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Bundesparteitag der SPD
Stimmungstest für Sigmar Gabriel

Die Flüchtlingspolitik und der Kampf gegen den Terror werden die großen Themen beim SPD-Bundesparteitag sein, der am Donnerstag in Berlin beginnt. Parteichef Sigmar Gabriel muss sich beweisen - als Parteivorsitzender und als Kanzlerkandidat für die Wahl 2017. Denn parteiinterner Gegenwind ist ihm gewiss.

Von Frank Capellan und Christoph Richter |
    SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel geht vor einer purpurfarbenen Wand mit rotem SPD-Logo entlang
    SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel (dpa/picture alliance/Uwe ZucchiWolfgang Kumm)
    Sigmar Gabriel in seinem Element, Besuch beim Fraunhofer-Institut in Jena, Kameras klicken, der SPD-Vorsitzende im Mittelpunkt. Hier geht es mal nicht um die Flüchtlingskrise, nicht um Genossen-Zoff in Sachen Freihandelsabkommen, nicht um schlechte Umfragewerte. Wissenschaftler umringen, hofieren ihn. Hier ist Gabriel als Wirtschaftsminister gefragt und als solcher blüht er sichtlich auf, als er mit einem Roboter spricht.
    Es geht um die Arbeitswelt der Zukunft, das Zusammenspiel von Mensch und Maschine - ein Thema, das auch auf dem SPD-Bundesparteitag in dieser Woche eine Rolle spielen soll, im Zeichen von Flüchtlingskrise und Anti-Terror-Kampf aber wohl eher zur Nebensache werden dürfte. Dabei will doch gerade die alte Arbeiterpartei Antworten darauf geben, wie sich die Menschen in der digitalen Job-Welt zurechtfinden können. Ungläubig betrachtet Gabriel den Roboter, der einen Ball greifen soll, aber leider daneben packt:
    - Roboter: "Ich gebe Ihnen den Ball".
    - Gabriel: "Also, wir erkennen mindestens den noch notwendigen Forschungsbedarf..."
    Punkt für den Minister, die Forscher schauen betreten zu Boden. Um einen Spruch ist der gewichtige Mann nie verlegen. Als ihm eine moderne Daten-Lesebrille auf die Nase gesetzt wird, beginnt er zu flachsen - diesmal als SPD-Chef:
    Gabriel: "Ich habe ein scharfes Bild, allerdings nur links... - links ist gut."
    Wissenschaftler: "Es ist aber grün..."
    Gabriel: "Jaaa, Gott sei Dank nur ein kleiner Anteil..."
    Schnelle Reaktion auf Stimmung in der Bevölkerung
    Parteivorsitzender, Wirtschaftsminister, Energieminister, Vizekanzler. Dieser Mann hat viele Rollen zu erfüllen, trennen lassen sie sich nie. Er ist Vertreter der Kanzlerin, will aber 2017 ihr Herausforderer sein. Bislang schien es, als sei er ohne jede Chance. Doch Merkels Stuhl wackelt, erstmals in ihrer zehnjährigen Amtszeit. Die Unangreifbare könnte über die Flüchtlingskrise stolpern - und dann? Genüsslich beobachten die Sozialdemokraten, wie Horst Seehofer die Kanzlerin vor sich hertreibt. Der Streit in der Union über die richtigen Antworten auf die Zuwanderung lässt manchen Genossen hoffen, am Ende davon profitieren zu können. Und Sigmar Gabriel ist der Letzte, der nicht schnell auf Stimmungen in der Bevölkerung reagieren kann. Auf dem Höhepunkt der Willkommenswelle nahm der SPD-Chef als einer der ersten die Zahl von einer Million Menschen in den Mund, mit denen zu rechnen sei. Und er sprach von 500.000, die ein starkes Deutschland jährlich verkraften könne. Inzwischen aber hat er die Tonlage geändert:
    "Wir müssen dafür sorgen in der Politik, dass nicht eine Lage entsteht, wo die Bevölkerung, die hier seit Langem lebt, ausgespielt wird gegen Flüchtlinge. Das, was die SPD seit einem Jahr sagt - kein Flüchtlingswohnungsbau, sondern neuen sozialen Wohnungsbau für alle, die in Deutschlands Großstädten bezahlbare Wohnungen suchen, dass wir jetzt nicht Extra-Programme machen für langzeitarbeitslose Flüchtlinge, sondern für alle Langzeitarbeitslosen. Wir dürfen nicht Leistungseinschränkungen auf der einen Seite für die hier lebende Bevölkerung machen und den Eindruck erwecken, deren Sorgen, deren Lebensverhältnisse, deren Alltag sei uns egal!"
