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Bundestagspräsident Norbert Lammert
"Ich bin heilfroh, dass der Bundespräsident in Deutschland nicht direkt gewählt wird"

Bundestagspräsident Norbert Lammert geht davon aus, zu Österreich weiter ein "ordentliches und faires Verhältnis" zu haben - auch wenn der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer die Stichwahl um das Amt des Bundespräsidenten gewinnen sollte. Das sei selbstverständlich, denn das Land sei für Deutschland als Partner wichtig, sagte Lammert im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Mögliche Direktwahlen eines deutschen Staatsoberhaupts lehnte er ab.

Norbert Lammert im Gespräch mit Stephan Detjen | 22.05.2016
    Bundestagspräsident Norbert Lammert vor dem Reichstag in Berlin
    Bundestagspräsident Norbert Lammert vor dem Reichstag in Berlin (picture alliance/dpa/Rainer Jensen)
    Er fühle sich sich nach den jüngsten Entwicklungen in Österreich in seiner Zurückhaltung bestätigt, was die vermeintliche Überlegenheit von plebiszitären Wahlverfahren gegenüber repräsentativen Verfahren angehe. "Ich bin heilfroh, dass wir in Deutschland den Bundespräsidenten in einer eigens zu diesem Zweck zusammengerufenen Bundesversammlung wählen und nicht in einer Direktwahl", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk.
    Kritisch äußerte sich der Bundestagspräsident zum Umgang der anderen Parteien mit der AfD im Landtag von Baden-Württemberg. Dass die AfD als stärkste Oppositionskraft dort nicht im Landtags-Präsidium vertreten sei, nannte Lammert "nicht glücklich". Die Reduzierung der Stellvertreter des Landtagspräsidenten sei zwar im Rahmen der Geschäftsordnungen zulässig, aber im Präsidium müsse selbstverständlich auch die Opposition vertreten sein. "Deswegen muss unabhängig von der Frage der Personen dieser Anspruch eigentlich unstreitig sein". Konkret vorgeschlagene Personen könnten mit einer Mehrheit auch abgelehnt werden, erklärte der Bundestagspräsident.
    Als Ursache für die Wahlerfolge der AfD nannte Lammert, dass die parlamentarischen Mehrheiten bei umstrittenen Themen wie etwa bei der Bewältigung der Flüchtlingsherausforderung oder des Ukraine-Konflikts deutlicher ausgeprägt gewesen seien als die Mehrheiten in der Bevölkerung für die jeweilige Politik. Das habe zur Folge, dass sich "ein beachtlicher Teil der Öffentlichkeit in diesem Parlament im wörtlichen Sinne nicht repräsentiert fühlt und damit ein Ventil sucht, das sich in Gestalt von anderen Politikangeboten entlädt".

    Das Interview in voller Länge:
    Detjen: Herr Präsident, in Österreich findet an diesem Sonntag der Stichentscheid zur Wahl des Bundespräsidenten statt. Die Umfragen sagen einen Sieg des Rechtspopulisten Norbert Hofer von der FPÖ voraus – sind Sie beunruhigt?
    Lammert: Das Ergebnis kennen wir ja noch nicht. Und wie auch immer es ausgeht, werden wir selbstverständlich mit dem gewählten Staatspräsidenten ein ordentliches, faires Verhältnis haben, so wie wir es mit anderen Staaten, die für uns als Partner wichtig sind, unterhalten. Übrigens darunter auch solchen Staaten, bei denen es begründete Zweifel an der demokratischen Legitimation der jeweiligen Staatspräsidenten gibt. Ich fühle mich allerdings auch nach den jüngsten Entwicklungen in Österreich in meiner Zurückhaltung sehr bestätigt, was die vermeintliche Überlegenheit von plebiszitären Wahlverfahren gegenüber repräsentativen Verfahren betrifft. Oder mit anderen Worten: Ich bin heilfroh, dass wir in Deutschland den Bundespräsidenten in einer eigens zu diesem Zweck zusammengerufenen Bundesversammlung wählen und nicht in einer Direktwahl.
    Detjen: Die nächste haben Sie ja schon einberufen – da kommen wir vielleicht auch noch drauf zu sprechen. Aber dieser Siegeszug der Rechtspopulisten in Österreich, den wir da zurzeit beobachten, ist ja Teil einer europäischen Dynamik, die auch Deutschland erreicht hat. Diejenigen, die seit Jahrzehnten Träger, Akteure der parlamentarischen Demokratie war, erleiden flächendeckend einen Vertrauensverlust. Wo sehen Sie die Ursachen?
