Neue Bundesregierung
Was im Koalitionsvertrag von Union und SPD fehlt

Die Finanzierung ist wackelig, politische Visionen oder auch die Perspektive von Migranten fehlen – im Koalitionsvertrag von Union und SPD finden sich etliche Leerstellen. Welche das sind und warum sie uns auf die Füße fallen könnten.

    Bundeskanzleramt: Gebäudeansicht am Abend
    Da gibt es noch ein paar Baustellen. Einige Vorhaben des Kanzleramts stehen noch unter Vorbehalt. (picture alliance / dts-Agentur)
    Schnell und verschwiegen haben Union und SPD einen 146-seitigen Koalitionsvertrag ausgehandelt, letzteres fand ausdrückliches Lob von Alt-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Doch noch ehe die Koalitionspartner an die Arbeit gehen können, kursieren bereits widersprüchliche Aussagen, etwa zum geplanten Mindestlohn oder der geplanten Steuerentlastung für mittlere und kleine Einkommen.
    Das Problem: Vorhaben können auch gekippt werden, wenn das Geld im Haushalt fehlen sollte – das ist der sogenannte Finanzierungsvorbehalt. Andererseits finden viele, dass im Koalitionsvertrag über Themen wie etwa Klimaschutz, die Zukunft der Rente, Gesundheit oder Pflege zu wenig steht.
    Wirtschafts- und Finanzpolitik standen zwar weit oben in der Tagesordnung bei den Gesprächen der Koalitionspartner, schließlich soll der Standort Deutschland wieder flottgemacht werden. Aber reichen die geplanten Maßnahmen dafür aus?

    Inhalt


    Finanzierung ist wackelig

    Für alle Vorhaben der Koalitionäre gilt - sie stehen unter Finanzierungsvorbehalt, das hat der mutmaßlich neue Finanzminister und amtierende SPD-Chef Lars Klingbeil ausdrücklich betont. So steht es auch im Koalitionsvertrag in Zeile 1627. Das heißt im Klartext: im Zweifelsfall machen wir es nicht. Schon jetzt zeichnet sich Streit ab, wenn es um die Senkung der Einkommenssteuer für kleine und mittlere Einkommen oder die Erhöhung des Mindestlohns geht.
    Bürgerinnen und Bürger werden sich fragen, warum die Mittel knapp sind, nachdem durch die Lockerung der Schuldenbremse ein Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro bereitsteht? Das Sondervermögen steht aber nicht für haushaltsrelevante Entscheidungen zur Verfügung, wie es Steuer, Bürgergeld oder Rente sind. Gerade um diese geht es aber im Koalitionsvertrag. Geld aus den Investitionstöpfen darf dafür nur verwendet werden, wenn es um konkrete Infrastrukturmaßnahmen geht.
    Das Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen ist auch zeitlich gestaffelt. So dürfen in dieser Legislatur nur 150 Milliarden Euro ausgegeben werden.

    Zu wenig für eine Wirtschaftswende

    Die Koalition will den Standort Deutschland attraktiver zu machen – die Messlatte ist die von der Union in Aussicht gestellte Wirtschaftswende. Doch die dafür notwendige Flughöhe wird im Koalitionspapier nicht erreicht, meint Deutschlandradio-Korrespondent Jörg Münchenberg.
    Statt Steuersenkungen für Unternehmen gibt es Abschreibungen in Höhe von 30 Prozent und ab 2028 eine Absenkung der Körperschaftssteuer in kleinen Schritten. Die Wirtschaft hätte das gerne früher gehabt.
    Die Abschreibung ist eine kurzfristige Maßnahme, die Unternehmen zwar helfen wird, aber kein Wechsel oder gar die Unternehmenssteuerreform, die CDU-Chef Merz ursprünglich versprochen hatte. Die Senkung der Körperschaftssteuer kommt nach Ansicht führender Wirtschaftswissenschaftler zu spät und ist zu gering.
    Nicht zuletzt sind einige der Vorhaben teuer, ohne den Standort voranzubringen, etwa Steuersenkungen für Landwirte und im Gastrobereich, die Ausweitung der Mütterrente, die Festschreibung des Rentenniveaus bei 48 Prozent oder die Anhebung der Pendlerpauschale. Auch an die vielen Subventionen hierzulande trauen sich Union und SPD nicht wirklich heran.

