"Nach dem Aktenzeichen, was ich habe, das sind eine ganze Reihe von Nullen und dann steht hinten eine Zwei. Also ich bin sicherlich einer der Ersten gewesen, die Einsicht beantragt haben." Als der Deutsche Bundestag vor 30 Jahren, am 14. November 1991, das Stasi-Unterlagen-Gesetz verabschiedete, konnte Gilbert Furian bald darauf seine Stasi-Akte einsehen. Mitte der 1980er-Jahre war er 13 Monate lang in der DDR inhaftiert gewesen. Er hatte Punks befragt und wollte die Aufzeichnungen Freunden im Westen zukommen lassen.
Im Lesesaal der neu gegründeten Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin habe er allerdings dann eine Überraschung erlebt, erzählt der heute 76-Jährige: "Ich hatte geglaubt, es sind vielleicht zwei Ordner über diese Punk-Heft-Geschichte, und dann kommt die Frau in den Lesesaal mit einem Teewagen mit drei Stapeln Ordner. Und dann musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass ich schon 20 Jahre vor der Inhaftierung unter Beobachtung gestanden habe."
Akteneinsicht als Selbstverständlichkeit
Mehr als 3,3 Millionen Menschen haben in den vergangenen 30 Jahren ihre Stasi-Akte eingesehen. Im ersten Jahr waren es über eine halbe Million - 2019 noch rund 57.000. Mittlerweile ist die Akteneinsicht längst eine Selbstverständlichkeit. Zu erfahren, wie die DDR-Staatssicherheit einen überwacht und verfolgt hat – und wer das war: Das sei für den Einzelnen nach wie vor ein schwieriger Moment, sagt Susann Freitag: "In der Regel sind die Leute sehr, sehr aufgeregt. Weil das ist immer noch ein ganz brisantes Thema, ein ganz persönliches Thema für die Menschen."
Die Archivarin begleitet und berät Menschen wie Gilbert Furian, die in die mittlerweile aufgelöste Stasi-Unterlagenbehörde Nähe des Alexanderplatzes kommen. Manche wüssten, was sie in dem Haus erwartet, das mitsamt den Akten seit dem 17. Juni 2021 zum Bundesarchiv in Koblenz gehört. Ganz oft aber auch nicht. "Und dann habe ich auch oft schon die Erfahrung gemacht, dass die gar nicht so viel vorneweg reden wollen, sondern wenn, dann eher hinterher. Ich weiß nicht, ob denen bewusst ist, dass ich diejenige bin, die jetzt schon einen kleinen Wissensvorsprung hat, die einfach schon gelesen hat, was auf s ie noch zukommt. Das sind höchst private, intime Sachen manchmal - was man vielleicht nicht unbedingt mit allen teilen möchte."
Das "Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", kurz StUG, gilt international als vorbildlich. Dagmar Hovestädt, langjährige Sprecherin des letzten Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, und jetzige Abteilungsleiterin im Bundesarchiv, erklärt dies mit dem Untergang des alten SED-Regimes und der deutschen Wiedervereinigung.
"In Polen, Ungarn, Bulgarien, Tschechoslowakei, dann Tschechien und Slowakei sind ja Teile der alten Eliten weiter in Regierungsverantwortung gewesen, an den Ministerien, an den wichtigen Schaltstellen. Die damaligen Geheimpolizeien, Abteilungen der Innenministerien haben weitergearbeitet, und es gab eben gar nicht so eine drängende Bewegung der Bevölkerung zu sagen: Wir müssen an die Unterlagen ran, wir müssen Aufklärung schaffen für uns. Man hat eher gedacht: Wir müssen nach vorne schauen, wir können uns mit diesem Gift der Vergangenheit nicht beschäftigen", sagt Jahn.
Andere Staaten beschlossen ähnliche Regelungen
Mittlerweile haben die osteuropäischen Länder selbst Regelungen erlassen, die sich am Stasi-Unterlagen-Gesetz orientieren. Doch trotz der internationalen Vorbild-Rolle Deutschlands haben die rechtlichen Bestimmungen zum Umgang mit den Stasi-Akten seit ihrem Inkrafttreten im Dezember 1991 auch polarisiert.
