Stephan Detjen: Wir zeichnen dieses Deutschlandfunk-Interview der Woche an einem ganz besonderen Ort auf, nämlich in der Villa Hammerschmidt in Bonn. Das ist seit 1950 der Amtssitz der Bundespräsidenten, auch heute ist es das noch. Herr Bundespräsident, vielen Dank, dass Sie sich gerade an diesem Ort Zeit für dieses Gespräch nehmen.
Frank-Walter Steinmeier: Gerne für das Gespräch und gerne hier.
Detjen: Der Ort ist besonders passend, denn wir wollen über das Grundgesetz sprechen, dessen 70. Geburtstag sich in den kommenden Tagen jährt. Das Grundgesetz ist auf der anderen Straßenseite entstanden im damaligen naturkundlichen Museum König. Da tagte von Herbst 1948 bis Mai 1949 der Parlamentarische Rat.
Was bedeutet dieser Ort, auch die Nachbarschaft zum Entstehungsort des Grundgesetzes, heute für Sie? Spüren Sie noch so etwas wie einen Bonner Geist, der die Verfassung Deutschlands in der Gegenwart durchweht?
Steinmeier: Ich kannte die Villa Hammerschmidt, aber eher von außen und auch eher aus dem Fernsehen. Ich bin dann auch zum ersten Mal nach meiner Wahl zum Bundespräsidenten hier gewesen und war sofort von der Stimmung, von der Atmosphäre in diesem Hause gefangen, nicht nur wegen der schönen Lage hier direkt am Rhein, das auch, aber dieses Haus atmet Geschichte und Geschichten, steht für die Bedeutung der Demokratie in unserem Land. Deshalb komme ich immer wieder gerne hier her und bin regelmäßig auch an meinem anderen Amtssitz neben Berlin immer wieder gerne auch hier in Bonn.
Detjen: Man spricht immer wieder vom Bonner Grundgesetz, auch bis heute. Wie hat diese Entstehungssituation, auch dieser Ort, unsere Verfassung, das Grundgesetz damals und nachwirkend bis heute geprägt?
Steinmeier: Man muss, glaube ich, zunächst einmal mit einem Irrtum aufräumen. Es ist oft geschrieben worden, Bonn sei ausgewählt worden wegen Adenauer. Es liegt ja auch nahe mit seinem Wohnort Rhöndorf, hier ganz in der Nähe.
Das war aber nicht der Grund, sondern man muss sich in Erinnerung rufen: Deutschland war zerstört, Deutschland hatte keine Tagungsmöglichkeiten in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bonn hatte aber eine pädagogische Akademie, die weitgehend unversehrt war. Die hat man wieder instandgesetzt, sodass hier der Parlamentarische Rat Ende 1948 seine Beratungen tatsächlich aufnehmen konnte.
Das Ganze war aber zu wenig vorzeigbar für eine Eröffnungsveranstaltung und deshalb ist man zu der Eröffnungsveranstaltung in der Tat in das Naturkundemuseum gegangen, was eine etwas bizarre Veranstaltung gewesen sein muss.
Es gibt viele Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die gesagt haben, so richtig feierlich war die Eröffnungsveranstaltung nicht, weil es gab zwar eine Dekoration, aber hinter der Dekoration lugten ausgestopfte Bären und Giraffen hervor, sodass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates das mindestens auch als ungewöhnlich empfunden haben, aber ansonsten war dieser Parlamentarische Rat eine erstaunliche Mischung von moralischer Ernsthaftigkeit, juristischem Sachverstand und politischer Weitsicht.
"‚Bonn ist nicht Weimar‘"
Detjen: Der Begriff Bonner Grundgesetz taugt auch dazu, ihn als Abgrenzung zu verwenden zur Weimarer Reichsverfassung, deren Inkrafttreten sich in diesem Jahr im Sommer ja auch jährt zum 100. Mal. Es gibt sozusagen eine Erzählung, die sagt: ‚Bonner Grundgesetz, erfolgreich, Garant von Demokratie und Stabilität in der Bundesrepublik, jetzt seit 70 Jahren - Weimarer Reichsverfassung gescheitert.‘
Könnte man sagen, dass die Weimarer Republik mit dem Grundgesetz, so wie es 1949 verabschiedet worden ist, besser gefahren wäre, sicherer gewesen wäre?
