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Bundestagsbeteiligung bei Corona-Maßnahmen
Publizist von Lucke warnt vor "Phantomdebatte"

In der Diskussion um die Bundestagsbeteiligung bei Corona-Maßnahmen solle man sich vor einem "künstlich-aufgeregten Alarmismus" hüten, sagte der Publizist Albrecht von Lucke im Dlf. Er betonte, dass das Parlament durch das Infektionsschutzgesetz nicht ausgehebelt werde.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Dirk Müller |
Albrecht von Lucke im Porträt
"Wir müssen in einem solchen Fall eines Gesundheitsnotstandes bereit sein, konkrete, schnelle Maßnahmen zu treffen", sagte der Journalist und Jurist Albrecht von Lucke im Dlf (imago/Sven Simon)
Das Parlament werde zu wenig in die Bekämpfung der Pandemie eingebunden, kritisieren mehrere Bundestagsabgeordnete. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubikci (FDP) warnt sogar vor einem "dauerhaften Schaden für die Demokratie". Auch Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) hat im Dlf vor negativen Folgen für die Demokratie gewarnt, sollten wichtige Beschlüsse zur Bekämpfung der Pandemie nicht vom Parlament gefasst werden.
Grundsätzlich sei diese Debatte zu begrüßen, sagt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke, Redakteur bei den "Blättern für deutsche und internationale Politik", im Deutschlandfunk. Allerdings sieht er in den aktuellen Sonderbefugnissen für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) derzeit keine Überschreitung der Verhältnismäßigkeit.
Roth (Grüne): "Die Kompetenzen müssen ins Parlament verlagert werden"Claudia Roth (Grüne), Bundestagsvizepräsidentin, hat im Dlf vor negativen Folgen für die Demokratie gewarnt, sollten wichtige Beschlüsse zur Bekämpfung der Pandemie nicht vom Parlament gefasst werden.

Dirk Müller: Herr von Lucke, kommt jetzt noch mehr Chaos?
Lucke: Das könnte man meinen, aber zunächst mal muss man festhalten, Debatte – um es ganz klar zu sagen – auch und gerade im Parlament ist immer gut! Es ist auch gewissermaßen nicht nur mit dem schönen Wort "die Herzkammer der Demokratie, wo Debatte hingehört", es ist natürlich aber vor allem gegenwärtig auch – und das mach ich besonders aus – der Ruf nach der Daseinsberechtigung des Parlaments. Das Parlament hat sich in der Tat vor einigen Monaten mit der Zustimmung zum Infektionsschutzgesetz beziehungsweise zu der neuen Generalklausel bereiterklärt, in einem solchen Fall Maßgaben an den Gesundheitsminister abzutreten, und jetzt kommt natürlich – zu Recht durchaus – der Ruf, wir müssen gewisse Debatten vielleicht grundsätzlicher führen.
Das ist nicht falsch, aber sie sagen es zu Recht: Wir haben bereits eine gewisse Kakophonie, wir haben einen großen Disput zwischen Bundesebene, der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder, das ist gewissermaßen das eigentliche jetzt aktive Gremium. Und ich will da zu bedenken geben, wir haben eine ungemein lebhafte demokratische Debatte auch aus der Bevölkerung. Insofern sehe ich nicht die große Sorge, dass unsere Debatte hier in Deutschland erlahmen könnte.
Lucke: Parlament kann selbst aktiv werden
Müller: Das ist jetzt meine Frage, ich kann das jetzt nicht auf den Tag und auf die jeweiligen Einzelheiten dann belegen, aber es hat doch sehr viele Diskussionen im Parlament um Corona gegeben, um die Corona-Entscheidungen. Reicht das nicht?
Lucke: Na ja, es hat zunächst mal Ende März – daran müssen wir erinnern – eine sehr schnelle große Grundsatzdebatte gegeben, und ich erinnere daran übrigens, da war es selbst die AfD, die da sehr staatstragend sagte, wir müssen in einem solchen Fall eines Gesundheitsnotstandes bereit sein, konkrete, schnelle Maßnahmen zu treffen. Daraufhin wurde besagte Generalklausel geschaffen, die Möglichkeit des Gesundheitsministers, im Falle von epidemischen Notlagen von nationaler Ausbreitung aktiv zu werden. Das ist befristet worden binnen eines Jahres.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Aber in der Tat, Sie sagen zu Recht, wir haben danach weitere Debatten gehabt. Auch gerade übrigens Christian Lindner, der sich jetzt gewaltig in die Brust wirft, hat ja damals – erinnern wir uns – wenige Monate später gewissermaßen diese Bereitschaft aufgekündigt und hat gesagt, jetzt ist die Opposition wieder am Start. Aber natürlich, eines bleibt richtig: Die Entscheidungen treffen in hohem Maße übrigens auch vor allem die Länder, die Regierungen der Länder, die ja ausführungsbefugt sind. In dem Falle ist tatsächlich die Debatte – auch übrigens auf parlamentarischer Länderebene – nicht in dem Maße im Gange, wie sich das natürlich zuallererst, zu Recht übrigens auch, die Abgeordneten wünschen müssen, die natürlich die Sorge haben, dass ihre Einflussmöglichkeiten massiv beschränkt werden.