Zuletzt im Juni 2021, als der Deutsche Bundestag beschloss, die Stasi-Unterlagen-Behörde, die einem Teil der DDR-Bürgerrechtler als Symbol der Friedlichen Revolution galt, zu schließen. Schriftgut, Bild- und Tonmaterial – wie das Folgende – wurden dem Bundesarchiv übergeben: "Hauptverwaltung Aufklärung. Installation einer konspirativen Abhöreinrichtung". „Red mal, sag du mal was. Eins, zwei, drei...Diesen Blumenbottich, den hätte ich hier nicht hingestellt!"
Obwohl das Stasi-Unterlagen-Gesetz bereits mehrfach novelliert wurde, hat sich seine grundsätzliche Struktur nicht geändert: Es regelt Belange, die sowohl die Interessen von Opfern als auch von Tätern der SED-Diktatur berühren. Menschen, die von der Staatssicherheit verfolgt wurden, dürfen ihre Akte einsehen, sich rehabilitieren, also von politischen Unrechtsurteilen freisprechen - und auch entschädigen lassen.
Zugleich dienen die Unterlagen der Strafverfolgung und der Überprüfung von Abgeordneten und Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung auf frühere Stasi-Mitarbeit – was heute kaum noch eine Rolle spielt. Unter bestimmten Bedingungen stehen sie zudem für Forschung und mediale Berichterstattung zur Verfügung. Für Rechtsanwalt Professor Johannes Weberling, ein Experte für Stasi-Unterlagen-Recht, immer noch eine vorbildliche Regelung: "Und andere Länder, die mit der Aufarbeitung massive Schwierigkeiten, die sie teilweise politisch instrumentalisieren, können sich unverändert eine Scheibe davon abschneiden, wie man das institutionell hier geregelt hat. Denn die Möglichkeiten sind da. Ob das dann genutzt wird, ist eine Frage des wissenschaftlichen Impetus, aber auch natürlich des politischen Willens."
Originaltöne aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv
Bezirksverwaltung Cottbus. Personenobservierung an einem Flugplatz, 1979: "15:30: Zwei weibliche Personen. 15:32: Person aufgetaucht, beobachtet Flugplatz." Originaltöne aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv. Haus 8 der früheren Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg: "Wir befinden uns jetzt hier in einem Magazinsaal. Hier werden also die Unterlagen aufbewahrt bei konstanter Temperatur und konstanter Luftfeuchtigkeit."
Norman Kirsten organisiert die Besuche im Stasi-Unterlagen-Archiv – und den Versuch, die gewaltige Hinterlassenschaft zu begreifen. "Wir nennen diesen Saal hier Kupferkessel. Denn hier sollte ein Rechenzentrum der Staatssicherheit entstehen, und das Kupfer sollte dafür sorgen, dass es abhörsicher ist und niemand sich hier einhacken kann. Von den Räumen, die wir hier haben, befinden sich sieben Stück übereinander. Wir befinden uns hier in dem Untersten."
Die Hälfte von insgesamt 111 Kilometern Unterlagen liegt in der Berliner Zentrale, die andere ist auf die Außenstellen in den ehemaligen DDR-Bezirkshauptstädten verteilt. Das meiste sei Schriftgut, sagt der Historiker, darunter Millionen personenbezogener Akten. Neben den orangefarbenen Akten der Inoffiziellen Mitarbeiter und den blau-grauen der Betroffenen finden sich Unmengen von Audios und Videos, Fotos und sogenannter Datenprojekte - die ersten Versuche zu digitalisieren. Norman Kirsten zeigt auf einige Säcke mit zerrissenem Papier: "Es wurden Sachen grob per Hand zerrissen, das sehen wir hier in diesem Sack, das sind diese Schnipsel. Danach wurden die durch einen Reißwolf oder Schredder, würden wir heute sagen, gejagt. Und das wurde dann zusätzlich noch mit Wasser vermischt, man nennt das ganze Verkollern, so dass dann quasi so eine Art Papierbrei entstanden war. Und das kann man also nicht mehr rekonstruieren."