Steinmeier: Viele Generationen der Nachkriegszeit, auch meiner und ich selbst sind mit dem Satz groß geworden ‚Bonn ist nicht Weimar‘. Darin stecke viel. Man wollte erstens eine Antithese setzen, natürlich zur nationalsozialistischen Diktatur, zur nationalsozialistischen Herrschaft, aber man wollte auch sagen, dass man aus Weimar gelernt hat. Ich glaube, unterschätzt worden ist, dass Weimar, die Weimar Reichverfassung 1919, eine für die damaligen Verhältnisse sehr moderne Verfassung war, und im Grunde genommen ist sie immer interpretiert worden vom Scheitern der Weimarer Demokratie.
Ob die Weimarer Reichsverfassung schon deshalb eine durch und durch schlechte Verfassung war, das wage ich in Zweifel zu ziehen, aber sie hatte ihre Schwächen. Die starke Stellung damals des Reichspräsidenten, der ein Gegenspieler war zur Reichsregierung, die Möglichkeiten des Notverordnungsrechtes, dann natürlich die schnellen Auflösungsmöglichkeiten des Reichstages - das sind Schwächen gewesen, die man im Grundgesetz hat auszugleichen versucht. Aber das Grundgesetz oder, wenn Sie so wollen, der Geist des Parlamentarischen Rates, war noch bedeutsamer, denn was sind Verfassungen?
Verfassungen sind ein Versprechen auf die Zukunft. Sie sind aber auch immer ein Erinnerungsbuch der Nation. Was das Grundgesetz so besonders macht, ist, dass es nicht die Erinnerung an eine kontinuierliche deutsche Geschichte ist, sondern das Grundgesetz markiert ausdrücklich und absichtsvoll den Bruch: den Bruch mit der nationalsozialistischen Herrschaft, den Bruch mit allen preußischen Obrigkeitsstaatdenken.
Und es gibt diesen wunderbaren Satz, der sich leider nicht im Grundgesetz erhalten hat, der aber noch im Entwurf von Herrenchiemsee, einem der Entwürfe, die vorher erarbeitet worden sind von Fachleuten, ein wunderbarer Satz, der dort enthalten ist: ‚Die Menschen sind nicht dazu da, dem Staat zu dienen, sondern der Staat soll den Menschen dienen‘. Das war die Abkehr von einem Staatsverständnis, was sich in Deutschland über viele Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte etabliert hat.
Detjen: Und die dann mündete in dem Satz, den Sie gerade zitiert haben: ‚Bonn ist nicht Weimar‘. Jetzt erleben wir, dass in diesen Tagen dieser Satz eine Renaissance erfährt. Die Leute fragen wieder, ist Bonn oder ist Berlin, ist die Berliner Republik vielleicht doch wieder Weimar. Ist das eine Beobachtung, eine Sorge, die Sie verstehen, teilen?
Steinmeier: Ich verstehe, dass Fragen zur politischen Realität der Bundesrepublik oder dieses Landes gestellt werden und damit auch zur aktuellen Tagespolitik. Ich würde dennoch davor warnen, allzu viele Vergleiche und Ähnlichkeiten mit Weimar zu sehen oder zu ziehen, denn wir müssen ja die Entstehungsgeschichte der Weimarer Reichsverfassung 1919 versuchen zu verstehen.
Die war eben deutlich anders. Es war die Nachkriegszeit natürlich mit Not und Elend, mit heimkehrenden, verkrüppelten Menschen, Arbeitslosen, einem ungleich höheren Maß an Arbeitslosigkeit, als wir es jemals in Deutschland kennen, in Deutschland der Nachkriegszeit kennengelernt haben. Es war eine Zeit, in der vermutlich der größere Teil der deutschen Gesellschaft noch nicht vorbereitet war auf die Demokratie, wo viele, die die Monarchie eigentlich für das erstrebenswerte Staatsmodell hielten, an der alten Staatsform festgehalten haben, und es war der tagtägliche Kampf auf der Straße, um die Macht, auch zwischen denjenigen, die eher die Räterepublik favorisierten, und denjenigen, die für die repräsentative Republik kämpften.
In dieser Situation ist die Weimarer Reichsverfassung entstanden und ist unter diesen Verhältnissen entworfen von Hugo Preuß, eine erstaunlich gute und moderne Verfassung geworden. Dass am Ende die Weimarer Demokratie scheiterte, hängt weniger mit der Verfassung zusammen, sondern mit der Tatsache, dass zu wenige Menschen am Ende nur noch eine Minderheit in der Weimarer Demokratie für diese Verfassung, für die Weimarer Demokratie standen.
