
Frauen sind im Bundestag in der Minderheit, trotz der in der Verfassung verankerten Gleichheitssätze. Gerade einmal ein Drittel der Abgeordneten ist weiblich. Dabei gehört die Gleichstellung von Männern und Frauen zum Fundament der Demokratie in Deutschland, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März mahnte er: "Wenn unsere Demokratie ein Frauenproblem hat, dann hat unser Land ein Demokratieproblem.“
Auch andere soziale Gruppen sind im hiesigen Parlament unterrepräsentiert: zum Beispiel Nicht-Akademikerinnen, Arbeiter und Menschen mit Migrationshintergrund. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Teile der Bevölkerung nicht parlamentarisch abgebildet werden, wenn eine Repräsentationslücke klafft zwischen dem Volk und seinen Vertretern? Muss der Bundestag ein "Miniatur-Deutschland" sein, um alle repräsentieren zu können? Und was meint politische Repräsentation überhaupt?
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Wer ist im Bundestag vertreten – und wer nicht?
Im Bundestag herrscht Frauenmangel. Nur rund ein Drittel der Abgeordneten, 32,4 Prozent, ist weiblich. Dabei machen Frauen mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung aus. Ähnlich sieht es in deutschen Landes- und Kommunalparlamenten aus. Auch dort sind Frauen im Schnitt deutlich unterrepräsentiert. Schlusslicht im Ländervergleich ist Bayern, dessen Landtag gerade einmal 51 Parlamentarierinnen zählt – bei insgesamt 203 Abgeordneten.
Auch andere gesellschaftliche Gruppen sind im Parlament nur schwach vertreten. Es gibt deutlich weniger Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als in der deutschen Bevölkerung insgesamt. Laut einer Recherche des Mediendienst Integration liegt der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund bei 11,6 Prozent, in der Bevölkerung ist er mit 29,7 Prozent fast dreimal so hoch. Überproportional viele Abgeordnete haben zudem Studienabschlüsse und Doktortitel, nur vereinzelte einen Hauptschulabschluss. Juristinnen und Rechtsanwälte gibt es in den Reihen des Plenarsaals zuhauf, Handwerker und Krankenschwestern sind hingegen rar.
Wenige Frauen, Junge und Alte
Eine Datenanalyse von "Zeit Online" vom ersten Bundestag 1949 bis zur vergangenen 20. Wahlperiode zeigt: Unter den Abgeordneten sind unverhältnismäßig viele verheiratete Väter, um die 50 Jahre, mit Hochschulabschluss und ohne Migrationshintergrund. Und auch im neuen Bundestag ist der Durchschnittsabgeordnete: männlich, 47 Jahre und Akademiker. Mit Blick auf Bildung, Herkunft und Geschlecht klafft in Deutschland eine Repräsentationslücke zwischen dem Volk und seiner Vertretung.
Auch was die Altersstruktur angeht, zeigen sich Differenzen. Zwar liegt der Altersschnitt im Bundestag mit 47,1 Jahren nicht viel über dem der Bevölkerung (2023: 44,6 Jahre), doch Junge wie Alte finden sich deutlich weniger. So sind zum Beispiel nur 14,6 Prozent der Abgeordneten 60 Jahre oder älter, im alternden Deutschland hingegen trifft das auf mehr als ein Viertel der Menschen zu.
Was bedeutet politische Repräsentation?
Der Bundestag ist kein Spiegelbild der deutschen Bevölkerung - aber muss er das denn sein, um die Gesellschaft gut repräsentieren zu können? Nein, meinte etwa der verstorbene Unionsabgeordnete und frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Der CDU-Politiker sah es so: Die gewählten Repräsentanten vertreten die Repräsentierten nicht durch ihre Person, sondern durch ihre Politik. Schließlich sind Abgeordnete laut Verfassung Vertreter des ganzen Volkes, nicht einer bestimmten Gruppe.
Auch in der Wissenschaft wird diese Frage debattiert. Aus Sicht der Juristin Sophie Schönberger ist mit dem Begriff „Repräsentanz“ nicht ein exaktes Abbild der Gesellschaft gemeint. „Das Parlament ist keine Miniatur-Bevölkerung. Das geht auch gar nicht, denn dann hätten wir keine freie Wahl mehr.“ Gleichzeitig, so Schönberger, lebe Demokratie davon, dass unterschiedliche Interessen artikuliert werden. Dafür wiederum sei ein divers zusammengesetztes Parlament mit Menschen unterschiedlicher Erfahrungen und beruflicher wie biografischer Hintergründe zentral.