    Heidenaus Bürgermeister Jürgen Opitz (Mitte rechts, CDU), Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (Mitte, SPD) und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (Mitte links, SPD) vor einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Heidenau (Sachsen) 
    Sigmar Gabriel (Mitte links, SPD) vor einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Heidenau (dpa / picture alliance / Rainer Jensen)
    Gabriel, der Chef der Kümmerer-Partei, Vorsitzender einer SPD, die zeigt, wie Merkels "Wir schaffen das!" umgesetzt werden kann. Einer, der auch dahin geht, wo es stinkt, wie er es 2009 bei seiner Wahl von seinen Genossen eingefordert hat. Er trifft sich unangekündigt mit Pegida-Anhängern, er setzt seine Chefin Angela Merkel unter Druck, als er nach den Krawallen vor einer Flüchtlingsunterkunft ins sächsische Heidenau fährt und das Gespräch mit sogenannten "besorgten Bürgern" sucht.
    Demonstrantin: "Ihr seid nur Ignoranten! Das müsste doch mal geklärt werden, wie das in Zukunft weitergehen soll."
    Gabriel: "Gucken Sie mal, wenn wir das an Flüchtlingen, was der Libanon oder Jordanien aufnimmt, müssten wir nicht 800.000, sondern 20 Millionen aufnehmen. Ich finde, wir dürfen auch ein bisschen darauf vertrauen, dass das ein ziemlich starkes Land ist. Übrigens auch ein ziemlich mitfühlendes. Diese Irren, die hier demonstrieren, das ist ja eine Minderheit. Das ist klar. Also: Keine Angst haben! Starkes Land hier!"
    "Ja gut, ich werde das glauben. Tschüss!"
    Uneinigkeit in der Flüchtlingsfrage
    Volksnah. Auch in der Wortwahl. Nicht immer "political correct" - in der Hoffnung, damit sozialdemokratische Anhänger zu mobilisieren. Bisher ohne Erfolg. Von der Flüchtlingskrise kann die SPD in den Umfragewerten nicht profitieren. Dass er angesichts des pöbelnden Mobs in Heidenau vom "Pack" spricht, hat ihm auch aus den eigenen Reihen den Vorwurf eingebracht, damit die vermeintlich Unverstandenen doch eher in die Arme der AfD zu treiben. Die 600 Delegierten wollen allerdings ab morgen Antworten darauf hören, wie sich die Partei in der Flüchtlingsfrage weiter positionieren will. Gabriels Stellvertreter Thorsten Schäfer-Gümbel sieht die SPD gut aufgestellt, Nachbesserungsbedarf gegenüber der Union sieht der Hesse nicht:
    "Es ist ja das genaue Gegenteil richtig, dass die Union nach dem Realtitätsschock in diesem Sommer anfangen muss, endlich ein Verhältnis zu Flüchtlings- und Einwanderungsfragen zu bekommen, nachdem sich die Union jahrelang geweigert hat, sich ernsthaft mit diesen Fragen zu beschäftigen."
    Eine intensivere Beschäftigung wird im Land aber auch von der SPD-Spitze zunehmend eingefordert. Friedland, eine 9.000-Seelen-Gemeinde vor den Toren Göttingens, Bürgermeister ist ein Sozialdemokrat. Die Glocken von St. Norbert läuten, als sich Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius ein Bild von der Flüchtlingssituation machen will. Die Idylle trügt.
    Die Einwohner von Friedland sind an Flüchtlinge gewöhnt, DDR-Bürger, Russlanddeutsche, jahrzehntelang war die kleine Gemeinde erster Anlauf für Hilfesuchende. Doch wenn plötzlich statt 750 Menschen mehr als 3.500 Flüchtlinge versorgt werden müssen, dann ist auch für viele Friedländer eine Grenze überschritten. Heinrich Hönschemeyer, der Chef im Flüchtlingslager, drückt es noch diplomatisch aus:
    "Die Situation, wie wir sie jetzt haben, führt schon dazu, dass die Nachbarschaft auch mal sagt: Es ist lauter als sonst, es ist dreckiger als sonst, es gab ungebetene Erntehelfer beim Apfelpflücken in den Gärten. Dass man da schon mal sagt: Das ist nicht mehr ganz so toll."