    Lammert: Die Ursachen sind sicher in jedem Land etwas unterschiedlich, auch wenn es diesen von Ihnen beschriebenen allgemeinen Trend überall in Europa zu beobachten gibt. In Deutschland hat er sicher auch damit zu tun, dass wir im Deutschen Bundestag auch und gerade bei den großen in der Öffentlichkeit jeweils hoch umstrittenen Themen, wie der Serie von Griechenlandhilfen, all dem, was mit der Stabilisierung des Euro als Gemeinschaftswährung zu tun hat, mit der Bewältigung der Flüchtlingsherausforderung, auch mit dem Ukraine-Konflikt, dem Verhältnis zu Russland, das da mit angesprochen ist, erstaunlich breite parlamentarische Mehrheiten haben, die jeweils deutlich ausgeprägt größer sind, als die Mehrheiten in der Bevölkerung für die jeweilige Politik. Das kann man – und ich tue das auch – als ein Zeichen einer reifen parlamentarischen Kultur kommentieren. Aber wahr ist natürlich auch, dass sich durch solche breiten, bis in die Opposition hinein erkennbaren Mehrheiten für eine durchaus kontrovers diskutierte Politik, dann ein beachtlicher Teil der Öffentlichkeit in diesem Parlament im wörtlichen Sinne nicht repräsentiert fühlt und damit ein Ventil sucht, das sich in Gestalt von anderen Politikangeboten entlädt.
    "Der Zweck von Wahlen besteht darin, dem Wählerwillen Ausdruck zu verleihen"
    Detjen: Wenn wir die Debatte über die AfD jetzt konkret verfolgen, dann ist sie aus Sicht – das ist ja vielleicht verständlich – der Parteien, die im Bundestag vertreten sind im Augenblick, auch aus Sicht vieler von uns in den Medien, sozusagen parlamentarisches Worst-Case-Szenario. Aus Ihrer Sicht müsste sie dann entweder Teil einer europäischen Normalität oder Korrektur einer repräsentativen Demokratie sein, die da eine Lücke gelassen hat in den letzten Jahren?
    Lammert: Jedenfalls besteht der Zweck von Wahlen darin, dem Wählerwillen Ausdruck zu verleihen. Und selbstverständlich müssen dann die Entscheidungen respektiert werden, die der Wähler trifft. Wir beobachten ja seit geraumer Zeit – lange auch vor dem Auftreten tatsächlicher oder vermeintlicher populistischer Strömungen –, dass die Parteienbindungen deutlich zurückgehen. Deswegen ist das Ergebnis von Wahlen auch viel offener, als das über lange Strecken in der Nachkriegsgeschichte der Fall gewesen ist. Und deswegen sollte man Veränderungen, Ergänzungen, die es dann im Parteiensystem gibt, weder in ihrer Bedeutung überschätzen, noch sollte man sie banalisieren. Und dass sich im Übrigen aus dem Einzug einer Partei in ein Parlament oder in Landtage oder gegebenenfalls in den Bundestag auch noch keine sichere Prognose für die weitere Entwicklung herleiten lässt, zeigt die höchst unterschiedliche Entwicklung der Grünen auf der einen Seite und der Piraten auf der anderen Seite.
    Detjen: Ich würde gerne noch einmal auf den Begriff des Populismus zurückkommen, den Sie gerade sich nicht ganz zu Eigen gemacht haben, Sie haben gesagt "tatsächlicher" oder "vermeintlicher Populismus". Ist das ein Begriff, mit dem Sie nichts anfangen können? Wie würden Sie ihn definieren? Und würden Sie, wenn wir jetzt auf die politische Landschaft in Deutschland schauen, die AfD als eine populistische Kraft, als Teil einer europäischen populistischen Bewegung eingruppieren?
