Annalena Baerbock ist Kanzlerkandidatin der Grünen. Auf dem digitalen Parteitag wurde sie am 12. Juni 2021 zusammen mit Robert Habeck mit großer Mehrheit als Wahlkampf-Spitzenduo bestätigt. Bei der Wahl gab es 678 Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen und vier Enthaltungen.
Baerbock ist die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte der Grünen. Zuletzt hatten die Bündnisgrünen von 1998 bis 2005 im Bund regiert – damals als Juniorpartner der SPD.
Am 13. Juni 2021 wurde das Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl verabschieden – mit deutlicher Mehrheit. Die Delegierten votierten mit 696 von 710 abgegebenen Stimmen (98 Prozent) für das Programm mit dem Titel "Deutschland. Alles ist drin", das den Fokus auf Klimaschutz und sozialen Ausgleich legt.
Baerbock war bereits im April von Habeck als Kanzlerkandidatin präsentiert worden. Die beiden Vorsitzenden hatten die K-Frage unter sich ausgemacht.
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Die Politik brauche Mut, vieles anders zu machen, sagte Baerbock bei ihrer ersten Rede als Kandidatin im April. Sie stehe für eine Veränderung hin zu einem gerechteren Land, in dem Kitas und Schulen die schönsten Orte seien, in dem Pflege Zeit für die Menschen habe und in dem der Staat auch digital funktioniere. Der Klimaschutz müsse in allen Bereichen beachtet werden, um ein zukünftiges Fundament für Wohlstand und Sicherheit zu schaffen.
Das Wahlprogramm der Grünen gehe stark auf die politischen Linien der Vorsitzenden Baerbock und Habeck zurück,
erklärte Dlf-Hauptstadtkorrespondent Klaus Remme. [AUDIO]
. Zielgruppe sei dabei die gesamte Breite der Gesellschaft und nicht nur die grüne Kernklientel. Die Kanzlerkandidatin Baerbock passe ihren Auftritt und ihre Sprache auch entsprechend an. Auf dem Parteitag habe sie immer wieder die "lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger" adressiert. "Das ist kein Parteitagssprech, das zielt eindeutig auf Mehrheiten in der Gesellschaft", sagte Remme.
Vor der Wahl zur Parteivorsitzenden 2018 war Baerbock nur Insidern bekannt. Sie stammt aus Hannover und hat Völkerrecht studiert. Später zog sie nach Brandenburg, wo sie von 2009 bis 2013 Landesvorsitzende der Grünen war, bevor sie Bundestagabgeordnete wurde. Bei den gescheiterten Jamaika-Sondierungen machte sie sich nicht nur in der Klima-, sondern auch in der Europapolitik einen Namen. Im Januar 2018 wählte die Partei sie neben Robert Habeck zur Vorsitzenden. Die studierte Politologin hat bislang keine Regierungserfahrung und stand am Anfang ihrer Amtszeit im Schatten des zehn Jahre älteren Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Sie habe sich allerdings Schritt für Schritt Augenhöhe erarbeitet, meint Klaus Remme. Zudem sei sie fachlich versiert und präzise in der Sprache bis zur Detailverliebtheit.
Dass Baerbock das Kanzleramt übernehmen möchte, hält der Politologe Thorsten Faas für "sehr, sehr bemerkenswert"
. Im Interview mit dem Deutschlandfunk betonte er, dass die Tatsache ihrer fehlenden Regierungserfahrung die Kandidatur der Politikerin sicherlich begleiten werde und sie angreifbar mache. "Ich glaube, das Kanzleramt ist etwas, das von der Dimensionierung her noch mal ganz anders ist als auch ein Ministeramt", so Faas.
In einem Podcast der "ZEIT" wurde Baerbock im Februar gefragt, woher ihr Selbstvertrauen für Ambitionen auf ein so hohes Amt komme. Ihre Antwort:"Ich komm’ ja auch aus dem Sport – aus dem Trampolin – und weiß von daher: Immer wenn man etwas Neues lernen will, etwas Neues schaffen will, dann muss man auch den Mut haben, den Absprung zu schaffen, weil ansonsten wird sich nichts verändern und man lernt auch nichts dazu."
Die ersten Wochen als Kanzlerkandidatin der Grünen sind für Annalena Baerbock nicht ohne Blessuren geblieben. Verspätet gemeldete Nebeneinkünfte, mehrere Korrekturen am eigenen Lebenslauf, eine unglückliche Benzinpreis-Debatte, Attacken der politischen Konkurrenz – und eine Lobbykampagne.
Lebenslauf und Nebeneinkünfte
Baerbock musste im Mai einräumen, dass sie über Jahre vergessen hatte, Weihnachtsgeld ihrer Partei beim Bundestag als Nebeneinkünfte anzumelden. Ihren Lebenslauf musste sie mehrmals leicht korrigieren. Baerbock hatte auf ihrer Website bis vor kurzem unter anderem angegeben, sie sei Mitglied des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR, obwohl diese Organisation gar keine Einzelpersonen aufnimmt. Tatsächlich unterstützt sie die Arbeit des UNHCR finanziell. Baerbock hat ihren Umgang mit dem Lebenslauf und Nebeneinkünften mehrmals als Fehler benannt, auch nochmal auf dem Parteitag am 12. Juni.