    Wir brauchen eine Atempause - ist aus dem Willy-Brandt-Haus zu hören. Das Tempo des Zuzugs muss gedrosselt werden, heißt es da. Doch in Niedersachsen reicht das vielen längst nicht mehr. SPD-Ministerpräsident Stephan Weil bringt erstmals Zahlen ins Gespräch - maximal 500.000 bis 700.000 Flüchtlinge hält er für Deutschland verkraftbar, das klingt schon fast wie der Ruf nach einer Obergrenze aus der CSU. Sein Innenminister Boris Pistorius ruft nach Antworten aus Berlin:
    "Ich bin von Natur aus Optimist, und zwar durch und durch. Allerdings muss ich schon sagen, dass diese Aufgabe eine Dimension angenommen hat, bei der auch ich mir Gedanken mache, wie wir es schaffen. Da müssen einige noch Antworten finden. Es reicht nicht einfach zu sagen, wir schaffen das, man muss auch sagen, was wir schaffen, wie viel wir schaffen, zu welchem Preis wir es schaffen und damit wie wir es schaffen!"
    Die Flüchtlingsfrage spaltet Europa - und die Große Koalition
    Alle Hoffnungen ruhen nun auf Europa. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wird auf dem Parteitag reden, er hat gerade für Aufsehen gesorgt, weil er Wolfgang Schäuble und seine harte Haltung in der Griechenland-Frage dafür mitverantwortlich machte, dass viele EU-Partner nun Deutschland die Gefolgschaft versagen. Von der "Payback-Time" in Brüssel spricht Schulz. Und er macht seinen Genossen keine allzu großen Hoffnungen, dass die von Angela Merkel ins Spiel gebrachten Flüchtlingskontingente schnell Realität werden. Allerdings spricht er auch das aus, was an der Parteibasis viele fordern: Staaten wie Tschechien, Polen oder die baltischen Länder könnten künftig weniger Geld aus Brüssel bekommen, sollten sie sich bei der Bewältigung der Zuwanderung weiter unsolidarisch zeigen.
    "Deshalb werden wir sicher im Jahr 2016 eine spannende Debatte bei der Überprüfung der mittelfristigen Finanzplanung der EU bekommen. Wenn die polnische Regierung ankündigt, dass sie eine Besserstellung der Landwirte bei den Agrarsubventionen haben will, ist das ja sicher gerechtfertigt. Wenn andere Länder dann sagen, na ja, aber wir haben andere Prioritäten. Wir wollen bei der Flüchtlingsfinanzierung mehr Geld haben, ist das genauso gerechtfertigt!"
    Eine solche Krise hat Europa noch nie erlebt, keine Frage, sagt Schulz. Das System, den Erfolg zu nationalisieren und den Misserfolg zu europäisieren, hat der europäischen Idee immer schon geschadet. Meint der Mann aus Würselen bei Aachen, der seine Parteifreunde davor warnt, auf Forderungen der Konservativen einzugehen. Die Freizügigkeit von Schengen sollte von niemandem infrage gestellt werden:
    "Wenn sie jetzt hingehen würden und die Freizügigkeit von Personen einschränken, dann schränken sie auch die Freizügigkeit für die Waren und die Dienstleistungen ein. Das geht überhaupt nicht. Also wollen sie an der Grenze, wo ich lebe, die Menschen im Stau stehen lassen, aber der LKW, der für die Just-in-time-Produktion bei Mercedes in Stuttgart nötig ist und gerade aus dem Hafen von Rotterdam kommt, darf durchrauschen? Das kriegen sie ja gar nicht durchgehalten. Der ganze Unsinn, der da erzählt wird, der Renationalisierungsrhetorik, dem muss man sich entgegenstellen. Es geht um die Sicherung der Außengrenzen, und da sind wir in der Begegnung mit der Türkei auf dem EU-Türkei-Gipfel sicher einen Schritt weitergekommen."