    Perspektive von Menschen mit Migrationsgeschichte fehlt

    Beim großen Wahlkampfthema Asylpolitik und Migration sind die Aussagen klar: Schwarz-Rot will mehr abschieben und „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen“, heißt es im Vertrag. Migranten- und Menschenrechtsorganisationen kritisieren aber nicht nur den defizitorientierten Blick auf das Thema.
    Unter den 19 Spitzenpolitikern, die den Koalitionsvertrag mitverhandelten, sei kein einziger mit eigener Einwanderungsgeschichte gewesen, sagte Gökay Sofuoglu von der türkischen Gemeinde in Deutschland. Zwar wolle Deutschland ein einwanderungsfreundliches Land bleiben, doch wie das ausgestaltet werde, stehe nicht im Koalitionsvertrag. Ein bloßes Bekenntnis zum Begriff Einwanderungsland reicht aber nicht aus, darüber herrscht Einigkeit unter Migrantenorganisationen.
    Das Thema Muslime und Islam sei ausschließlich negativ besetzt, „es wird sehr unter dem Sicherheitsaspekt gesehen“, sagte Sofuoglu. Migration werde insgesamt vor allem als Bedrohungen wahrgenommen und thematisiert, kritisiert auch Mamad Mohamad, Vorsitzender der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO). Das verunsichere viele Menschen, die schon lange in Deutschland leben.
    Noch offensichtlicher wird der defizitorientierte Blick auf Migration in der Asylpolitik. Die Menschrechtsorganisation Pro Asyl spricht gar von einer "Rückschrittskoalition".

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    Klima kommt nur am Rande vor

    Klimaschutz hatte bei den Koalitionsverhandlungen keine Priorität. So fehlt das Klimageld zur Entlastung für Verbraucher im Koalitionsvertrag, wenn ab 2027 die Preise beim Tanken und Heizen aufgrund der Emissionshandels anziehen. Das könnte die Bereitschaft zum Klimaschutz bei Bürgerinnen und Bürgern verringern.
    Das umstrittene Heizungsgesetz der Ampel wollen die Koalitionspartner abschaffen und durch eine Reform ersetzen. Umweltverbände sehen das nun angekündigte Ende für das Gebäudeenergiegesetz in seiner jetzigen Form jedoch kritisch.
    Mit dem Vorhaben, die einheimische Gasförderung auszubauen, wird Deutschland länger in fossiler Abhängigkeit gehalten und das Erreichen der Klimaziele erschwert, meint Deutschlandradio-Korrespondentin Ann-Kathrin Büüsker.

    Kein großer Wurf bei der Rente

    Bei Gesundheit und Pflege, aber vor allem auch der Rente fehlen im Koalitionsvertrag die großen Ideen. Die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele zeigt sich enttäuscht, dass der große Wurf nicht gewagt wurde, „obwohl wir wissen, dass uns die demografische Entwicklung auf die Füße fällt“.
    Im Koalitionsvertrag ist das Rentenniveau anders als bei der Ampel-Regierung nicht mehr bis 2039, sondern nur noch bis 2031 bei 48 Prozent festgeschrieben.
    Die eigentlichen Finanzierungslücken werden aber erst ab Mitte der 2030er-Jahre aufklaffen, wenn die Arbeitnehmer der sogenannten Generation Babyboomer in Rente gehen. Doch selbst nach 2031 ist von einem grundlegenden Wandel in der Rentenpolitik nicht auszugehen.
    Vielmehr hat die Fähigkeit der deutschen Rentenversicherung immer darin bestanden, durch schrittweise Anpassungen dafür zu sorgen, dass das System tragfähig bleibt, statt es vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ab 2031 wird sich die Debatte vermutlich um eine längere Lebensarbeitszeit drehen und andere Instrumente, um diese zu ergänzen, etwa die Aktivrente, wo die Leute stärker eigene Vorsorge treffen.

