Politik
Kommen Kinder und Jugendliche in Deutschland zu kurz?

Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen werden in Deutschland von der Politik oft nicht erfüllt. Langfristig kann das dazu führen, dass sich die jungen Menschen von der Demokratie abwenden. Was muss sich ändern?

    Schüler einer zweiten Klasse einer Grundschule sitzen während des Unterrichts in einem Kreis auf dem Boden des Klassenzimmers zusammen und melden sich.
    Die Betreuung von Schul- und Kitakindern muss ausgebaut, die Qualität verbessert werden - da sind sich Experten und Politik einig. Doch wie? (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
    15,1 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland. Sie stellen knapp 18 Prozent der Bevölkerung. Damit sind sie eine Minderheit. Oder „strukturelle Außenseiter“, wie es der Soziologe Aladin El-Mafaalani ausdrückt. Obwohl sie die Zukunft der Gesellschaft sind, werden ihre Bedürfnisse auf vielen Ebenen vernachlässigt. Das zeigte sich besonders während der Corona-Pandemie. Doch diese war weder Auslöser für die strukturellen Probleme, noch wurden sie seitdem gelöst.

    Inhalt

    Wie geht es Kindern und Jugendlichen in Deutschland?

    Gesundheit: Immer mehr Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht es gesundheitlich nicht gut: Mehr als 20 Prozent der jungen Menschen leiden unter Ängsten und psychischer Belastung, sie fühlen sich einsam und in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt. Rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben Übergewicht, weil sie sich schlecht ernähren und zu wenig bewegen. Das kann sie langfristig krank machen.
    Kinderschutz: Kinder und Jugendliche werden nicht ausreichend vor seelischer, körperlicher und sexueller Gewalt geschützt. In einer bundesweiten Befragung haben mehr als die Hälfte der befragten Jugendämter angegeben, dass sie das Gefühl hätten, Kinderschutz unter den derzeitigen Bedingungen nicht immer gut gewährleisten zu können.
    Bildung: Marode Schule, Lehrermangel und mittelmäßige bis schlechte Ergebnisse bei internationalen Vergleichsstudien werfen ein schlechtes Licht auf die deutsche Bildungspolitik. Ab 2026 haben zwar alle Kinder ab der ersten Klasse ein Recht auf eine Ganztagsbetreuung. Aktuell besucht aber erst rund die Hälfte aller Grundschulkinder eine OGS. Ein Problem beim Ausbau des Ganztags: Fachkräftemangel.
    Die Schulen stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie Krippen und Kitas, die bundesweit immer wieder ihre Betreuungszeiten einschränken müssen – trotz Rechtsanspruch. Denn überall gibt es zu wenig Personal. Und die Situation wird sich vermutlich weiter verschärfen. Fachleute schätzen, dass bis 2030 zwischen 51.000 und 88.000 qualifizierte Betreuungskräfte in Schulen und Kitas fehlen könnten, so der Kinder- und Jugendhilfereport 2024.
    Kinderarmut: Drei Millionen Jungen und Mädchen in Deutschland leben in Armut oder sind unmittelbar davon bedroht, schätzt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Jeder fünfte Mensch unter 18 ist armutsgefährdet. Armut wirkt sich bei Kindern und Jugendlichen auf die soziale Teilhabe aus, ihre mentale und körperliche Gesundheit und ihren schulischen Erfolg.

    Was fordern Betroffene und Experten, um die Situation für Kinder zu verbessern?

    Kinderrechtsaktivist Jeremias Thiel ist selbst in Armut aufgewachsen und wünscht sich, dass in die staatlichen Bildungseinrichtungen investiert wird. Die Idee dahinter: Alle Kinder sollen ihr Potential entfalten können. Sie sollen die Möglichkeit haben, an Klassenfahrten teilzunehmen, im Verein Sport zu treiben oder ein Instrument zu lernen. Tatsächlich hat ein Kind aus armen Verhältnissen in Deutschland weniger Chancen auf einen guten Schulabschluss, als ein Kind aus wohlhabenderen Schichten.
    Auch die Bereitschaft sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen, ist dem Deutschen Kinderhilfswerk zufolge eng verknüpft mit den sozioökonomischen Verhältnissen, aus denen Kinder und Jugendliche stammen. Daher ist es wichtig Kinderarmut zu bekämpfen, um den Kindern nicht nur soziale Teilhabe und gute Bildungschancen zu ermöglichen, sondern eben auch, um die Demokratie zu erhalten.
    Demokratiebildung müsse sehr früh beginnen, sagt Sarah Matzke vom Deutschen Kinderhilfswerk. Zum einen haben sie nach der UN-Kinderrechtskonvention das Recht, an Entscheidungen beteiligt zu werden, die sie betreffen. Zum anderen seien die ersten Jahre am prägendsten. „Wer sich in der Kindheit engagiert, tut dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Erwachsenenalter“, erklärt sie.
    „Kinder sind in Deutschland Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse“, sagt Kathinka Beckmann, Professorin für Kinderschutz an der Hochschule Koblenz. Daher fordert sie Kinderbeauftragte auf Bundesebene. Diese Person müsse die Regierung bei allen Vorhaben daran erinnern, dass Kinderrechte und Kinderschutz unverhandelbar sind.

    Wie setzen sich die Parteien für Kinder und Jugendliche ein?

    Einerseits betonen alle Parteien in ihren Programmen zur Bundestagswahl, dass sie das Deutschland kinder- und familienfreundlicher machen wollen, andererseits scheiden sie sich schon in der Frage, ob die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Damit müsste bei allen Entscheidungen das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden, etwa von Behörden, aber auch von den Eltern. Und: Die Recht der Kinder wären als Grundrechte besser durchsetzbar.
    SPD, Grüne und Linke befürworten die Aufnahme, die AfD lehnt sie ab, die Union ist uneins. Bisher ist der Vorstoß, die Kinderrechte zu stärken, am Parlament gescheitert. Für eine Grundgesetzänderung bräuchte es eine Zweidrittel-Mehrheit.
    Kinder und Jugendliche wünschen sich dem „Kinderreport Deutschland 2024“ zufolge, dass ihre Interessen von der Politik stärker berücksichtigt werden und fordern mehr Mitbestimmung. Das könnte erreicht werden, indem das Wahlalter abgesenkt würde. Auf kommunaler Ebene und bei Landtagswahlen dürfen 16-Jährige in einigen Bundesländern  schon wählen. Bei der letzten Europawahl durften 16-jährige ebenfalls ihr Kreuz auf dem Wahlzettel machen. Wer bei der Bundestagswahl seine Stimme abgeben will, muss jedoch mindestens 18 Jahre alt sein. SPD, Grüne und die Linke wollen das ändern und das Wahlalter auf 16 Jahre senken. AfD und CDU sprechen sich dagegen aus.
    Einig sind sich fast alle Parteien, dass die Betreuung von Kita- und Schulkindern ausgebaut werden und sich die Qualität steigern muss. Trotzdem wurde bislang zu wenig getan, um die Situation an Schulen und Kitas zu verbessern. In ihren Wahlprogrammen fordern die Parteien unter anderem gezielte Unterstützung sozial benachteiligter Kinder, Qualitätsoffensiven und Sprachförderprogramme – wie das angesichts des bestehenden Fachkräftemangels gelingen soll, bleibt allerdings offen.
    rey