    Horst Seehofer (CSU, l-r),Sigmar Gabriel (SPD) und Angela Merkel (CDU) geben am 08.05.2015 im Bundeskanzleramt
    Horst Seehofer (CSU, l-r),Sigmar Gabriel (SPD) und Angela Merkel (CDU): Die Flüchtlingsfrage spaltet die Koalition. (dpa/picture-alliance/Wolfgang Kumm)
    Die Flüchtlingsfrage spaltet Europa - und die Große Koalition. Eine Situation, die sich durch die Terroranschläge von Paris noch mehr zugespitzt hat. Das Verknüpfen von Islamismus und Flüchtlingsfrage ist da, und wird nicht nur durch einen CSU-Heimatminister Markus Söder in München betrieben. Weiteren Verschärfungen des Asylrechtes stellt sich SPD-Chef Sigmar Gabriel auch aus parteiinternen Gründen entgegen. Das zweite Asylpaket, das Einschränkungen für minderjährige oder behinderte Flüchtlinge vorsieht, liegt auch deshalb auf Eis. An diesem Punkt reibt sich der Vizekanzler gerade mit dem Koalitionspartner; in der Frage der militärischen Unterstützung Frankreichs allerdings, steht er ganz an der Seite Merkels:
    "Wir sind den Franzosen was schuldig, wir müssen ihnen auch jetzt in dieser Situation zur Seite stehen. Für mich gibt es dazu keine Alternative!"
    Flüchtlingskrise und Kampf gegen den Terror scheinen seine Position zu festigen
    Vieles erinnert an 2001, als Gerhard Schröder den Amerikanern uneingeschränkte Solidarität versprach. Mit Zustimmung der SPD wird Deutschland nun Teil eines Krieges gegen den sogenannten Islamischen Staat; ein Syrien-Einsatz der Bundeswehr, dessen Dauer und Ausgang ungewiss ist. Außenminister Frank-Walter Steinmeier müht sich um eine gemeinsame internationale Strategie, wirklich erkennbar ist die jedoch noch nicht.
    Derweil nutzt Sigmar Gabriel in Zeiten des Terrors die internationale Bühne, um zu demonstrieren, dass sich der deutsche Wirtschaftsminister irgendwie zum Kreis der Staats- und Regierungschefs dazugehörig fühlt. Der Streit um Vorratsdatenspeicherung, um TTIP, das Freihandelsabkommen zwischen EU und USA, sein Zurückrudern bei der Klimaabgabe für Kohlekraftwerke, all das verhagelte ihm die erste Hälfte dieses Jahres. Flüchtlingskrise und Kampf gegen den Terror aber scheinen seine Position wieder zu festigen. Dass Thorsten Albig, SPD-Regierungschef in Kiel, wegen der Stärke der Kanzlerin sogar eine eigene Kanzlerkandidatur seiner Partei infrage stellte - wer mag es heute noch hören?
    "Ich wurde auch gefragt, wie ich die Leistung von Sigmar Gabriel beurteile, und ich habe ihm eine vier minus gegeben! Sein ständiges Hin und Her. Immer auf der Suche nach der vermeintlichen Stimmung des Volkes. Selbst als Angela Merkel mit ihrem ´Wir schaffen das! ´ erstmals so was wie Rückgrat zeigte, selbst da war Sigmar sich nicht zu blöde, sie auch noch rechts zu überholen."
    Dass er von Juso-Chefin Johanna Ückermann gerade erst ungewöhnlich scharf angegriffen wurde, dürfte dem Niedersachsen mit Blick auf seine Wiederwahl als Parteichef eher genutzt haben. Eine andere Kritik jedoch wiegt schwerer - drei Monate vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt:
    "Wir pflegen immer eine deutliche Sprache, wir haben hinterher auch gute Antworten."
    Nach außen pflegt Katrin Budde, SPD-Fraktionsvorsitzende in Sachsen-Anhalt, gern das Bild eines einträchtigen Paares, wenn es um sie und den Vize-Kanzler geht. Das stammt aus alten, gemeinsamen Zeiten, als Gabriel noch in Magdeburg lebte. Eitel Sonnenschein? Nicht immer, denn erst kürzlich kam es zwischen den beiden zu einem heftigen Krach. Der auch für die Energiewende zuständige Bundeswirtschaftsminister hatte eine Braunkohle-Abgabe für alte Kohlekraftwerke gefordert.