    Lammert: Ja, ich persönlich nehme sie schon so wahr. Aber Sie haben da zu Recht bei mir eine Zögerlichkeit gegenüber diesem Begriff festgestellt, weil ich doch auch wieder zur Kenntnis nehmen muss, dass für eine beachtliche Zahl von Wählerinnen und Wählern dies ein jedenfalls angemessener Adressat ihrer Erwartungen an Politik ist. Und im Übrigen finde ich in hohem Maße aufschlussreich und übrigens auch plausibel, dass nach den drei Landtagswahlen, die vor wenigen Wochen in Rheinland-Pfalz, Sachen-Anhalt und Baden-Württemberg stattgefunden haben – jeweils mit erstaunlichen Ergebnissen für die AfD –, Dreiviertel dieser Wählerinnen und Wähler erklären, sie hätten damit nicht die Politik dieser Partei unterstützen wollen, sondern ein Signal ihres Protestes gegen das Politikangebot der etablierten Parteien setzen wollen. Das macht genau wieder diesen Ventileffekt deutlich, von dem ich vorhin gesprochen habe.
    Detjen: Deuten wir es mal gerne auch weiter: Vielleicht nicht nur Protest gegen Parteien, sondern gegen ein politisches Establishment, zu dem auch wir, die wir beide hier sitzen – Politik und Medien –, auch gezählt werden. Was – in diesem Sinne gefragt – haben wir falsch gemacht?
    Lammert: Zunächst bestätige ich ungern den Befund. Auch nach meiner Wahrnehmung haben wir zum ersten Mal die Situation, dass es nicht nur ein artikuliertes Misstrauen gegenüber der politischen Klasse gibt, sondern dass die Medien in diese politische Klasse gewissermaßen eingerechnet werden und ihnen ein ähnlich prinzipieller – prinzipieller! – Vorbehalt begegnet, wie er gegenüber Parteien, Parlamenten, politischen Institutionen geltend gemacht wird. Ja, was haben wir falsch gemacht? Also, aufseiten der Politik bedienen wir sicher nicht ausreichend das Erklärungsbedürfnis bei den Themen, mit denen wir nun mal zu tun haben und die allesamt so komplex geworden sind, dass es natürlich gerade die Patentlösungen nicht gibt, die man sich am liebsten vorstellen möchte, bei denen aber dann umgekehrt deutlich gemacht werden muss, warum diese vermeintlichen Patentlösungen nicht funktionieren. "Griechenland raus aus dem Euro", "Zäune wieder hoch", Obergrenzen für Flüchtlinge" und was auch immer da an solchen scheinbaren Patentlösungen in der Diskussion ist. Die Politik weigert sich zu Recht, solche Erwartungen schlicht umzusetzen, weil sie dem Rang dieser jeweiligen Herausforderung nicht gerecht werden, aber sie bedient zu wenig das damit verbundene Erklärungsbedürfnis. Bei den Medien – tja – kann und wird die Gewissenserforschung hoffentlich auch in den eigenen Reihen gründlich stattfinden.
    Detjen: Das wird viel diskutiert – auch bei uns im Haus.
    Lammert: Ja, klar. Denn der Vorwurf einer notorisch falschen Berichterstattung ist nach meiner festen Überzeugung unbegründet, aber allein der Umstand, dass er erhoben wird, ist natürlich ein hochrelevantes Faktum. Ob allerdings die Prioritäten in der Berichterstattung, sowohl was die Themen wie die Art des Umgangs mit den Themen angeht, den Ansprüchen genügen, die das Publikum in diesem Fall an die Medien im Umgang mit relevanten politischen Entwicklungen heranträgt, gehört sicher auch zu den aufklärungsbedürftigen Sachverhalten.
    Detjen: Können Sie konkretisieren? Haben Sie ein Beispiel?
    Lammert: Ja, ich habe ja immer wieder kritisiert, dass mir der Trend missfällt, der vor allen Dingen natürlich durch die Dominanz der elektronischen Medien in den letzten Jahren entstanden ist und der durch den Vorrang der Schnelligkeit der Informationsvermittlung gegenüber der Gründlichkeit der Ermittlung von Sachverhalten geprägt ist, wo immer mehr Bilder dominieren und immer weniger die jeweiligen Sachverhalte, wo die Überschriften immer größer und der analytische Teil eher immer bescheidener wird und wo vor allen Dingen im elektronischen Bereich wie im Printbereich das Unterhaltungsbedürfnis Vorrang vor dem Informationsbedarf hat.