Die Bundestagabgeordnete Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen)
Brantner: "Wir müssen jetzt strukturell das Parlament stärken"
Die Grünen-Politikerin Franziska Brantner weist den Vorschlag des Bundesgesundheitsministers, seine Kompetenzen auszuweiten, zurück. Sie fordert eine stärkere Beteiligung des Parlaments in der Coronakrise.
"Dramatischere Einschränkungen" während der Eurokrise
Müller: Aber wer verhindert eine Debatte im Parlament? Jedes Parlament kann das doch entscheiden, jedes Parlament kann das doch auf die Tagesordnung setzen.
Lucke: Absolut, da sagen Sie das ganz Entscheidende! Wenn es beispielsweise jetzt ein Interesse auch der Bundesparlamentarier gesteigerter Art gäbe, zu sagen beispielsweise – denken wir an das Beherbergungsverbot, was ich übrigens interessanterweise, ich sage, auch da mal deutlich machen, wie unsere Demokratie funktioniert, was sich ein Stück weit übrigens auch hier interessanterweise auf anderem Wege erledigt hat. Es sind ja vor allem die Gerichte gewesen, die sofort gesagt haben, dieses Beherbergungsverbot geht in den betreffenden Fällen zu weit.
Es ist also in diversen Gerichtsfällen für ungültig erklärt worden, und Markus Söder, übrigens nur als kleine Pointe, hat dann prompt sofort sein Beherbergungsverbot zurückgezogen, um nicht auch die Klatsche zu erfahren.
Also ich will sagen: Es gibt ein Reglementarium, es gibt einen Vorfall, aber in der Tat, eines ist ein Problem – es könnte natürlich in Zukunft weit grundsätzlichere Entscheidungen geben. Denken wir beispielsweise das Beherbergungsverbot noch einmal weiter: Hätte man das auf Bundesebene durchführen wollen, dann wäre es ausgesprochen sinnvoll gewesen – und das könnten die Parlamentarier noch heute tun, wenn es sich nicht bereits erledigt hätte –, zu sagen, wir diskutieren das im Bund, wir holen diese Befugnis zurück. Das ist alles möglich, Sie müssen dann ein Gesetz einbringen.
Müller: Aber da müsste der Bundesrat auch noch mitmachen, dauert ja ewig.
Lucke: Ja, das ist der klassische Einwand, aber der greift meines Erachtens manchmal auch zu kurz. Und eines will ich deutlich machen an dem Punkt: Wir haben zum Teil, und das finde ich so interessant, weil ich auch davor warne, hier eine, ich nenne es mal eine Phantomdebatte aufzumachen, wir hatten in früheren Zeiten viel dramatischere Einschränkungen des Bundestages beziehungsweise Gesetzgebungsverfahren. Wir erinnern uns, glaube ich, allzu gut, im Falle der Europakrise, der Eurokrise, da wurden über Nacht im Ad-hoc-Verfahren Gesetzespakete von milliardenfachem Kostenumfang durchs Parlament gepeitscht, aus der vermeintlichen oder zum Teil ja wirklich gegebenen Alternativlosigkeit, weil anderenfalls am nächsten Tage Banken oder gar Staaten pleitegegangen wären. Damals war das Parlament kaum in der Lage, Kontrolle auszuüben, das war wirklich eine Existenzsituation, die an die Wurzel der demokratischen Rechte ging, weil Parlamentarier kaum in der Lage waren, wirklich nachzukommen.
Der Plenarsaal des Deutschen Bundestags, nur wenige Abgeordnete sind anwesend, viele Sitze sind leer.
Mehr Parlament in der Coronakrise - Dann fangt mal an!
Momentan gehen alle Maßnahmen in der Coronakrise auf eine dürre Klausel im Infektionsschutzgesetz zurück. Das muss nicht sein, kommentiert Gudula Geuther. Der Bundestag kann das Gesetz viel konkreter fassen.
Heute meine ich, ist es nicht so, dass wir nicht tatsächlich, auch durchaus mit einem beschleunigten Verfahren, der Bundestag kann durchaus beschleunigen, dass wir nicht manche Debatten führen könnten. Das wäre auch berechtigt, aber wir sollten uns davor hüten, jetzt manchmal fast einen künstlich-aufgeregten Alarmismus zu erzeugen, der den Eindruck erweckt, hier würde das Parlament ausgehebelt, wir hätten es fast schon mit einer – manche reden ja schon davon –, mit einer Notstandsregierung, mit einer Pseudodemokratie zu tun. Davon kann meines Erachtens nicht die Rede sein.