Ähnlich argumentiert der Politikwissenschaftler Armin Schäfer. Aufgabe des Parlaments sei es, Interessen zu repräsentieren - und das erfolge nicht automatisch durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Umgekehrt könne man auch Interessen einer Gruppe vertreten, von der man selbst nicht Teil sei. Politologin Svenja Krauss spricht vom Konzept der substanziellen Repräsentation. Dazu gehöre, dass grundsätzlich auch Männer politisch die Interessen von Frauen vertreten können, Heterosexuelle die Interessen von Nicht-Heterosexuellen und so weiter.
Vertritt die Politik die Interessen aller sozialen Gruppen?
Soweit die Theorie, wie aber steht es tatsächlich um die Vertretung der Interessen von Frauen, Nicht-Akademikern und Menschen mit Migrationshintergrund? Experten wie die Politologin Krauss und der Soziologe Linus Westheuser beobachten bei parlamentarischen Entscheidungen eine Verzerrung zulasten der unterrepräsentierten Gruppen. So sind nach Ansicht von Krauss die Präferenzen von Frauen im Parlament generell schlechter vertreten als die von Männern.
Die Rechtswissenschaftlerin Silke Ruth Laskowski hält den geringen Frauenanteil im Bundestag gar für verfassungswidrig. Aus Sicht der Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Kassel ist eine nicht gleichberechtigte Repräsentation von Frauen und Männern in Parlamenten nicht mit der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik vereinbar: "Demokratie bedeutet Vertretung des gesamten Volkes. Das heißt, die männliche Hälfte und die weibliche. Das heißt, von Volksvertretung zu sprechen ohne die Frauen, ist keine Volksvertretung und auch keine Demokratie.“
„Soziale Erfahrung formt Politik“
Auch die Interessen der Nicht-Akademikerinnen und Arbeiter werden nach Einschätzung von Westheuser seltener umgesetzt. Vor allem bei neuen Themen habe die Lebensrealität der Abgeordneten einen Einfluss auf ihre Politik. „Da greift man noch viel stärker auf die eigenen Intuitionen zurück.“ Und die wiederum seien von den jeweiligen sozialen Erfahrungen geformt. Wer etwa selbst stets in klimatisierten Büroräumen gearbeitet habe, werde beim Stichwort Klimawandel wohl nicht als erstes an die Hitzebelastung für Bauarbeiter denken. „Ich habe andere Assoziationen zu dem Thema“, erklärt Westheuser, „und das formt die Art und Weise, wie ich Politik mache."
Auch Politikwissenschaftlerin Lea Elsaesser sagt: „Die Sichtweisen auf politische Probleme, auf das, was als besonders drängend wahrgenommen wird, die sind unterschiedlich.“ Wenn also ein Teil der Bevölkerung mit seinen bestimmten Sichtweisen nicht parlamentarisch vertreten ist, berge das die Gefahr, dass die Anliegen dieser Gruppen nicht mehr auf der politischen Agenda landen.
Und tatsächlich zeigt sich laut Elsaesser, die an der Universität Mainz zu Fragen politischer Repräsentation forscht, dass Menschen aus unteren Einkommens- und Berufsgruppen sehr viel seltener erleben, dass das, was sie für politisch richtig halten, vom Bundestag umgesetzt wird. Die Folge: Sie zögen sich aus dem politischen Betrieb zurück, gingen etwa nicht mehr zur Wahl oder engagierten sich nicht mehr in Parteien, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Warum sitzen im Bundestag so wenige Frauen?
Im Grundgesetz heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Und weiter: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Trotzdem sind Frauen im Parlament unterrepräsentiert – woran liegt das?
Rechtswissenschaftlerin Laskowski kritisiert vor allem eine fehlende Chancengleichheit von Kandidatinnen im parteiinternen Nominierungsverfahren. Viele Parteien setzten deutlich weniger Frauen als Männer auf ihre Wahllisten. Einen Grund dafür sieht Laskowski darin, dass Frauen über weniger Privatvermögen verfügen. Weil Kandidatinnen und Kandidaten in vielen Bundesländern ihren Wahlkampf jedoch aus privaten Geldmitteln finanzieren müssten, sei das für Frauen oft eine zu hohe Hürde. "Dieses Recht auf Chancengleichheit, das in Verbindung mit dem passiven Wahlrecht Frauen und Männern gleichermaßen zusteht, das wird in Bezug auf Frauen missachtet“, kritisiert Laskowski. Die Rechtswissenschaftlerin hält das für einen Verfassungsverstoß.