Verbaler AfD-Angriff im Bundestag: "Nicht mutig"
Detjen: Aber der Vergleich wird ja deswegen aktuell, weil wir zurzeit wieder ein Ringen um Grundsätze der Verfassung erleben, in einer Schärfe und Härte, wie wir es zumindest lange nicht mehr erlebt haben. Das hat sich auch in der Bundestagsdebatte in der zurückliegenden Woche gespiegelt, zum Jubiläum des Grundgesetzes. Sie saßen auf der Ehrentribüne, wurden von Rednern der AfD hart attackiert.
Sie gehörten, hieß es da, auch zu denen, die das Recht mit Füßen träten, seien für eine Erosion des Rechtsstaates mit verantwortlich. Wie haben Sie das wahrgenommen und wie erklären Sie sich diese Wut, diese Aggression, die sich da auch gegen Sie gerichtet hat?
Steinmeier: Also zunächst einmal würde ich zu der Bundestagsdebatte, die ich verfolgt habe, insgesamt sagen: Sie war eher eine Auszeichnung. Denn es war eine doch von allen Rednern, bis auf einen, sehr ausführliche, sehr detaillierte und am Ende sehr wohlmeinende Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz.
Selbstverständlich auch mit der Perspektive, wo müssen wir uns in Zukunft zeitgemäß anpassen, möglicherweise auch mit Ergänzungen und Veränderungen des Grundgesetzes? Dass ein Redner das Forum wahrgenommen hat, um den Bundespräsidenten zu beschimpfen, ist das Eine. Wissen Sie, ich bin deshalb in den Deutschen Bundestag gegangen, weil ich gerade an diesem Tag auch meinen Respekt vor dem Hohen Hause, vor dem Zentrum der Demokratie, dem Deutschen Bundestag zeigen wollte und ehrlich gesagt, besonders mutig finde ich es auch nicht, vom Mikrofon des Deutschen Bundestages aus den Bundespräsidenten, der auf der Galerie sitzt, auf der Tribüne sitzt und von Redemöglichkeiten keinen Gebrauch machen kann, von dort aus zu beschimpfen.
Ich will eher umgekehrt zeigen, und damit will ich auch dazu gar nichts mehr kommentieren, ich will eher umgekehrt zeigen, dass es auch anders geht. Ich habe mich deshalb entschlossen, bin froh, dass viele daran mit tun, dass wir zum Tag des Grundgesetzes, zum Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai in Berlin im Schloss Bellevue, im Park des Schloss Bellevue 22 Tische aufbauen, an denen 220 Menschen aus ganz Deutschland sitzen werden.
Ich bin froh, dass die Spitzen der Verfassungsorgane dabei sein werden, um an diesen Tischen mit Bürgerinnen und Bürgern aus dem ganzen Land darüber zu diskutieren, wie befinden sie den Zustand der Republik und was halten sie von der Verfassung, vom deutschen Grundgesetz. Ich finde, das ist eine angemessene Form, mit einem solchen Tag umzugehen. Denn es geht darum, die Debatte, die ernst gemeinte Debatte in Deutschland in der deutschen Bevölkerung wieder wachzurufen.
"Es gibt kaum eine Verfassung, die sich so strikt sich am Rechtsstaatsprinzip orientiert"
Detjen: Sie werden dieses Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern im Garten von Bellevue führen, diese Kaffeetafel, die Einladung zum Gespräch über das Grundgesetz, aber wenn ich mir die Reaktionen, die Post, die Reaktionen, die wir im Deutschlandfunk von Hörerinnen und Hörern bekommen, in Erinnerung rufe, dann würde ich mal vorhersagen, dann müssen sie es nicht mit hartgesottenen AfD-Anhängern zu tun bekommen, um zu hören, ‚in unserem Rechtstaat erodiert etwas, die Politik entzieht sich Bindungen des Rechts‘. Das ist auch in der Politik ein Vorwurf, der wurde nicht nur von der AfD erhoben. Der jetzige Innenminister hat von der ‚Herrschaft des Unrechts‘ in Deutschland gesprochen. Das hat Kreise gezogen. Ist da etwas dran an diesem Gefühl, die Politik entziehe sich rechtlichen Bindungen?