    Detjen: Ich will nicht sagen, dass wir hier nicht auch unterhaltsam sein wollen, aber wir wollen auch informieren, diskutieren. Deshalb noch einmal der Blick zurück auf die Politik, auf die Parteien, auf Ihre Partei, Herr Lammert. Die CDU hat am rechten Rand einen konservativen Rand ihres Wählerspektrums Raum freigemacht für Positionen, die jetzt die AfD ganz konkret und erfolgreich besetzt – wäre das vermeidbar gewesen?
    Lammert: Im technischen Sinne ganz sicher. Aber damit verbindet sich ja die auch wieder sehr prinzipielle Frage: Soll eine Partei in erster Linie die Auffassungen vertreten, von denen sie vermutet, dass sie ein beachtlicher Teil ihrer Wählerinnen und Wähler von ihr erwartet? Oder soll eine Partei in erster Linie die Antworten auf die jeweils drängenden Fragen geben, die ihr politisch am ehesten überzeugend erscheinen, mit der sich anschließenden damit verbindenden Aufgabe, dafür Mehrheiten zu suchen? Mir wird in der Zwischenzeit in bisschen zu häufig der erste Mechanismus als der einzig mögliche ausgegeben. Parteien haben aber natürlich auch eine ausdrückliche Aufgabe, Antworten auf komplexe Fragen zu entwickeln, auch und gerade dann, wenn es dafür nicht bereits eine erkennbare Erwartung oder gar Mehrheit in der Bevölkerung gibt. Und dass die Art der Antworten, die nicht nur meine Partei, aber eben auch meine Partei zu den aktuellen Fragen der Vergangenheit gegeben hat, einen beachtlichen Teil der Wählerschaft nicht überzeugen, lässt sich schwerlich bestreiten. Da sind wir dann aber auch wieder bei dem Aspekt, den ich vorhin genannt habe, dann ist offenkundig auch unsere Erklärung nicht ausreichend gewesen.
    Ansgar Rossi und Norbert Lammert, CDU, Präsident des Deutschen Bundestages.
    Stephan Detjen und Norbert Lammert, CDU, Präsident des Deutschen Bundestages. (Deutschlandradio/A. Rossi )
    Detjen: Und dann treten eben neue Parteien auf, treten im Parlamente ein, so wie wir das jetzt erlebt haben. Sie haben die letzten Landtagswahlen erlebt in Baden-Württemberg, auch dort die AfD jetzt als drittstärkste Kraft im baden-württembergischen Landtag, und trotzdem haben ihr die anderen Parteien nicht so, wie das früher auch in diesem Landtag üblich war, einen Sitz im Landtagspräsidium gegeben. Die anderen Parteien haben extra mit Blick auf die AfD die Zahl der stellvertretenden Parlamentspräsidenten im baden-württembergischen Landtag auf zwei reduziert und die größte Oppositionspartei nicht berücksichtigt. Ist das in Ihren Augen ein richtiger, ein zulässiger Umgang mit der größten Oppositionspartei?
    "Wir sind mit den rund 600 gesetzlichen Mitgliedern des Bundestages in einer sehr vernünftigen Größenordnung"
    Lammert: Formal ist es ganz offenkundig, mit Blick auf die Geschäftsordnung des baden-württembergischen Landtages, zulässig. Glücklich finde ich das überhaupt nicht. Man muss einem Parlament natürlich die Möglichkeit lassen – auch der Deutsche Bundestag hat davon in vergleichbaren Situationen gebrauch gemacht –, sich zu konkret vorgeschlagenen Personen bestimmter Fraktionen mit Mehrheit zu entscheiden oder sie mit Mehrheit abzulehnen. Aber im Präsidium eines Parlamentes muss selbstverständlich außer der Koalition auch die Opposition vertreten sein. Und deswegen muss unabhängig von der Frage der Personen oder sollte dieser Anspruch eigentlich unstreitig sein.
