken, die sind für 40 Prozent der Quecksilberemissionen in diesem Lande verantwortlich. Wer das mit uns machen will, mit dem können wir koalieren, wie wir das jetzt in Thüringen tun, wie wir das in Hessen tun mit sehr unterschiedlichen Koalitionspartnern.
    Die Mitte der Gesellschaft von Inhalten überzeugen
    Grieß: Und wie Sie es in Nordrhein-Westfalen tun, in einem Braunkohleland.
    Trittin: Und mit wem wir ... Ja. Aber auch da läuft die Auseinandersetzung in aller Schärfe darüber, dass die Überkapazitäten abgebaut werden müssen. Aber dort, wo Menschen und andere Parteien pro Kohle sind, etwa schauen Sie in Sachsen die CDU und die SPD, in Brandenburg, wo es selbst die Linke vor Kohlefreundlichkeit nicht aushalten kann, da stehen die Grünen in der Opposition. Solche eigenen Prinzipien durchzutragen, die eigene Politik dann ergebnisorientiert umzusetzen, das ist die Haltung der Grünen und das ist eigenständig grün, in der Opposition wie in der Regierung.
    Grieß: Ich möchte das noch mal auf den Punkt bringen, Herr Trittin: Boris Palmer, Winfried Kretschmann, andere streben in die Mitte der Gesellschaft, so drücken sie es aus. Wollen Sie da mitgehen?
    Trittin: Wir haben in vielen Fällen die Mitte der Gesellschaft für uns gewonnen. Vor 30 Jahren haben die Leute gelacht, wenn man gesagt hat, man könnte ohne Atomkraft leben und mit Windrädern Strom erzeugen. Heute liefern die Windräder 30 Prozent in die Mitte der Gesellschaft.
    Grieß: Schon, aber 8,4 Prozent bei der Bundestagswahl ist ja nun nicht direkt ein Wahlerfolg in der Mitte der Gesellschaft.
    Trittin: Das hat auch niemand behauptet. Sie haben mich aber gefragt, was mit der Mitte der Gesellschaft ist, und mit der Mitte der Gesellschaft ist es tatsächlich so, dass die Grünen es in vielen Fragen geschafft haben, schauen Sie, von der neuen Staatsangehörigkeit, von der Frage Einwanderungsgesetze und Zuwanderungsgesetz über die Frage der Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben in der Energiepolitik, von Positionen weit außerhalb des politischen Spektrums am Rande die Mitte der Gesellschaft von ihren Inhalten überzeugt haben. So geht das Verhältnis, und deswegen definieren wir uns in dem gestrigen verabschiedeten Antrag ausdrücklich als Partei der linken Mitte. Das ist der gemeinsame Konsens zwischen sehr unterschiedlichen Strömungen bei den Grünen. Aber wissen Sie, das ist so mit einer Partei. Eine Partei braucht, um zu fliegen, Flügel, aber entscheidend kommt es am Ende darauf an, was die Mitte des Tieres macht und die gibt die Richtung an.
    Grieß: Früher war es einmal Aufgabe und Kern der Grünen, Ungedachtes zu denken und genau dahin zu streben. Wo bleibt das?
    Trittin: Das tun wir. Vor ein paar Jahren haben Menschen gesagt, nie und nimmer könnte man parallel aus der Atomenergie und aus der Kohle aussteigen.
    Wir brauchen einen globalen Ordnungsrahmen
    Grieß: Ja, aber das ist ja nun alles schon erledigt weitestgehend.
    Trittin: Nein, das ist überhaupt kein Stück erledigt.
    Grieß: Wo ist denn das ...
    Trittin: Das ist ein großes Missverständnis.
    Grieß: Was denken Sie denn heute vor, was noch nicht gedacht worden ist, heute, jetzt?
    Trittin: Ich versuche, es Ihnen ja gerade zu sagen, als Sie mich versuchen, zu unterbrechen.
    Grieß: Pardon.
    Trittin: Es gibt eine ganz einfache Botschaft: Das, was wir an fossilen Vorräten in der Erde haben, davon darf man höchstens noch ein Drittel rausholen. Und das wird etwas sein, wo es einer massiven Auseinandersetzung bedarf. Wir haben lange geglaubt, man könnte sich darauf verlassen, dass die Vorräte an fossiler Energie von selber zu Ende gehen würden. Nein, das ist nicht so. Wenn man alles, was noch gefunden, was noch daliegt, verbrennen würde, würde das globale Klima um mehr als drei, vier Grad steigen. Das können wir uns aus ökologischen und aus ökonomischen Gründen nicht leisten. Und deswegen brauchen wir einen globalen Ordnungsrahmen, der da rangeht und dafür sorgt, dass genau diese fossilen Dinge unter der Erde bleiben. Das nehmen wir vorweg. Wir haben da ein paar Menschen an unserer Seite, aber das ist alles andere als Mainstream in dieser Gesellschaft und in Europa.
    Grieß: Die Grünen suchen ihren Kurs für die nächsten Monate und wir haben einige Minuten lang mit Jürgen Trittin den Kurs mitgesucht. Herr Trittin, danke schön für das Gespräch heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk!
    Trittin: Ich danke Ihnen!
    Grieß: Schönen Tag in Hamburg, schönes Wochenende dort bei der Bundesdelegiertenkonferenz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.