Steinmeier: Also ich kann das so nicht feststellen, dass sich die Politik den rechtlichen Bindungen entzieht und wenn wir heute über das Grundgesetz reden, dann gibt es, glaube ich, kaum eine Verfassung in der Welt, auch in Europa, die so strikt sich am Rechtsstaatsprinzip orientiert und Überprüfungsmöglichkeiten aller Art der staatlichen Gewalt vorsieht und sogar Überprüfungsmöglichkeiten von Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht vorsieht, was das Verfassungsgericht regelmäßig tut. Insofern ist der generelle Vorwurf, dass sich politische Institutionen, Bundesregierung, Bundestag der Rechtsbindung entziehen, halte ich für wirklich hergeholt und eher ein Argument, das benutzt wird in der Auseinandersetzung, an der politischen Oberfläche, aber das wenig Hand und Fuß hat.
Aber es verändert sich etwas in der politischen Sprache. Das stelle ich auch fest und das ist einer der Gründe dafür, weshalb ich sage: wir sollten uns nicht dauerhaft daran gewöhnen, dass Politikerinnen und Politiker nur noch über Medien, insbesondere soziale Medien mit der Bevölkerung in Kontakt kommen, sondern wir müssen diese Gesellschaft wieder mit sich selbst ins Gespräch bringen, und deshalb bin ich unter anderem, aber viele tun es auch, pausenlos jede Woche im Land unterwegs, auch gerade dort, wo Politik nicht jeden Tag präsent ist in den ländlichen Regionen, und spreche und spreche dort auch über Politik. Ich habe den Eindruck, wenn man das von Angesicht zu Angesicht tut, geht das politische Gespräch immer noch recht gut in dieser Republik, jedenfalls besser als anderswo in Europa, wo ich auch anderes kennengelernt habe.
"Nicht verkürzen auf westdeutsche Traditionen"
Detjen: Ich würde mal versuchen, eine andere Reaktion zu antizipieren, mit der Sie möglicherweise bei dieser Kaffeetafel konfrontiert werden. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen aus Ostdeutschland sagen werden, das, was Sie heute Kaffeetafel nennen, haben wir 1990 Runde Tische genannt. Da wollten wir über unsere Verfassung sprechen.
Wir wollten die Verfassung in die eigene Hand nehmen, wollten, dass die Chance ergriffen wird, so wie es das Grundgesetz am Ende in Artikel 146 sagt, dass sich die Deutschen in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung geben, aber ihr, die Politik, habt das verpasst. Was werden Sie denen antworten?
Steinmeier: Zwei Dinge: Erstens glaube ich, dass es gut ist, am Tag des Grundgesetzes nicht nur über das Grundgesetz selbst, sondern über die demokratischen Traditionen in Deutschland zu reden, und die beginnen nicht 1949, nicht 1948, auch nicht 1918 und 1919, sondern sehr viel früher. Wir können beginnen mit den städtischen Freiheiten, mit der Mainzer Republik 1822, mit den Menschen, die gekämpft haben gegen Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Paulskirche. Was ich wichtig fände für unser Land, dass wir die demokratischen Traditionen, die demokratischen Linien, in denen wir uns befinden, wieder sehr viel stärker wachrufen.
Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit den Städten dieser demokratischen Tradition. Ich finde es bedauerlich, dass wir zwar, und das ist gut so, viel Geld in die Hand nehmen, um Königsschlösser zu pflegen, Grablegen von Königen zu pflegen, das ist alles gut und ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte, aber ich wünsche mir auch, dass wir viel mehr investieren in die Stätten der demokratischen Traditionen von Rastatt bis zur Paulskirche selbst. Das Zweite ist, dass wir nicht vergessen sollten, dass in diese demokratische Tradition, von der ich spreche, die friedliche Revolution der damaligen DDR hineingehört. Wir dürfen das Grundgesetz und die demokratischen Traditionen nicht verkürzen auf westdeutsche Traditionen, sondern die friedliche Revolution der DDR, der Mut, den Menschen gehabt haben, gegen eine Diktatur auf die Straße zu gehen, verdient nicht nur Respekt, sondern auch Erinnerung. Dass es damals viele Diskussionen an den Runden Tischen gegeben hat, sogar bis hin zu Entwürfen, ersten Entwürfen für eine gesamtdeutsche Verfassung in dieser kurzen Phase zwischen 1989/1990, ist richtig.
