Gerd Breker: Wahlparteitag der CDU hier in Köln, und damit auch alles klar geht und keine offensichtlichen Störungen berichtet werden müssen, hat sich die Führung im Vorfeld darauf verständigt, einen Kompromiss in Sachen kalter Progression zu finden, und alle sind zufrieden, auch wenn so manch ein Kundiger diesen Kompromiss eher als faul bezeichnet. Unter bestimmten Bedingungen, vielleicht als Wahlgeschenk 2017, der Parteitag hat soeben begonnen.
Am Telefon sind wir nun verbunden mit Werner Patzelt, Politikwissenschaftler von der TU in Dresden. Guten Tag, Herr Patzelt.
Werner Patzelt: Guten Tag, Herr Breker.
Breker: Herr Patzelt, wofür steht die CDU als Partei? Hat sie sich reduziert auf einen Kanzlerinnen-Wahlverein?
Patzelt: Ja, wofür steht die CDU? - Sie steht weiterhin für pragmatisches Herangehen an die Dinge. Sie steht weiterhin für Lust am Regieren. Sie steht im Grunde für Verlässlichkeit. Sie steht im Wesentlichen für soziale Marktwirtschaft, europäische Integration und eine Außenpolitik, die nicht zu Abenteuern aufgelegt ist, und das sind Dinge, die so klar sind, dass darunter unsichtbar wird, was denn im Einzelnen auch noch Kernanliegen der Union sind. Das weiß man weder bei Familie und Ehe, noch bei der Gestaltung unserer Einwanderungs- und Integrationspolitik. Hier bleiben dann viele Fragen offen.
"Union ist auf Landesebene in die Minderheit geraten"
Breker: Herr Patzelt, die Eigenschaften, die Sie gerade der Partei zugeschrieben haben, das sind die Eigenschaften, wofür Angela Merkel steht. Also die CDU ist eine Merkel-Partei?
Patzelt: Die CDU ist immer schon in ihrer Geschichte auch ein Kanzler-Wahlverein und jetzt ein Kanzlerinnen-Wahlverein gewesen, was zunächst so schlecht nicht ist. Immerhin ist der Spitzenkandidat und der Regierungschef gleichsam das Spitzenprodukt einer Partei, jene Persönlichkeit, die - Parteiprogramm hin oder her - je nach den Zeitläufen im Sinn dessen, was die Partei im Grunde will, entscheiden muss.
Infolgedessen ist das an sich nicht verkehrt. Aber es fällt dann doch auf, dass die Union eine programmatische Auszehrung auch deswegen hat, weil sie sich (ein großes Verdienst von Angela Merkel) zur Sozialdemokratie hin geöffnet und von links her kaum mehr angreifbar gemacht hat, dass sie aber die Lufthoheit im ganzen anderen Bereich des politischen Spektrums bis zum rechten Rand hin verloren hat, dass ihr dort Konkurrenz entstanden ist und dass unter diesen Geschiebekräften die Union auf Landesebene, um es milde auszudrücken, sehr in die Minderheit und in die Defensive geraten ist, und darüber machen sich viele in der Union zurecht Sorgen.
Breker: Nehmen wir mal ganz konkret den Kompromiss, der am Wochenende erzielt wurde in Sachen kalter Progression. Die schwarze Null geht offenbar vor, die kalte Progression wird nur im Fall der Fälle abgebaut. Das liest sich so wie, ein Buchhalter gestaltet Politik.
Patzelt: Na ja, einen ausgeglichenen Haushalt haben zu wollen, ist ja nicht nur eine buchhalterische Sache und nicht nur eine fixe Idee. Wohin es führt, wenn man keinen soliden Haushalt zustande bringt und das über viele Jahre, das zeigen uns unsere Nachbarstaaten Frankreich und Italien, um von Griechenland ganz zu schweigen. Infolgedessen ist der Ansatz, für Investitionen sich Spielräume zu erhalten, dadurch, dass man soweit es geht auf neue Verschuldung verzichtet, nicht verkehrt.
Andernteils ist es ein altes Anliegen gerade auch der Union, unser unfaires Steuersystem im Bereich der kalten Progression zu korrigieren, und wenn man alles zusammenrechnet, wird man wahrscheinlich zur salomonischen Lösung kommen, dass der Solidarzuschlag eben nicht zurückgeführt wird, nicht wegfällt, und man das dann weiterhin dem Staat verfügbare Geld nicht nur in neue Autobahnbrücken, sondern eben auch in die Umgestaltung der Lohn- und Einkommenssteuertabellen hineinsteckt.
"Popularität der Kanzlerin überstrahlt Popularität der CDU"
Breker: Die Parteivorsitzende der CDU ist auch Bundeskanzlerin. Da wird also die Partei, die CDU, nichts unternehmen, was dieser Regierung der Großen Koalition schadet.
