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Bundestagswahl 2021
Politologe: SPD und Union verantworten den aufgeblähten Bundestag

Knapp 800 Abgeordnete könnte der Bundestag nach der Wahl haben, 200 mehr als eigentlich vorgesehen. Das Wahlrecht brauche dringend eine Reform, sagte der Politikwissenschaftler Frank Decker im Dlf. Doch die Parteien der amtierenden Großen Koalition seien dazu nicht bereit.

Frank Decker im Gespräch mit Friedbert Meurer |
Der leere Plenarsaal des Deutschen Bundestages ist von der Fraktionsebene aus zu sehen.
709 Abgeordnete sitzen aktuell im Bundestag (picture alliance/dpa/Christoph Soeder)
Nach der Bundestagswahl am 26.9.2021 könnte der Bundestag knapp 800 Abgeordnete haben, aktuell sind es 709. Dabei sollten eigentlich nur 598 Parlamentarier im Reichstagsgebäude abstimmen, durch Überhang- und Ausgleichsmandate wird der Bundestag allerdings vergrößert. Ein neues Wahlrecht sollte das Wachstum des Bundestags dämpfen, doch das sei "ohne jeden Erfolg" gewesen, sagte der Politikwissenschaftler Frank Decker von der Universität Bonn im Deutschlandfunk.
Die Opposition aus Grünen, FDP und Die Linke habe einen Entwurf für das Wahlrecht vorgelegt, der die Größe bei 630 gedeckelt hätte, und dieser Entwurf sei "konsensfähig" gewesen. Doch "Union und SPD waren nicht bereit, sich da zu bewegen", sagte Decker. Den Parteien sei an einer Verkleinerung des Bundestags nicht gelegen, denn unter den aktuellen Bedingungen könnten sie trotz Stimmverlusten ihre Mandate erhalten.
Im geltenden Wahlrecht werden zudem zwar fast alle Überhangmandate ausgeglichen, aber nicht alle. Für drei Mandate gibt es keinen Ausgleich. Wer davon profitiere sei vor der Wahl unklar, aber: "Die Wahrscheinlichkeit, dass es die Unionsseite ist, die davon profitiert, ist ziemlich groß", sagte Decker.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Meurer: Wir lesen, dass die Gefahr aus Bayern kommt. Jedes Überhangmandat in Bayern – und man rechnet damit, dass es da eine ganze Reihe geben wird – löst 18 Ausgleichsmandate aus, man mag es kaum glauben. Warum so viele? Wenn es zwölf Überhangmandate gibt, das kann man sich ausrechnen, 12 mal 18, da sind wir bei 200 Ausgleichsmandaten.
Decker: Die Erklärung liegt im Grunde darin, dass die CSU ja nur in Bayern antritt und deshalb hat sie einen sehr geringen Zweitstimmenanteil, wenn man das auf die Bundesebene umrechnet. Legt man die jetzigen Prognosen zugrunde, die sie in Bayern bei unter 30 Prozent sehen, würde sie bundesweit sogar unter die Fünfprozenthürde fallen. Das heißt, die Diskrepanz, der Unterschied zwischen den Direktmandaten und dem Zweitstimmenergebnis ist bei der CSU besonders groß. Und da kommt eine Entwicklung noch dazu, dass durch das Erstarken der SPD die CSU jetzt sogar noch bessere Chancen hat, in Bayern fast alle Direktmandate zu gewinnen, weil sich ja Grüne und SPD die Stimmen gegenseitig wegnehmen. Dadurch wird eben dieses Gefälle zwischen Erst- und Zweitstimme noch größer – und dann kommt dieser Effekt eben zum Tragen mit dem Ausgleichsmechanismus.

Neues Wahlrecht "ohne jeden Erfolg"

Meurer: Also gerade weil die CSU möglicherweise nur 28 Prozent der Zweitstimmen, sie aber sehr viele Erstmandate – mutmaßlich – bekommen wird, entsteht da diese Diskrepanz, die durch das neue Wahlrecht behoben werden sollte. Sie haben da, ich weiß nicht, ob ich sagen kann mitgearbeitet, aber doch beratend mitgewirkt an diesem Wahlrecht. Sind Sie damit glücklich, was jetzt herausgekommen ist?
Decker: Nein, die Beratung war ohne jeden Erfolg. Da bin ich ja nicht der einzige gewesen bei der Anhörung dieses Gesetzes im Bundestag haben alle Sachverständigen einvernehmlich davon abgeraten, sie haben gesagt, das wird nicht zu einer Verkleinerung führen. Wir müssen ja sehen, wir haben ja jetzt schon 111 Abgeordnete mehr als die Sollgröße. Und Union und SPD haben dann von einer Dämpfung gesprochen, das ist natürlich absurd, wenn wir jetzt davon ausgehen müssen, dass wir vielleicht noch 100 weitere Abgeordnete zusätzlich bekommen werden. Diese Reform verdient den Namen Reform nicht einmal ansatzweise.
Auf einem Stimmzettel zur Bundestagswahl liegt ein Kugelschreiber des Deutschen Bundestages
Wer sind die Direktkandidatinnen und Direktkandidaten?
Mit der Erststimme können Wahlberechtigte gezielt eine Person für ihren Wahlkreis in den Bundestag schicken. Bei dieser Bundestagswahl bewerben sich 3.360 Personen auf ein Direktmandat.
Und man muss wirklich sagen, die beiden Regierungsparteien haben das zu verantworten, denn die Opposition, Die Grünen, die FDP und Die Linke haben zusammen einen Entwurf vorgelegt, der die Größe bei 630 gedeckelt hätte, das war ein konsensfähiger Entwurf, der auch am vollständigen Proporz, das ist ganz wichtig auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten festgehalten hätte, aber Union und SPD waren nicht bereit, sich da zu bewegen – weil sie natürlich mit einem größeren Bundestag auch ganz gut leben können, denn das bedeutet ja, dass wenn man Stimmen verliert, man trotzdem die Mandate behält.