Am Ende sind alle überholt worden von der tatsächlichen Entwicklung, die die Zusammenfügung der beiden deutschen Staaten durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bedeutete, und die Frage, ob wir heute in einem ganz anderen Deutschland, in einem Deutschland mit mehr Zustimmung von allen Seiten lebten, wenn es damals auch eine neue Verfassung oder eine Volksabstimmung in Ost und West über ein erweitertes Grundgesetz gegeben hätte, ist eine sehr hypothetische. Was wir sagen können, dass nach allen erreichbaren Umfragen, die ich jetzt gerade auch aus jüngster Zeit gesehen habe, die Zustimmung zum Grundgesetz im Osten nicht geringer ist als im Westen.
"Ich bin nicht Notengeber für eine Große Koalition"
Detjen: Lassen Sie uns, Herr Bundespräsident, gerade an dem Ort hier, in der Villa Hammerschmidt, über das Amt des Bundespräsidenten sprechen. Sie sind als Bundespräsident in eine Situation gekommen, in der kein Amtsinhaber vor Ihnen war, als nach den Jamaika-Verhandlungen die Regierungsbildung gescheitert war. Sie haben die Parteien gedrängt eine Regierung zu bilden, haben der Kanzlerin den Wunsch nach Neuwahlen, das konnten wir jetzt lesen, abgeschlagen. Meine Frage ist: wir sehen ja wieder, dass die Regierung labil ist, dass darüber gesprochen wird, dass die Regierung möglicherweise nach den Europawahlen zerbrechen könnte. Wenn Sie noch einmal in die Situation kämen, jetzt in der Mitte der Wahlperiode, würden Sie genauso handeln?
Steinmeier: Die Frage ist listig. Wenn Sie noch einmal in der Situation wären, das unterstellt, als könne es genau dieselbe Situation noch einmal geben. Das Herausfordernde an diesem Amt ist, dass die Situationen sich jeweils neu stellen. Damals habe ich so entschieden und ich habe damals in Übereinstimmung mit der Verfassung, entschieden, das Ende, das Scheitern der Jamaika-Sondierungen, die ja noch nicht einmal Koalitionsverhandlungen waren, kein Sachverhalt ist, der die Auflösung des Bundestages oder die Ausrufung von Neuwahlen rechtfertig. Das ist auch nicht alleine meine Auffassung, sondern das ist eine Auffassung, die ich mit anderen Verfassungsexperten, auch damals mit dem Bundestagspräsidenten, diskutiert habe, und diejenigen, mit denen ich sprach, haben das nicht anders gesehen. Also insofern war eine Verfassungsfrage zu entscheiden und keine politische Spekulation. Heute bin ich nicht Notengeber für eine Große Koalition. Was ich verfolge ist, die Große Koalition arbeitet, das wird bewertet von Medien, von Menschen, die Politik beobachten.
Die Große Koalition arbeitet, sie entwirft Gesetzgebungsvorhaben, sie entscheidet demnächst über einen Haushalt. Insofern gibt es keinen Stillstand und alles andere, ob das bis zum Ende der Legislaturperiode so weitergeht, ob das früher endet, das ist politische Spekulation, an der sich der Bundespräsident nicht beteiligen sollte. Ich werde mir jedenfalls, was immer eintritt, das unter den Gesichtspunkten der Erwartungen des Grundgesetzes sehr genau anschauen und wo nötig ist, auch Entscheidungen treffen.
Detjen: Die Frage aber ist insofern ja nicht ganz hypothetisch. Jeder Bundespräsident könnte wahrscheinlich viel eher als in früheren Zeiten in solche Situationen kommen. Der Journalist Günter Bannas hat in seinem Buch "Machtverschiebung" geschrieben 2017, die Bundestagswahl markiere das Ende einer Ära in der Bundesrepublik, nämlich die Ära stabiler Mehrheitsverhältnisse. Wie verändert das das Funktionieren von Demokratie, aber auch ein Amt wie Ihres, die Stellung des Bundespräsidenten? Ist die Machtverschiebung auch eine Machtverschiebung hin zum Bundespräsidenten zum Beispiel?