Lucke: Kompetenzen für Spahn nicht zu weit gefasst
Müller: Claudia Roth beispielsweise, Bundestagsvizepräsidentin, hat heute Morgen im Deutschlandfunk von Ermächtigungen gesprochen. Da zucken immer viele zusammen, ausgerechnet Claudia Roth sagt das dann, aber man darf das dann offenbar auch wieder sagen in diesem Zusammenhang. Alle wissen, was gemeint war, es geht ja um Verordnungsermächtigungen in dem Punkt. Jetzt umgekehrt mal, aus der exekutiven Perspektive gefragt: Darf Jens Spahn zu viel?
Lucke: Nein, das würde ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Ich will auch da übrigens Claudia Roth durchaus in Schutz nehmen. Wir müssen aufpassen, dass Sie eine Ermächtigung nicht mit dem Ermächtigungsgesetz gleichsetzen, worauf Sie ja anspielen, das hat sie natürlich nicht gemeint.
Parlament bei Impf-Thematik stärker gefragt
Müller: Nein, hat sie auch nicht gesagt, klar.
Lucke: Nein, nein, eben, das will ich deutlich sagen, aber Sie haben natürlich Recht, der Begriff Ermächtigung wirft Assoziationen auf. Das ist natürlich nie passiert, und Jens Spahn, das müssen wir ausdrücklich sagen, ja, man kann sich darüber unterhalten, ob dieses eine Jahr, was ja bereits jetzt gewissermaßen ihm überlassen wurde, wenn ich’s so salopp sagen darf, er ist auf ein Jahr lang befristet, denn die Prüfung erfolgt Ende März 2021, er ist auf ein Jahr lang ermächtigt, Maßgaben zu erlassen. Und jetzt erleben wir natürlich eines: Diese Ermächtigung geht ziemlich weit, das ist durchaus richtig. Und es kann der Fall eintreten – und da meine ich, sollte das Parlament durchaus bemüht sein, gewisse Kompetenzen zurückzuholen –, wo wir in der Tat eine größere Debatte brauchen.
Stellen wir uns beispielsweise vor, es geht um die Frage von Impfungen im nächsten Jahr, das ist ja noch denkbar im Rahmen der Zeit bis zum 31. März nächsten Jahres. Jetzt könnte sein, dass wir in der Tat wieder größere Debatten brauchen, die sind dann sicherlich auch zuträglich, um einen Sachstand noch mal ernsthaft zu diskutieren. Da ist das Parlament gefragt, und da kann es durchaus sinnvoll sein, auch manche Kompetenzen wieder einzuklagen.
Die SPD-Politikerin Hilde Mattheis (SPD) in einer Parlamentsdebatte 2020
Mattheis (SPD): "Ich will jetzt die Parlamentsdebatte!"
SPD-Gesundheitspolitikerin Hilde Mattheis möchte eine Verlagerung von Kompetenzen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes auf die Bundesebene. Dort müsse jedoch der Bundestag entscheiden.
Frage nach der Zustimmung in der Bevölkerung
Müller: Das gilt dann auch – meine Frage an Sie – für die Reisebeschränkungen, für die Ausgangsbeschränkungen, für die Abstandsregelungen, für die Arzneimittelproduktion, also erst Debatte und dann entscheiden.
Lucke: Nein, das würde ich in der Tat zum Teil überhaupt nicht so sehen, weil in manchen Fällen – das sag ich ganz deutlich, und das ist ja die Grundsatzfrage – findet erstens auch in unserer parlamentarischen Demokratie eine Auseinandersetzung auf anderem Wege statt. Nehmen wir konkret die Abstandsregelungen, wie offensichtlich 90 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, hoch vernünftige Maßgabe, die auch übrigens, um schnell zu entscheiden, durchaus getroffen werden konnte, vielleicht nicht ohne Parlament getroffen werden musste, aber ich glaube, das sind noch nicht die Maßgaben, die notwendigerweise von einem Parlament getroffen werden müssen.
Wenn es aber beispielsweise um die Debatte einer Impfpflicht – das ist ja eine hochrelevante Grundrechtseingriffsmaßnahme –, wenn es um Derartiges geht, dann meine ich, ist es absolut erforderlich, dass ein Parlament darüber diskutiert, weil dann wird es auch virulent. Wir müssen uns immer fragen, bei welchen Maßgaben ist eine Bevölkerung noch bereit mitzugehen. Ich finde es nämlich höchst bemerkenswert, momentan habe ich den Eindruck, diese Debatte über die Beteiligung des Parlaments wird zum Teil eher von Parlamentariern betrieben – durchaus nicht ohne Grund.
Wenn Wolfgang Schäuble sagt, wir brauchen vielleicht Befristungen, wir brauchen da vielleicht Zustimmungsrechte, dann sind das gute Gründe, um die Rolle des Parlaments zu stärken. Aber in der Bevölkerung ist das nicht die primäre Anfrage, dort wird eher beispielsweise gefragt, haben wir einen manchmal unsäglich verzonten Flickenteppich, müssen wir das also einheitlich regeln. Wir sagen, bisher ist das Parlament – und das ist vielleicht ein viel grundsätzlicheres Problem –, das Parlament ist als fehlend bei der Bevölkerung, glaube ich, noch nicht besonders vermisst worden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.