Patzelt: Das ist anzunehmen, zumal die Union eigentlich noch nie zu Ausschlägen inhaltlicher Art von der Art sozialdemokratischer Führungspersonal-Demontagen geneigt hat. Die Union weiß genau: Ihr zentrales Kapital, das ist die Kanzlerin. Deren Popularität überstrahlt die Popularität der CDU bei Weitem und man muss gerade hoffen, dass nicht ein stalinistisches Wahlergebnis zustande kommt.
Breker: Gut ein Jahr ist diese Große Koalition im Amt und die Bilanz ist, dass die SPD eigentlich sich in vielen Bereichen durchgesetzt hat: Mindestlohn, Rente mit 63, Familienpflege. Und aufseiten der CDU - was haben wir da? Die Mütterrente, die schwarze Null und keine Steuererhöhungen - ein bisschen wenig.
Patzelt: Das ist etwas, was die CDU-Parteiseele in der Tat belastet. Folglich breitet sich in der Union jetzt auch die Vorstellung aus, nachdem die Sozialdemokraten ihre Rosinen sich aus dem Koalitionsvertrag herausgepickt haben und sich dabei der Solidarität der Union erfreut haben, sei es nun an der Zeit, dass die SPD halbwegs konstruktiv auch CDU-Projekte mitträgt und sogar CSU-Projekte wie die Maut auf deutschen Fernstraßen.
"Union braucht klares Profil in der Bundesregierung"
Und die Union wird jetzt bei der Debatte um die kalte Progression sich vermutlich dazu durchringen, hier die Solidarität der SPD auch im Verteilungskampf um die Solidarpakt-Mittel, diesen Verteilungskampf konstruktiv zu begleiten. Und in der Tat: Die Union braucht allmählich in der Bundesregierung auch ein klares Unionsprofil, wenn sie denn weiterhin gerne in dieser Koalition bleiben wollen soll.
Breker: Alle gehen davon aus, Herr Patzelt, dass Angela Merkel 2017 noch einmal antritt. Genau genommen muss sie ja auch antreten, weil es gibt ja gar keinen Nachfolger, keine Nachfolgerin.
Patzelt: Das ist die Tragik der deutschen Kanzler. Solange sie erfolgreich sind, können sie ihr Amt nicht aufgeben, wenn sie der Verantwortung dem Land und ihrer Partei gegenüber gerecht werden wollen, sodass sie ihr Amt immer dann aufgeben, wenn sie an öffentlichem Ansehen eingebüßt oder in ihrer Partei zur Unperson geworden sind. Und dieses Schicksal gehört sozusagen zur Amtsbiografie eines deutschen Kanzlers und wird Angela Merkel nach menschlichem Ermessen nicht erspart bleiben.
Breker: Und nach Angela Merkel fällt die CDU in ein tiefes, tiefes Loch.
Patzelt: Das ist genau meine Prognose. Angela Merkel wird nicht gehen, bevor nicht die Union die Macht im Bund verliert, und sobald sich die Union in der Opposition wiederfindet, wird sie bemerken, dass sie inhaltlich weitgehend entkernt, auf den Mainstream der öffentlichen Meinung eingeschwenkt und ihrer Bindekraft insbesondere zum rechten Rand verlustig gegangen ist, und es werden sich lange bittere Zeiten des sich Zurechtfindens in der Opposition anschließen. Aber bloß, weil man weiß, dass man eines Tages stirbt, muss man sich ja nicht die Lust am Leben verdrießen lassen.
"CDU ist bei Europapolitik in einer Defensivhaltung"
Breker: Das ist völlig richtig, Herr Patzelt. Aber die Tatsache ist: Dann braucht die CDU wieder Inhalte.
Patzelt: Die CDU braucht wieder Inhalte und es ist auch klar abzusehen, auf welchen Gebieten diese Inhalte zu erarbeiten, und dann zu vertreten sind. Wir sind ein Einwanderungsland gemäß allgemeinem Konsens. Wir haben aber keine klare Einwanderungspolitik und schon gar keine Integrationspolitik. Und es ist genau die rechte Spielfeldhälfte, in der sich jene Bürger artikulieren, denen diese Probleme unseres Landes auf den Nägeln brennen. Würde die CDU es schaffen, zu einer konstruktiven Integrationspolitik zu finden, könnte sie am rechten Rand unglaublich viel Bindekraft wiederentwickeln.
Und was die Europapolitik betrifft, ist die CDU im Grunde in einer Defensivhaltung drinnen: Wir müssen den erreichten Stand der Integration aufrecht erhalten, wir müssen die anderen europäischen Staaten dazu bringen, dem erfolgreichen deutschen Modell zu folgen. Und wenn das nicht aufgeht? Da hat die Union keine Antworten, und das, obwohl die Kanzlerin die unbestrittene Führerin der europäischen Politik ist. Das sind mindestens zwei Felder, auf denen Antworten von ihr erarbeitbar und wählerattraktiv vorzeigbar wären.
Breker: Die Einschätzung von Werner Patzelt, er ist Politikwissenschaftler an der TU Dresden. Herr Patzelt, ich danke Ihnen dafür.
Patzelt: Gern geschehen!
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