Mielkes geheime Weisung
Dass die vom DDR-Geheimdienst gesammelten Informationen das Ende des sozialistischen Staates überdauert haben, war alles andere als selbstverständlich. Stasi-Chef Erich Mielke hatte in einer geheimen Weisung vom 6. November 1989 - kurz vor dem Mauerfall - versucht, die Spuren seiner Behörde zu verwischen: "Zur Gewährleistung der Sicherheit unter den gegenwärtigen komplizierten und sich zuspitzenden Bedingungen ist es erforderlich, vorübergehend den Bestand an dienstlichen Bestimmungen und Weisungen und anderen operativen Dokumenten wesentlich einzuschränken und auf den unbedingt notwendigen Umfang zu reduzieren. Gezeichnet: Armeegeneral Mielke."
Wie viele Dokumente im letzten Jahr der DDR zerstört wurden oder verschwanden, ist bis heute ungeklärt. Im Dezember 1989 besetzten Bürgerrechtler und Oppositionelle die Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit, um die weitere Vernichtung von Akten zu verhindern. Am 15. Januar 1990 stürmten sie die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg.
„Und damit war die Diskussion eröffnet, was machen wir denn jetzt mit diesen Akten?“ Marianne Birthler, damals in oppositionellen Friedens- und Kirchenkreisen aktiv, berichtet von ihrer Mitarbeit am sogenannten Runden Tisch. Einer Institution aus Regierungsvertretern und Oppositionellen, die den friedlichen Übergang in die Demokratie sichern sollte. Zudem war sie als Sprecherin von Bündnis 90/Grüne Teil der letzten, im März 1990 frei gewählten DDR-Volkskammer. "Und da gab es eben auch einige, das war eine Minderheit, die meinten: Wenn wir die Akten aufheben und womöglich noch zugänglich lassen, wird alles nur noch schlimmer. Weil wir kannten ja diese Unterlagen nicht, wussten nicht, was drinsteht. Und viele andere, dazu gehörte auch ich, sagten: unbedingt aufbewahren. Und dann muss man auch ein Gesetz machen, das natürlich persönliche Daten schützt."
Beide Institutionen wollten den Zugang zu den Stasi-Akten stärker einschränken als es das spätere Stasi-Unterlagen-Gesetz vorsah. Der Runde Tisch beschloss nicht nur die Vernichtung elektronischer Datenträger mit personenbezogenen Informationen. Die "Arbeitsgruppe Sicherheit" empfahl sogar, personenbezogene Akten nach und nach zu vernichten.
Gaucks Appell gegen "Vernichten und Vergessen"
Joachim Gauck, nach der Volkskammer-Wahl Abgeordneter von Bündnis90/Grüne, stellte sich im April 90 in der Wochenzeitung "Die Zeit" dagegen: "Je intensiver diese Fragen gestellt werden, desto energischer kommt eine scheinbar günstige Lösung in Sicht: Vernichten und Vergessen. Eigenartigerweise kommen derartige Töne gelegentlich auch schon aus Bonn. Das aber geht nicht. Uns wird all das nicht helfen, sondern nur eines: dass wir zu uns selbst kommen, indem wir nicht vor uns selbst weglaufen."
Wenige Wochen vor der Wiedervereinigung verabschiedete die Volkskammer am 24. August 1990 das "Gesetz zur Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS". Die Akten sollten nun erhalten und dezentral gelagert werden, die Betroffenen aber nur zur Auskunft über deren Inhalte berechtigt sein. Marianne Birthler: "Und dann kam ja ein zweiter Teil der Debatte, nämlich dass der Einigungsvertrag verhandelt wurde und wir dann plötzlich merkten, dass dieses Stasi-Unterlagen-Gesetz, auf das wir ziemlich stolz waren, gar nicht in den Vertrag übernommen wurde. Und das war so gemeint, dass die Stasi-Unterlagen dann ins Bundesarchiv kommen und erst mal für mindestens 30 Jahre nicht zugänglich sind. Und Sie können sich vorstellen, dass es da auch viel Protest gab."