Steinmeier: Das hängt ein bisschen davon ab, ob man die Vorschriften der Verfassung, die hier anzuwenden waren, vorher schon einmal in Augenschein genommen hat oder nicht. Ich wusste von ihrer Existenz und war nicht überrascht, dass dort Vorgaben enthalten sind in einer solchen Situation wie nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen, eine Situation, die bis dahin in der Tat in den knapp 70 Jahren des Grundgesetzes noch nicht eingetreten war.
Ich wusste von der Existenz dieser Verfassungsnormen, war deshalb nicht überrascht, dass sie zur Verfügung stehen in einem solchen Fall. Was sich verändert hat, und da hat Günter Bannas und andere, die das beschrieben haben, sicherlich Recht, dass die Zeit vorbei ist, in der wir mühelos davon ausgehen konnten, dass innerhalb von fünf, maximal sechs Wochen nach einer Bundestagswahl eine stabile Regierung besteht. Wir haben, wenn ich an die Phase zwischen September und März 2017/2018 zurückdenke, dieses Mal mehr als sechs Monate gebraucht, um eine Regierung zustande zu bringen.
Das muss nicht immer so sein, aber mit mehr Parteien im Parlament werden Regierungsbildungen nicht mehr ganz so einfach und selbstverständlich sein, wie das vor zehn, vor 20 und 30 Jahren der Fall war. Ob jeweils eine Rolle des Bundespräsidenten gefordert ist, das ist schwer vorauszusehen, aber eine Machtverschiebung findet, jedenfalls rechtlich gesehen, nicht statt, weil die Vorschriften, die zur Anwendung zu bringen sind, sind seit 70 Jahren im Grundgesetz.
"Nicht immer gerechtfertigte Diskussion über Europa"
Detjen: Letzte Frage, zwei, drei Tage nach dem Jubiläum des Grundgesetzes wählen wir ein neues Europaparlament. Sie haben mit vielen europäischen Präsidenten zur Wahl aufgerufen, einen Wahlaufruf formuliert mit allen Präsidenten, außer, glaube ich, den monarchischen Staatsoberhäuptern. Wie viel Sorge um die Demokratie in Europa und eine drohende Spaltung Europas, die sich im nächsten Europaparlament manifestieren könnte, schwingt in diesem Wahlaufruf mit?
Steinmeier: Herr Detjen, das Einfachste wäre jetzt, die Sorge zu wiederholen, die andere schon öffentlich zum Ausdruck gebracht haben. Die habe ich, die teile ich. Ich finde, dass wir nicht immer eine gerechtfertigte Diskussion über Europa führen, der zufolge alles, was schlecht läuft, Europa verantworten lassen und das, was gut läuft, ein Ergebnis guter nationaler Politik ist. Das hat viel Negatives über Europa gebracht, und nicht nur im eigenen Land. Ich glaube, dass wir wieder wachrufen sollten im eigenen Lande, wie sehr wir von Europa profitiert haben.
Wir sind über Europa wieder ein anerkanntes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft geworden. Vieles, was wir an Prosperität, an wirtschaftlichem Wachstum in Deutschland erlebt haben, was Arbeitsplätze geschaffen hat, ist der Tatsache zu verdanken, dass wir einen europäischen Binnenmarkt haben, bis hin zu der Tatsache, dass wir mit Europa 70 Jahre Frieden auf einem Kontinent gewährleisten konnten, der 300 Jahre Krieg und Bürgerkrieg mit Millionen von Opfern erlebt hat.
Heute haben wir eine heranwachsende jüngere Generation, für die Europa zu einer Art zweiten Heimat geworden ist und die auf dieses gewachsene Europa sicherlich nicht mehr verzichten wollen. Deshalb habe ich die Initiative für diesen Aufruf gemacht. Ich glaube, eine solche Initiative war wichtig, weil wir noch einmal einen Brückenschlag versuchen wollten zwischen dem alten Westen Europas und den osteuropäischen Staaten.
Da in der Tat waren mehr als nur Haarrisse zu erkennen. Da waren Gräben, die sich auftun, die tiefer zu werden drohten und insofern war diese gemeinsame Initiative ein Test, ob man jenseits des Alltagsstreites über Europa Auseinandersetzungen, die fortgeführt werden müssen, auch über den Inhalt von rechtsstaatlichen Garantien in Polen, in Ungarn und anderswo, ob es darüber noch einen Brückenschlag gibt, bei dem alle bereit sind, in der Lage, für dieses Europa, für ein starkes Europa und für den Erhalt Europas einzutreten und ich freue mich, dass das gelungen ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.