    "Das geht überhaupt nicht..."
    Die SPD-Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Katrin Budde
    Die SPD-Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Katrin Budde (dpa/picture alliance/Hendrik Schmidt)
    Katrin Budde war wütend auf ihren Parteichef - aus gutem Grund. Als Spitzenkandidatin führt sie die SPD in die Landtagswahl am 13. März. Sein Vorhaben würde in Sachsen-Anhalt vielleicht Arbeitsplätze und ihrer Landes-SPD Stimmen kosten. Denn wenn mit dem Braunkohle-Abbau Schluss ist, würde das zu einer erneuten De-Industrialisierung führen, wie man es schon mal nach 1990 erlebt habe. Und das lasse sie nicht zu, machte sie Gabriel klar. Um im gleichen Atemzug zu ergänzen, dass er mit seinem Vorhaben ausschließlich ostdeutsche Braunkohlekraftwerke belaste:
    "Hier wird mit einem Federstrich die ostdeutsche Braunkohle zu Grabe getragen, das würde sich keine andere Region in Europa gefallen lassen und wir werden es auch nicht tun."
    Keine guten Umfrageergebnisse
    Diese heftige Reaktion traf Gabriel mit voller Wucht, weshalb er schnell zurückgerudert ist und den Kompromiss der Kraftwerkskapazitäts-Reserve aus dem Hut gezaubert hat. Dieser sieht vor, dass alte Meiler nur noch als Reserve und gegen Bezahlung am Netz bleiben sollen:
    "Klar ist, wir werden nichts machen, was dazu führt, dass Menschen da arbeitslos werden oder Strukturabbrüche kommen. Trotzdem müssen alle miteinander darüber nachdenken, wie wir diese unterschiedlichen Ziele zusammenbringen, die wir alle miteinander seit Jahren beschließen..."
    Der Streit scheint beigelegt zu sein - vorerst. Denn derzeit hat Katrin Budde ein ganz anderes, ein deutlich gravierenderes Problem, wie sich am Samstag auf dem Listen-Parteitag in Wittenberg gezeigt hat:
    "Heute liebe Genossinnen und Genossen bin ich ein wenig angespannt..."
    ...was daran liegt, dass die Umfrage-Werte der SPD in Sachsen-Anhalt anscheinend tief in den Keller rauschen. Die aktuellsten Zahlen stammen vom umstrittenen, weil AfD-nahen Meinungsforschungsinstitut INSA, das der SPD ein Abrutschen von 22 auf 16 Prozentpunkte prognostiziert. Das wäre ein historischer Tiefstand. Und schlimmer noch: Nur zwei Prozentpunkte hinter der SPD liegt angeblich die rechtspopulistische AfD.
    "Es gibt verschiedene Umfragen. Es gibt zum Beispiel eine Infratest-dimap-Umfrage zu Ostdeutschland, da ist die SPD insgesamt bei 21 Prozent und die CDU im freien Fall. Ich sag mal, wir werden uns noch auf ganz viele verschiedene Umfragen und Umfrageergebnisse einstellen müssen."
    Ganz so cool wie sie tut, ist die Spitzenkandidatin dann aber doch nicht. Katrin Budde umarmt und küsst ihr Gegenüber gern. Auf dem Parteitag am Samstag dagegen kein freundliches Wort. Im Gegenteil, Mitarbeiter werden gereizt angeblafft.
    Die 50-Jährige hat allen Grund, nervös zu sein. Denn auch sie selbst hat nicht den besten Stand im Land: Laut einer Infratest-dimap-Umfrage vom September ist nur ein Drittel mit ihrer Arbeit als Fraktions- und Landesvorsitzende zufrieden, nur die Hälfte der Befragten kennt Katrin Budde überhaupt, im Süden des Landes ist sie so gut wie unbekannt.