Frank Ebert war damals in der "Umweltbibliothek" aktiv, ein Treffpunkt der oppositionellen Umwelt- und Friedensbewegung. Bei der zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale am 4. September 1990 - und dem anschließenden Hungerstreik von Bürgerrechtlern war er dabei. "Eigentlich hatten wir gedacht: Die Leute bekommen ihre Akte ausgehändigt, damit auch gewährleistet ist, dass kein Missbrauch mit den Akten stattfindet. So sind wir ran gegangen: Das ist meine Akte. Oder: Es ist seine Akte oder ihre Akte. Fertig. Dass da so viel an Drittinformationen drinnen sind, dass es vielleicht auch historisch natürlich hoch spannend ist, die Sachen doch lieber zu belassen, wie sie sind, aber eben zugänglich, das kam aber auch schon während der Besetzung so auf."
"Habt ihr noch nie was Datenschutz gehört?"
Die einstige DDR-Opposition verbucht das vom ersten gesamtdeutschen Bundestag verabschiedete Stasi-Unterlagen-Gesetz, das die Akteneinsicht erlaubt, heute auch als ihren Erfolg. Besonders geholfen habe dabei allerdings, dass zwei Ansätze zusammenkamen, erinnert sich Marianne Birthler: "Das eine waren wir sozusagen, die von Datenschutz noch nicht viel gehört hatten und sagten: 'Schränke auf, Türen auf, alles alles muss raus!' Und dann schrien unsere westdeutschen Freunde: 'Habt ihr noch nie was von Datenschutz gehört? Das geht doch nicht. Dafür haben wir jahrelang gekämpft.' Das war eine sehr interessante Debatte, die nachher in das sehr brauchbare Stasi-Unterlagen-Gesetz mündete, weil es einerseits ein Aktenöffnungsgesetz, aber andererseits auch ein Datenschutzgesetz war."
Während die Amtszeit von Joachim Gauck, dem ersten Stasi-Unterlagen-Beauftragten in den 1990er-Jahren, von Akteneinsichten und Enthüllungen geprägt war, hatte Marianne Birthler, die ihm im Jahr 2000 nachfolgte, damit weniger zu tun. "Was in der Zeit wirklich so aufblühte, war die Nutzung durch die Wissenschaft. Das war ja vielen vorher gar nicht bekannt, dass in den Stasi-Akten nicht nur steht, wer verfolgt wurde und wer selber gespitzelt hat. Sondern die Stasi hat sich ja für fast alle Lebensbereiche interessiert, und wenn man irgendetwas über die DDR schreiben wollte, kam man an den Akten fast nicht vorbei. Das ist ja ein Kompendium."
Das gilt heute noch. Die Professorin Daniela Münkel, Projektleiterin in der früheren Forschungsabteilung der Behörde und jetzt beim Bundesarchiv, gibt die geheimen Stimmungs- und Lagebilder des Ministeriums für Staatssicherheit als Edition heraus. Die Historikerin plant zudem, die audiovisuellen Mitschnitte von DDR-Spionageprozessen zu erforschen und zu veröffentlichen.
"Ich könnte mir vorstellen, dass in der Zukunft Stasi-Akten noch anders gelesen werden können. Gerade wenn man sich diese IM-Berichte zum Beispiel anschaut, da stehen ja ganz alltägliche Dinge drin, was die Leute sich erzählt haben, was sie zum Abendbrot gegessen haben. Diese Quellen werden immer Quellen der Repression und der Repressionspraxis der Staaatssicherheit bleiben. Aber man kann sie eben auch als Quellen einer Alltagsgeschichte der DDR benutzen, man kann sie auch als Quellen einer Gesellschafts- und Herrschaftsgeschichte der DDR benutzen."
Forscherzugang und Rechtsstreit
Dass die Wissenschaftler der hauseigenen Forschungsabteilung im Gegensatz zu externen Forschern freien Aktenzugang hatten und diese ohne Schwärzung der Namen lesen konnten, hat für viele Diskussionen gesorgt. Mit den beiden wichtigsten Novellierungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in Birthlers Amtszeit änderte sich das, betont Johannes Weberling.