    Detjen: Auch der Bundestag dürfte, wenn sich nicht grundlegend etwas ändert an dem, was uns die Meinungsumfragen vorhersagen, im nächsten Jahr ja nach der Bundestagswahl mit dieser Situation konfrontiert sein: eine neue Partei – die AfD – im Bundestag vielleicht, jedenfalls nach dem Stand der jetzigen Meinungsumfragen, möglicherweise auch als größte Oppositionsfraktion. Nun hat sich der Bundestag auch in der zurückliegenden Wahlperiode angesichts der großen, übergroßen Mehrheit der Großen Koalition mit den Rechten der parlamentarischen Minderheit beschäftigt, hat Vereinbarungen getroffen, mit Blick auf diese besondere Situation, die aber ganz bewusst zum Teil nicht in Gesetzesform gegossen wurden, sondern aufgrund von untergesetzlichen Verabredungen – teilweise Geschäftsordnung, teilweise Verabredungen im Ältestenrat – beruhen. Das heißt, die kann man auch ganz leicht wieder zurücknehmen. Es geht aber um Grundsatzfragen des Parlamentarismus dabei. Sollten die beibehalten werden, unabhängig davon, wie der nächste Bundestag – auch mit Blick auf die AfD – aussieht?
    Lammert: Gerade weil wir davon überzeugt sind, dass solche Grundsätze, auch was das Verhältnis von Mehrheiten zu Minderheiten angeht, nicht von Wahlergebnissen abhängig gemacht werden dürfen, haben wir nach einer kurzen, auch durchaus heftigen Auseinandersetzung zu Beginn dieser Legislaturperiode, uns darauf verständigt, dass wir keine der bestehenden gesetzlichen Regelungen verändern und schon gar nicht verfassungsrechtliche Änderungen vornehmen. Die im Übrigen vor wenigen Wochen ja auch die Linke vergeblich beim Bundesverfassungsgericht eingefordert hat, das in sofern die Entscheidung des Bundestages eindrucksvoll bestätigt hat. Sondern wir haben uns darauf verständigt, dass wir in dieser Legislaturperiode eine Handhabung praktizieren, die sicherstellt, dass die beiden Oppositionsfraktionen zusammen alle Minderheitenrechte geltend machen können, die an bestimmte Zahlen, Größenordnungen gebunden sind, obwohl sie in dieser Legislaturperiode diese Größenordnung gar nicht erreichen. Wir stellen sie insofern ganz bewusst und ausdrücklich besser, als das der geltenden Rechtslage oder Verfassungslage entspricht. Ich glaube, man wird lange laufen müssen in Europa und schon gar außerhalb Europas, um ein zweites Parlament zu finden, das sich zu einer solchen klugen und gleichzeitig generösen Regelung bereitfinden würde.
    Detjen: Aber die Frage, die ich Ihnen gestellt habe, ist ja: Ist das eine Regelung, die man jetzt getroffen hat, weil man findet, Grüne sowieso und Linkspartei inzwischen auch, sind gute Opposition, wenn die AfD da wäre, dann wäre es schlechte Opposition, dann ist man nicht mehr so generös?
    Lammert: Also, auch und gerade solche ad hoc Entscheidungen entwickeln ja eine gewisse Eigendynamik. Das heißt, würde in der nächsten Legislaturperiode eine solche Situation entstehen – was ja keineswegs sicher ist, vor allen Dingen ist keineswegs sicher, dass es wieder eine Große Koalition gibt, der dann wiederum kleine Oppositionsfraktionen gegenüberstehen –, mein Eindruck ist, dass bei beiden größeren Parteien die Begeisterung zur Fortsetzung dieser Konstellation sich in sehr überschaubaren Grenzen hält.
    Detjen: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wäre es für ein parlamentarisches System auch nicht schlecht, wenn die Große Koalition kein Dauerzustand wäre?
    Lammert: Nein, ganz im Gegenteil. Ein Teil der Entwicklungen, die wir vorhin diskutiert haben, hängen ja auch ursächlich mit den Mehrheitsverhältnissen zusammen, die wir unter den Bedingungen einer Großen Koalition nun einmal typischerweise haben. Aber noch mal, wenn es eine ähnliche Konstellation in der nächsten Legislaturperiode geben sollte, würde man ganz sicher die Regelungen, die wir für diese Legislaturperiode getroffen haben, erneut diskutieren. Ob man sie dann braucht und ob man sie in genau der gleichen oder in einer ähnlichen Weise wieder beschließen würde, das muss man dann allerdings dem nächsten Bundestag überlassen.
    Detjen: Eine andere Änderung wünschen Sie sich noch, mit Blick auf die nächste Legislaturperiode, nämlich eine Änderung im Wahlrecht, mit Blick auf das komplizierte System der Überhangmandate und der daraus resultierenden Ausgleichsmandate für andere Parteien. Der Bundestag – das ist die Befürchtung, die dahintersteht – könnte bei einer nächsten Wahl durch dieses System von Überhang- und Ausgleichsmandaten auf die Größe von 700 oder mehr Abgeordneten anwachsen – im Augenblick sind es 631. Was ist in Zeiten, in denen man es mit großen Problemen zu tun hat, schlecht an einem großen Parlament?