    "Das mag im Augenblick noch so sein, aber der Wahlkampf hat noch gar nicht begonnen. Ich kenn Katrin Budde lange, auf sie ist Verlass. Sie kämpft wie eine Löwin für die Interessen, für die sie einzustehen hat. Das wird sie auch für die SPD in Sachsen-Anhalt tun," macht ihr Bundespartei-Vize Ralf Stegner Mut. Doch auch er wird wissen, dass die SPD sich schwer damit tut, in Sachsen-Anhalt mehr zu sein als Mehrheitsbeschaffer. Seit 2006 regiert sie im Bundesland mit - als Juniorpartner der CDU; als derzeit drittstärkste Kraft, die Linkspartei vor sich, die AfD im Nacken. Öffentlich kundtun werden es die Wahlkämpfer in Sachsen-Anhalt so nicht: Aber sie werden über die Fortsetzung der Großen Koalition froh sein - dann zum dritten Mal.
    Schwesig ist besonders sichtbar
    Bis zu den Landtagswahlen im kommenden Jahr wird die Parteispitze tunlichst alles vermeiden, was den Genossen vor Ort schaden wird. Denn die Kritik am Vorsitzenden Gabriel könnte erneut aufflammen, wenn innenpolitische Themen wieder an Gewicht gewinnen. Mit Rente und Steuern wollen sich die Delegierten zwar auch auf dem Bundesparteitag in Berlin beschäftigen, ans Eingemachte wird es allerdings erst in zwei Jahren gehen, wenn der Bundestagswahlkampf bevorsteht. Parteivize Thorsten-Schäfer-Gümbel:
    "Die Frage der Steuergerechtigkeit wird bei uns auf der Agenda bleiben. Das kann gar nicht anders sein. Das gilt insbesondere mit Blick auf das, was da an legalen, halblegalen und illegalen Steuervermeidungsmodellen passiert, was die Frage von Steuergerechtigkeit angeht. Die konkreten Instrumente werden wir im Wahlprogramm im ersten Halbjahr 2017 entscheiden."
    Die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD)
    Die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) (imago stock & people)
    Höherer Spitzensteuersatz, Vermögensteuer, Reichensteuer - was da allerdings weiter auf der Agenda der SPD-Linken steht, gilt für Sigmar Gabriel nach dem verkorksten Umverteilungswahlkampf des Peer Steinbrück als rotes Tuch. Einfacher erscheint es dem Vorsitzenden da, mit der Familienpolitik punkten zu wollen. Mit dem Elterngeld plus und der Frauenquote hat seine Stellvertreterin, Familienministerin Manuela Schwesig, einiges gegen die Union durchgesetzt, mit einem Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung in Schulen, mit der Familienarbeitszeit und einem Familiensplitting will sie mit Blick auf die nächste Bundestagswahl Wegmarken für ihre Partei setzen. Hiesige und zugezogene Familien nicht gegeneinander ausspielen, das wird für Schwesig nun zur besonderen Herausforderung:
    "Und mir ist wichtig, dass wir die Familien da auch gar nicht auseinanderdividieren. Wenn ich auf die Kinder schaue, sage ich: Jedes Kind braucht einen Anspruch auf einen Kita-Platz, egal ob hier geboren oder zu uns geflohen. Es tut allen Kindern gut. Es ist wichtig, die Familien, die hier schon leben, nicht Sorge haben, oh, jetzt kriege ich wegen eines Flüchtlingskindes keinen Kita-Platz mehr. Nein, wir müssen die Antwort darauf geben wie wir allen Familien gerecht werden."
    Gabriel lobt seine Ministerin immer häufiger auch öffentlich. Neben Ralf Stegner zählt sie zu denjenigen, die in der Öffentlichkeit für die SPD besonders sichtbar sind. Bei der Durchsetzung der Frauenquote hat sie gezeigt, wie sich Sozialdemokraten gegen den Koalitionspartner, gegen die Union durchsetzen können. Manch einer wünscht sich da mehr klare Kante auch vom Vizekanzler. Die Träume von einem Bündnis mit Linkspartei und Grünen sind nicht ausgeträumt, aber sie werden mit dem neuen Syrien-Einsatz auch nicht gerade realistischer. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt setzt Sigmar Gabriel darauf, dass seine SPD in der Regierungsverantwortung bleibt. Im Bund dürfte er als Kanzlerkandidat auf eine Fortsetzung der Großen Koalition hinarbeiten - es sei denn, ein Sturz oder ein Rückzug Angela Merkels infolge der Flüchtlingskrise würde in Berlin für ein politisches Beben sorgen.