Die eine hatte mit dem jahrelangen Rechtsstreit mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl um die Herausgabe seiner Akten zu tun. Seit der Novellierung 2002 müssen Personen der Zeitgeschichte zwar über die Einsicht in ihre Akten informiert werden, worauf sich oft ein kompliziertes Aushandlungsverfahren anschloss. Grundsätzlich, sagt Jurist Weberling, blieben die Akten jedoch offen. Die zweite Änderung betraf den privilegierten Akten-Zugang in der Forschungsabteilung.
"Den Quantensprung, der die Aufarbeitung wirklich voran gebracht hat, ist die Novelle 2006 gewesen, Ende 2006, an der ich auch als Sachverständiger mitarbeiten durfte. Dort ist das Privileg der Behördenforschung abgeschafft worden. Dort ist über eine juristische Sicherungsmöglichkeit ermöglicht worden, dass Wissenschaftler, die sich öffentlich-rechtlich verpflichten lassen, genauso uneingeschränkt Einsicht in die Original-Akten bekommen wie ein Behörden-Mitarbeiter."
Die meisten Menschen, die heute noch zur persönlichen Akteneinsicht kommen, haben die DDR noch erlebt, sagt Archivarin Susann Freitag. Viele sind in Rente gegangen und wollten nun Frieden machen. Ein Teil von ihnen habe früher der Stasi zugearbeitet. Zunehmend melden sich auch Angehörige. Diese müssen nach dem Gesetz erklären, weshalb sie sich für die Unterlagen der verstorbenen Eltern oder Großeltern interessieren – bekommen aber nicht alles zu sehen. "Das ist viel gar nicht in der Familie besprochen worden. Es ist einfach totgeschwiegen worden oder einfach auch aus Scham, den Kindern gar nicht erzählt worden. Dass die Kinder jetzt für sich klar wissen wollen, was war oder was eben nicht war."
Es gibt aber auch Menschen, die ihre Stasi-Akte nicht sehen wollen. „Gewolltes Nicht-Wissen“ heißt ein Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Bildungsgeschichte in Berlin und der TU Dresden, das verschiedene gesellschaftliche Bereiche in den Blick nimmt. Geleitet wird es an der TU von Professorin Dagmar Ellerbrock: "Claus Weselsky war zum Beispiel so ein Protagonist, der so was in den Medien erzählt hat. Günter Grass hat auch gesagt, er weiß, er hat eine Stasi-Akte, aber er will das nicht sehen. Beide aus ganz unterschiedlichen Motiven." Zum Beispiel, dass die Akteneinsicht mit zu großen emotionalen Belastungen verbunden ist, weil jemand aus dem Freundes- oder Familienkreis Verrat begangen hat.
Gründe, den Akten aus dem Weg zu gehen
Die Historikerin berichtet von großem Interesse: Nach einer Veranstaltung am Deutschen Hygiene-Museum in Dresden hätten sich mehr als 150 Menschen für Interviews gemeldet. Und erste Auswertungen würden zeigen, dass es viele Gründe gibt, den Akten aus dem Weg zu gehen, "die immer wieder auf die Identität und auf das Selbstbild zurückverweisen. Und ein Motiv, das für mich völlig überraschend war, dass es offensichtlich auch Menschen gibt, die sich nicht damit konfrontieren wollen, eventuell keine Stasi-Akte zu haben. Dass sie so marginal und so unwichtig waren, dass die Stasi sie nicht beobachtet hat."
Im Juni 2021 hat der Deutsche Bundestag die Arbeit des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen für beendet erklärt. Gleichzeitig hat er die neue Opferbeauftragte, Evelyn Zupke, damit beauftragt, die Interessen der Menschen zu vertreten, die noch unter den Folgen der Stasi-Verfolgung leiden. Auch die Stasi-Akten selbst werden die deutsche Gesellschaft noch lange beschäftigen. 15.500 Säcke zerrissener Unterlagen warten auf ihre Rekonstruktion. Und von den 900 Millionen Seiten MfS-Schriftgut sind erst 4,6 Millionen digitalisiert.
Der Blick in die Akte lohnt sich. Davon ist Gilbert Furian überzeugt. Er helfe, die DDR und die eigene Verfolgung besser zu verstehen. Er selbst ließ sich im Januar 1990 beim Stadtgericht Berlin rehabilitieren.