    Ostdeutschland: Vernachlässigte Demografie

    Das eigentliche Zukunftsthema Ostdeutschlands wird im Koalitionsvertrag nur in einem Nebensatz erwähnt: die Demografie. Denn die stellt den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern vor besonders große Herausforderungen. Jeder dritte Einwohner in Sachsen-Anhalt wird in zehn Jahren im Rentenalter sein. Wegen des Geburtenknicks und der Abwanderung in den 1990er-Jahren fehlt der generationelle Mittelbau. Wer wird dann die Sozialsysteme aufrechterhalten?
    Migration kann das Schrumpfen zwar nicht aufhalten, aber zumindest verlangsamen, meint Deutschlandradio-Korrespondent Niklas Ottersbach. Auch wenn kein Sondervermögen Bildung da ist, um der Verdoppelung der rechtsextremen Straftaten an Schulen wie aktuell in Sachsen-Anhalt entgegenzuwirken, müssen alle Kraft und Personal im Bildungssystem gebündelt werden und Länder und Kommunen finanziell unterstützt werden. Vor allem sollte die neue Bundesregierung ein Bewusstsein für den anstehenden demografischen Bruch im Osten entwickeln.

    Außenpolitik: Europa als Verteidigungsunion?

    Die Verwerfungen zwischen US-Präsident Trump und dem Rest der Welt spiegelt der Koalitionsvertrag nicht wider. Stattdessen gibt es ein klares Bekenntnis zu den transatlantischen Beziehungen, zur NATO und nuklearen Teilhabe. Es wird nicht erwähnt, dass der französische Präsident Emmanuel Macron angeboten hat, eine gemeinsame nukleare europäische Verteidigungsstrategie zu entwickeln oder dass wir ein starkes Europa der Verteidigungs- und Außenpolitik brauchen.

    Keine Visionen für die Demokratie

    Aus Sicht des Philosophen Jürgen Manemann fehlt es in der Politik grundsätzlich und im Koalitionsvertrag im Besonderen an Zukunftsvisionen. Spricht man mit Politikern darüber, wird schnell der Begriff der „Politik des Möglichen“ in Anschlag gebracht. „Es sei ja schön, neue Ideen zu entwickeln, aber Politik sei doch Realpolitik“, heißt es dann.
    So herrscht auch im Koalitionsvertrag eine technologisch-ökonomische Sprache vor, die das Visionäre bewusst unterläuft. Manemann erläutert sein Verständnis von Vision an einem Beispiel. Die Aussage: Deutschland wird in zehn Jahren CO2-neutral, sei erst einmal keine Vision, sondern ein technisches Ziel. Wie es sich erreichen lässt, ein bestimmtes Volumen an Treibhausgasen zu reduzieren, können Ingenieurinnen und Ingenieure erarbeiten.
    Wenn man Klimaneutralität hingegen als Vision versteht, hat es auch mit unserer Lebensform zu tun. Dann stellen sich folgende Fragen: Wie wollen wir gut und gerecht leben? Was bedeutet es, ein sinnvolles Leben zu führen? Das sei eine ganz andere Perspektive. Politik kommt aus Sicht des Philosophen Manemann nicht ohne Visionäres aus.

    Wo bleibt die Zivilgesellschaft im Koalitionsvertrag?

    Zudem vermisst der Manemann den Begriff der Zivilgesellschaft im Koalitionsvertrag. Dabei seien Bürgerinnen und zivilgesellschaftliche Akteure das Fundament der Demokratie. Dieser einen Ordnungsrahmen vorzugeben, reiche nicht aus, um sie abzusichern. „Politik muss uns auch emotional ansprechen."

    tha