Vor allem in den Reihen von AfD, CDU und CSU ist der Frauenanteil gering. Der Rückgang weiblicher Abgeordneter im 21. Bundestag ist auch auf den Stimmenzuwachs dieser Parteien zurückzuführen.
Hass und Hetze gegen Politikerinnen
Zu beobachten ist zudem, dass sich Frauen aus dem politischen Betrieb zurückziehen. Ein prominentes Beispiel ist Annalena Baerbock (Grüne), die Anfang März in einem Brief an ihre Fraktion mitteilte, keine neue Führungsposition in ihrer Partei und Fraktion mehr anzustreben. Ihre Entscheidung begründete sie damit, dass die vergangenen dreieinhalb Jahre einen hohen privaten Preis für sie hatten.
Anfeindungen, Hass und Hetze richteten sich in der Politik deutlich häufiger gegen Frauen, kritisiert die Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas (CDU). Die Abgeordnete hatte bereits 2024 erklärt, ihre politische Karriere zu beenden. Ein Grund sei das zunehmend rauer werdende gesellschaftliche Klima. Vor allem in sozialen Medien gehören Hassnachrichten und Beschimpfungen für viele Politikerinnen zum Alltag.
Wieso sind Arbeiter und Migranten unterrepräsentiert?
Auch andere soziale Gruppen scheitern häufig an innerparteilichen Selektionsmechanismen auf dem Weg zur Kandidatur, sagt Politikwissenschaftler Schäfer. So erfordere der Wettbewerb innerhalb der Parteien einiges an Ressourcen - und die hätten manche Gruppen mehr als andere. „Wenn man im Ortsverein bei bestimmten Terminen immer anwesend sein muss, dann wird das schwieriger sein für diejenigen, die sich um kranke Eltern oder ihre Kinder kümmern müssen.“ Aber auch für bestimmte Berufsgruppen sei das nicht ohne Weiteres machbar.
Einen weiteren Grund sieht Schäfer darin, dass diejenigen, die die Kandidaten auswählen, sich häufig für Menschen entscheiden, die ihnen selbst ähneln. „Wenn der jetzt schon berühmte alte, weiße Mann jemanden sucht, der kandidieren soll, dann sucht er möglicherweise eben jemanden, der ihm ähnlich ist, der vielleicht studiert hat und so weiter.“ Diese Mechanismen sorgten für eine Schieflage bei der Frage, wer gute Chancen habe, nominiert zu werden – und damit am Ende auch in den Parlamenten zu landen. Auch Sophie Schönberger sieht den Einstieg in die Politik für bestimmte Gruppen erschwert. Die Hindernisse seien größer für jemanden, „der vielleicht nicht den familiären Hintergrund hat, wo schon der Onkel oder wer auch immer in der politischen Partei aktiv war, vielleicht mal ein kommunales Mandat hatte“, kritisiert die Juristin.
Wie lassen sich Repräsentationslücken schließen?
Mit Blick auf den geringen Frauenanteil im Bundestag spricht sich die Rechtswissenschaftlerin Laskowski für eine Änderung des Wahlrechts aus. Sie schlägt vor, dass immer nur gleich viele Männer und Frauen ins Parlament einziehen dürfen – egal, wie viele Kandidaten beziehungsweise Kandidatinnen die Parteien auf ihre Wahllisten schreiben. Ein aus ihrer Sicht verfassungskonformer Vorschlag, der dazu führen würde, dass der Gleichheitsgrundsatz zwischen Männern und Frauen zumindest in puncto Repräsentation im Parlament verwirklicht würde.
Aus Sicht von Linus Westheuser muss Politik "wieder mobilisierungsfähig" werden. In der Demokratie sollten alle befähigt sein, Politik mitzugestalten. Helfen könnten zum Beispiel Bürgerräte. Mit Blick auf die Repräsentanzlücke bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte sieht eine von der Robert Bosch Stiftung geförderte Studie der Hochschule München vor allem die Parteien in der Pflicht. Die Autorinnen und Autoren der 2024 publizierten "Repchance-Studie" fordern unter anderem, dass sich die Parteien "nachhaltiger als bisher öffnen" und zum Beispiel Diskriminierung und diskriminierende Strukturen identifiziert und beseitigt werden.
irs