![Eine Wand mit verschiedenen Wahlplakaten. Eine Wand mit verschiedenen Wahlplakaten.](https://bilder.deutschlandfunk.de/b4/98/c0/eb/b498c0eb-ed62-43aa-8cf8-962668b350fe/waehlen-104-1920x1080.jpg)
Nach welchen Kriterien treffen Wähler und Wählerinnen ihre Wahlentscheidung? Das interessiert nicht nur Wahlforscher, sondern vor allem auch die Politik. Fakt ist: Unser Wahlverhalten verändert sich. Eine wichtige Rolle spielen dabei unsere Gefühle. Das ist normal, nur sollten wir uns darüber bewusst werden.
Wahlprogramme, Wahl-O-Mat oder Bauchgefühl: Was beeinflusst unsere Wahlentscheidung?
Mal ehrlich: Lesen Sie die Wahlprogramme der Parteien? Auch wenn es wenige Untersuchungen dazu gibt, sind sich Politikwissenschaftler doch einig: Das tun eher wenige. Höchstens, Sie beschäftigen sich beruflich damit, als Politikwissenschaftlerin zum Beispiel oder als Journalist. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Wahlprogramme zu abstrakt und oft kompliziert formuliert sind. Das jedenfalls sagt eine Studie der Uni Hohenheim. Eine „verschenkte Kommunikationschance“, bilanzieren die Forscher. Wahlprogramme bilden somit wohl eher keine Entscheidungsgrundlage für die Masse, wenn es um die Frage geht: Wo setze ich mein Kreuz?
Eine relevantere Hilfe könnte dagegen der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl sein. Immerhin: Laut dem Umfrageinstitut Forsa nutzen ihn rund 41 Prozent der Befragten vor der Wahl. Neuerdings gibt es auch noch den Real-O-Mat. Dieser funktioniert im Prinzip ähnlich wie der Wahl-O-Mat. Der Unterschied: Der Real-O-Mat bezieht sich auf das tatsächliche Abstimmungsverhalten der Parteien im Bundestag und nicht auf das, was in Wahlprogrammen versprochen wird.
Doch auch diese Hilfstools sind am Ende wohl wenig relevant, wenn es an die tatsächliche Wahlentscheidung geht. In den 1950er-Jahren glaubte die Forschung noch an die These des „rationalen Wählers“, der mit kühlen Kopf abwägt und am Ende die Partei wählt, die ihm den größten persönlichen Vorteil verspricht. So ein Modell der „rationalen Entscheidung“ sei mittlerweile überholt, sagt Neurowissenschaftlerin Maren Urner. Wir könnten gar keine Entscheidungen frei von Emotionen treffen. Jede vermeintlich rational getroffene Entscheidung basiere auf unseren Werten und Erfahrungen und somit am Ende auf unseren Emotionen, bilanziert die Forscherin.
Das veränderte Wahlverhalten: Wo sind eigentlich die Stammwähler?
Auch die Wählerschaft hat sich verändert. Das sieht man immer häufiger an den Wahlergebnissen: Eine absolute Mehrheit? Gibt es nicht mehr. Eine große Koalition? Kaum zu bilden. Koalitionen der Mitte? Es wird immer schwieriger. Stattdessen gewinnen aktuell vor allem extreme Parteien. Das war in Deutschland mal anders, wo CDU/CSU Jahrzehnte durchregieren konnten, Rot-Grün oder auch eine große Koalition eine sichere Mehrheit hatten.
Die klassische Stammwählerschaft, die enttäuschungsresistent ist und ihre Partei immer wählt, egal, was passiert, gibt es kaum mehr. Nur noch ein Drittel der Wähler sei festgelegt auf eine Partei, sagt der Politologe Karl-Rudolf Korte. Es finde eine Entkopplung von Sozialstruktur und Wahlverhalten statt. Wähler wählen situativer und kurzfristiger, wenden sich von Parteien enttäuscht ab und sind bereit, ganz anders zu wählen als bei der vergangenen Wahl.