    Lammert: Also, ich habe noch niemanden getroffen, der die Auffassung vertritt, ein Parlament werde umso leistungsfähiger, je mehr Mitglieder es habe. Wenn das so wäre, müsste der chinesische Volkskongress das mit Abstand leistungsfähigste Parlament der Welt sein – es hat 3.000 Mitglieder.
    Detjen: Das hat aber vielleicht andere Ursachen – das hat vielleicht etwas mit Demokratie und Wahlen zu tun.
    Lammert: Eben. Umgekehrt ist sicher auch wahr, dass ein Parlament eine Mindestgröße haben muss, um die Vielzahl der Aufgaben, vor allen Dingen auch in der Kontrolle der Regierung mit ihren Ministerien, ihren nachgeordneten Behörden, überhaupt mit Aussicht auf Erfolg wahrnehmen zu können. Wir sind nach meiner Überzeugung mit den rund 600 gesetzlichen Mitgliedern des Bundestages da in einer sehr vernünftigen Größenordnung. Und es ist ja auch kein Zufall, dass wir vor einigen Jahren die zwischenzeitliche Vergrößerung des Bundestages durch die Einbeziehung von Abgeordneten der Volkskammer nach der Wiedervereinigung wieder zurückgeführt haben, weil wir die damals über 670 Mitglieder des Deutschen Bundestages als eher zu viel, jedenfalls unnötig viel empfunden haben. Jetzt befinden wir uns in einer Situation, wo durch die letzten Korrekturen des Wahlrechts – wiederum verursacht durch einige Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts – wir eine gar nicht kalkulierbare Zahl von Mandaten haben. Und das ist ein, wie ich finde, sowohl praktisches wie grundsätzliches Problem. Ich kann schwer erklären, wie oder warum die Wählerinnen und Wähler sich an einer Wahl beteiligen sollen, bei der sie nicht einmal wissen, wie viel Mandaten sie überhaupt verteilen, denn das erfahren sie abends erst nach Auszählen der Stimmzettel. Und dann kann es weit mehr als die 598 sein, die im Wahlrecht eigentlich zugrunde gelegt werden. Also, es gibt schon gute Gründe, möglichst sicherzustellen, dass eine bestimmte, für akzeptable gehaltene Höchstzahl von Mandaten nicht überschritten wird.
    Detjen: Nun haben Sie einen Veränderungsvorschlag gemacht und es würde jetzt vielleicht den Rahmen sprengen, da noch weiter in die Details zu gehen, aber er ist deswegen auf Kritik gestoßen, weil er – ungewöhnlich genug – so haben das die Kritiker gesagt: im Alleingang vom Bundestagspräsidenten auf den Tisch gelegt worden ist, ohne hinreichende Abstimmung und weil er – das ist, glaube ich, unumstritten – nach allem, was man voraussehen kann, vor allem Ihre eigene Partei, die CDU, begünstigen würde.