"Je größer der Bundestag wird, umso schwieriger wird eine solche Reform"

Meurer: Da spielte also aus Ihrer Sicht eine Menge Egoismus eine Rolle. Man kann aber auch fragen, was wäre daran so schlimm, wenn wir 800 Abgeordnete haben – abgesehen davon, dass mehr Diäten bezahlt werden müssen und sonstige Bürokosten entstehen.
Decker: Das kann man, denke ich, ganz einfach beantworten. Der Gesetzgeber hat sich ja etwas dabei gedacht, dass er gesagt hat, die Größe des Bundestags soll 598 Abgeordnete sein. Das hat man auch mit Blick auf die Arbeitsfähigkeit des Bundestages gemacht, denn es gibt ja nicht nur das Plenum, sondern es gibt auch die Ausschüsse – und die sollen eben nicht so groß sein. Und wenn der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, macht es ja überhaupt keinen Sinn, in Abhängigkeit quasi vom Zufall eines Wahlergebnisses diese Größenordnung um 100 oder 200 Abgeordnete noch nach oben zu setzen.
Ein rosafarbener Wahlbrief wird in einen gelben Postkasten eingeworfen.
Welche Koalitionen sind denkbar?
Eine künftige Regierungskoalition wird voraussichtlich aus mindestens drei Parteien bestehen müssen. Das legen die aktuellen Umfragewerte zur Bundestagswahl nahe. Doch nicht jedes Bündnis, das rechnerisch möglich erscheint, ist auch inhaltlich denkbar. Ein Überblick.
Es ist also dringend notwendig, eine Reform zu machen, die auf diese ursprüngliche Größe dann wieder zurückgeht. Nur: Je größer der Bundestag wird, umso schwieriger wird eine solche Reform, denn dann müssen ja die Abgeordneten, die jetzt zusätzlich auch wieder hineingekommen sind, gewissermaßen über ihre eigene Abschaffung entscheiden und da werden sie sich schwertun. Und insoweit ist das wirklich eine vertrackte Situation, und man kann nur hoffen, und ich würde auch dem künftigen Kanzler empfehlen, dass er das mit auf die Agenda setzt, dass es jetzt wirklich eine Reform gibt, die das Problem auch an der Wurzel packt.

"Die Wahrscheinlichkeit, dass es die Unionsseite ist, die davon profitiert, ist ziemlich groß"

Meurer: Der vielleicht aufgeblähte Bundestag, von dem wir alle ausgehen, ist das eine Problem. Vielleicht ein noch größeres wäre es, Herr Decker, wenn die Überhangmandate darüber entscheiden, wer Kanzler wird. Eigentlich soll das durch die Ausgleichsmandate vollständig ausgeglichen werden, das wird aber bis auf drei Ausgleichsmandate nicht vollständig abgedeckt. Können diese drei Mandate den Unterschied machen?
Decker: Rein theoretisch ist das durchaus möglich, allerdings wissen wir ja nicht genau, wer diese Überhangmandate dann bekommt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es die Unionsseite ist, die davon profitiert, ist aber ziemlich groß. Die Union wollte ja ursprünglich, dass sieben Mandate nicht ausgeglichen werden, damals lag sie in den Umfragen aber noch deutlich vorne. Die SPD ist ihr dann entgegengekommen, dann hat man diesen Kompromiss gemacht, drei Mandate, und die SPD hätte vermutlich damals selber nicht geglaubt, dass sie sich damit quasi schaden könnte bei einem sehr knappen Wahlergebnis.
Bundestagswahl 2021 - zum Dossier
Das Wichtigste zur Bundestagswahl im Überblick (Deutschlandradio / imago images / Alexander Limbach)
Die Wahrscheinlichkeit – drei ist ja nicht besonders viel – ist nicht so groß, aber was gravierender ist, dass es überhaupt keine inhaltliche Rechtfertigung gibt dafür, dass man ausgerechnet dann drei Überhangmandate nicht ausgleicht. Und das wird auch ein Element dieser Reform sein, ich vermute, dass das auch verfassungsgerichtlich keinen Bestand hat, aber dem sollte der Gesetz im Grunde zuvorkommen und den vollständigen Proporz eben wiederherstellen, aber ohne diesen unerwünschten Nebeneffekt der übermäßigen Vergrößerung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.