Aus diesem Parteitag sei sie gestärkt hervorgegangen, meint Dlf-Hauptstadtkorrespondent Klaus Remme. Es habe ein starkes Gefühl in der Partei gegeben, sich die eigene Spitzenkandidatin nicht von außen zerreden zu lassen. Baerbock sei allerdings auf dem Parteitag nicht ideal in Szene gesetzt gewesen, sei kaum anwesend gewesen vor ihrer Rede. Mit einem früheren Auftritt hätte sie sich mehr freikämpfen können, sagte Remme, so sei sie bei ihrer Rede noch sehr angespannt gewesen.
Benzinpreis-Debatte
Zu den Vorwürfen über Nebeneinkünfte kam für Baerbock noch eine Benzinpreis-Debatte, die die Grünen unvorbereitet traf. Plötzlich sahen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie wollten für den Klimaschutz den Benzinpreis bis 2023 um 16 Cent erhöhen, ohne sozialen Ausgleich. Auch von der SPD und der Union wurde Baerbocks Vorstoß scharf kritisiert. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sagte der Bild-Zeitung: "Wer jetzt einfach immer weiter an der Spritpreisschraube dreht, der zeigt, wie egal ihm die Nöte der Bürgerinnen und Bürger sind."
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter hat Baerbocks Vorstoß gegen die Kritik verteidigt. Hofreiter warf den aktuellen Regierungsparteien vor, sie hätten gerade ein höheres Klimaziel beschlossen, verweigerten aber die Umsetzung ihrer Beschlüsse. Jetzt zündeten stattdessen eine "populistische Benzinwutkampagne". Die Grünen hätten sehr wohl sozialen Ausgleich im Programm.
Auch der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, Sascha Müller-Kraenner, mischte sich in die Debatte ein und erklärte: "Niemand kann für Klimaschutz sein und gleichzeitig Autofahrern versprechen, es werde sich nichts ändern und es dürfe nichts teurer werden."
Die Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) hat zum Parteitag der Grünen in gedruckten Ausgaben und auf Websites deutscher Tageszeitungen Anzeigen gegen das Wahlprogramm der Grünen geschaltet. Die Kampagne zeigt das Gesicht der Grünen-Vorsitzenden und designierten Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, das auf einen Körper im Moses-Gewand retuschiert ist, der zwei Steintafeln mit zehn Geboten hält. Je nach Anzeigen-Version ist das Bild versehen mit Slogans wie "Warum wir keine Staatsreligion brauchen" oder "Warum uns grüne Verbote nicht ins Gelobte Land führen".
Die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie finanzierte Gesellschaft führt dann mehrere Themen auf, in denen die Grünen die Deutschen angeblich mit Verboten gängeln wollten. "Alle Verbote lassen sich so durch den grünen Programmentwurf belegen", twitterte die INSM am Freitag. Doch nach einer Analyse der Deutsche Presse-Agentur stimmt das nicht. So benennt die Kampagne eines der grünen Verbote als "Du sollst nicht fliegen". Tatsächlich verbieten wollen die Grünen dem Wahlprogramm zufolge allerdings nur Nachtflüge – aus Lärmschutzgründen.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat sich inzwischen von der Kampagne distanziert. Auch von zahlreichen christlichen Organisationen kommt Kritik. Dabei wird die Nutzung der biblichen Figur Moses von Kritikern als antisemitisch bezeichnet.
Der zwischenzeitliche Höhenflug der Grünen ist erstmal vorbei und damit sind auch Baerbocks Chancen auf das Kanzleramt geschwunden. Im Mai lagen die Grünen mit der Union kurzzeitig gleichauf, im August 2021 liegen sowohl SPD als auch CDU/CSU vor den Grünen.
Die Chancen der Partei auf der Kanzleramt werden auch dadurch geschmälert, dass die Grünen im Saarland nicht wählbar sein werden. Der Landesverband hatte es nicht geschafft, eine rechtliche unangreifbare Kandidatenliste aufzustellen. Der Auschluss wird die Grünen etwa 0,2 Prozent des bundesweiten Zweitstimmenanteils kosten.
Nach der Einschätzung von Dlf-Hauptstadtkorrespondet Frank Capellan hat Armin Laschet die besten Chancen auf das Kanzleramt
, die Grünen seien aber neben der FDP als Königsmacher relevant. Es werde wohl auf ein Dreierbündnis rauslaufen, am wahrscheinlichsten sei ein Jamaika-Bündnis (CDU, Grüne, FDP) oder die Ampel-Koalition (SPD, FDP, Grüne) – sowohl Grüne als auch FDP favorisierten Jamaika.
Quellen: Dlf, Klaus Remme, Fabian May, Jan-Martin Altgeld, dpa, rtr, tei, pto