    "Probleme werden selten dadurch einfacher, dass man sie vertagt"
    Lammert: Also, was den Alleingang betrifft, ist es ein mit den Fraktionsvorsitzenden vereinbarter Alleingang gewesen. Und alle Fraktionsvorsitzenden haben mir der Reihe nach ausdrücklich bestätigt, dass sie meine Einschätzung teilen, dass wir hier nicht ein eingebildetes, sondern ein tatsächliches Problem haben, nicht zu wissen, aus wie vielen Sitzen, aus wie vielen Mandaten der nächste Bundestag besteht. Und dann bin ich von den Fraktionsvorsitzenden gemeinsam beauftragt worden, einen Vorschlag zu machen, wie denn gegebenenfalls dieses Risiko, dieses Problem begrenzt werden kann. Sodass wir jetzt die Situation haben, dass alle bestätigen, dass wir hier dringend eine Lösung brauchen, aber keiner so richtig gerne die Lösung umsetzen möchte, die ich vorgeschlagen habe, die aber der mit Abstand geringste Eingriff in unser geltendes Wahlrecht ist, der von allen bislang gemachten Vorschlagen überhaupt zu registrieren ist. Was die vermeintliche Begünstigung angeht, muss man auf Folgendes hinweisen: In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es aufgrund der Konstruktion unseres Wahlsystems immer Überhangmandate gegeben – mal mehr und mal weniger. Und bis vor wenigen Jahren ist über die Legislaturperioden verteilt, die Anzahl der Überhangmandate bei CDU/CSU und SPD fast identisch gewesen. Erst in jüngerer Zeit hat sich die Entwicklung in der Weise gespreizt, wie wir sie jetzt auch im Augenblick bei den Umfragen erleben, dass der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD zehn oder mehr Prozentpunkte beträgt, mit der Wahrscheinlichkeit, dass es dadurch auch eher Überhangmandate für die Union als Überhangmandate für die SPD geben könnte. Aber noch mal: Wahlrecht macht man nicht für aktuelle Umfragen, auch nicht für eine Legislaturperiode, sondern macht man eigentlich, ich will nicht sagen für die Ewigkeit, aber doch für eine überschaubare Zukunft. Und da kann mit Blick auf Überhangmandate nicht wirklich geltend gemacht werden, dass sie prinzipiell eine Partei begünstigten oder andere benachteiligten.
    Detjen: Das Deutschlandfunkinterview der Woche mit dem Bundestagspräsidenten, mit Norbert Lammert. Am Ende unseres Gesprächs, Herr Präsident, noch mal ein Themenwechsel: Thema "Türkei". Die Bundeskanzlerin reist an diesem Sonntag wieder mal nach Istanbul, zumindest ist das zu dem Zeitpunkt, zu dem wir jetzt miteinander sprechen, so angekündigt – man weiß nie, was sich da in diesem komplizierten Verhältnis von Stunde zu Stunde ändert. Auch der Bundestag aber droht, die heikle Diplomatie der Bundeskanzlerin, der Europäischen Union mit der Türkei zu stören, wenn er, wie angekündigt, Anfang Juni eine Resolution verabschiedet, in der das Massaker an den Armenieren vor 101 Jahren als Völkermord verurteilt wird. Das wird die Türken noch mal auf die Barrikaden bringen. Sind Sie sicher, dass der Bundestag, wenn er das so beschließt, sich der ganzen Konsequenzen dieser Entscheidung für Deutschland, für Europa bewusst ist?
    Lammert: Ich war schon vor einem Jahr der Meinung, dass es klüger gewesen wäre, eine Überzeugung, die im Deutschen Bundestag eine erkennbar ganz breite mehrheitliche Unterstützung hat, auch zu formulieren und nicht mit noch so gut gemeinten Rücksichten, auf welche Empfindlichkeiten auch immer, vor sich herzuschieben.
    Detjen: Vor einem Jahr wäre es vielleicht besser gewesen, da war der hundertste Jahrestag.
    Lammert: So, und mit ähnlicher Begründung würden wir es jetzt ...
    Detjen: Man hat es damals nicht gesagt – jetzt wäre der mögliche Schaden jedenfalls umso größer.
    Lammert: Ja. Und das heißt eben umgekehrt, Probleme werden im richtigen Leben wie in der Politik selten dadurch einfacher, dass man sie vertagt, sondern dass man sich zu ihnen verhält. Und in dieser Frage gibt es eine besondere deutsche Betroffenheit, weil an den Ereignissen, die damals in dieser Region stattgefunden haben, das Deutsche Reich leider in einer heftigeren, auch aktiveren Weise beteiligt war als uns das lieb sein mag. Wir haben ... das Deutsche Reich, die deutsche Regierung hat damals von diesen Entwicklungen Kenntnis gehabt und hat wiederum aus Opportunitätsgründen darauf verzichtet, den eigenen Einfluss gegen dieses Abschlachten geltend zu machen. Und deswegen, wir hätten uns wechselseitig – sowohl was das Verhältnis Parlament zu Regierung wie was das Verhältnis Deutschland zu Türkei und Armenien betrifft – vermutlich einen größeren Gefallen getan, wenn wir im vergangenen Jahr zu den eigenen Einsichten auch gestanden hätten, statt die gut gemeinten Rücksichten zu nehmen, die uns nun ein Jahr später erwartungsgemäß wieder einholen.
    Detjen: Herr Präsident, vielen Dank für dieses Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.