Dabei spiele auch Gruppenverhalten eine große Rolle: Man möchte Erfolgswähler sein, zu den Gewinnern gehören, sagt Korte. Das heißt: Das soziale Umfeld prägt unsere Parteipräferenz mit. Familie, Kollegen, Freundeskreis oder auch die Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde oder Gewerkschaft - wir hören auf andere und uns ist wichtig, was andere von uns denken.
Gleichzeitig seien viele Parteien immer mehr in ihrem Markenkern verwischt - auch das mache die Entscheidung für Wähler nicht einfacher. Da sich die Parteien immer weniger auf eine Stammwählerschaft verlassen könnten, müssten sie sich allerdings viel mehr um die Wähler bemühen, bilanziert Korte und das sei „großartig für die Demokratie.“
Emotionen versus Rationalität: Ein Widerspruch?
Ist unsere Wahlentscheidung also am Ende nur ein Impuls, ein kurzer Gefühlsausbruch, ein Bauchgefühl, das man nicht steuern kann? Neurowissenschaftlerin Maren Urner findet es „dramatisch“, wenn die Menschen sich ihre Emotionalität, die hinter jeder Wahlentscheidung stehe, nicht bewusst machten. Denn solche Forschungserkenntnisse seien nicht neu.
Lange Zeit herrschte der Glaube vor, dass Emotionen rationale Entscheidungen hemmten und nur Fehler produzierten, sagt auch Politologe Simon Koschut, tatsächlich sei es aber so, dass Emotionen mit Rationalität einhergingen. Es sei ein Miteinander, kein Gegeneinander. „Wir brauchen Emotionen, um Fakten richtig zu interpretieren“, so der Forscher.
Emotionen und Fakten gehören also zusammen, sind kein Widerspruch per se. Allerdings: Je stärker die Emotionen werden, desto mehr beeinflussen sie auch die politischen Debatten.
Koschut beobachtet, dass die politische Debatte schärfer und viel polarisierender wird. Die Wissenschaft bezeichne das als „affektive Polarisierung“. Politische Gruppen würden immer stärkere Abneigung gegeneinander entwickeln. „Diese Form der affektiven Polarisierung sehen wir in den USA schon lange und sie kommt jetzt auch langsam in Deutschland und Europa an. Das sehen wir zum Beispiel an den Wahlergebnissen, wo sich die Polarisierung konkret abbildet“, sagt der Politologe. Das heißt, extremistische Parteien gewinnen stark an Stimmen, gleichzeitig wird es immer schwieriger, Koalitionen in der Mitte zu bilden.
Auch gibt es eine Verrohung der Debatte, eine Eskalationsspirale. Der politische Ton wird immer schärfer und das kann sich in letzter Instanz auch in Gewalt ausprägen - gegen andere politische Gruppen oder Minderheiten. Ein Treiber all dessen: die Angst. Denn Angst ist die schlimmste Emotion, die langfristig für den Menschen kaum auszuhalten ist und sich auch schnell in Wut verwandeln kann, denn „so können wir besser mit der Angst umgehen“, sagt Koschut. Wut ist für viele immer noch besser als Angst.
Ängste sind eine sehr schlechte Grundlage für eine Wahlentscheidung, findet Maren Urner. Das Problem mit der Angst sei nämlich, dass das Hirn dann nur noch drei Zustände kenne: Flucht, Kampf oder Erstarrung. Und genau das beobachte sie nun auch zunehmend in der Gesellschaft: Eine Gruppe Menschen gehe in den Kampfmodus, Konflikte nähmen generell zu; man sehe Flucht, aber auch zunehmend die Abwendung von der Politik.
Angst ist zudem ein Einfallstor für populistische Parteien. Für Politiker, die sehr einfache Antworten auf große, komplizierte Fragen liefern.
Angst, Polarisierung, Extremismus: Finden wir da wieder raus?
„Politische Zeiten waren schon immer emotional“, sagt Maren Urner. Was neu sei, sei eine zunehmend emotionalisierte Politik und eine Verstärkung der Emotionen zum Beispiel durch die Sozialen Medien.
Was wir wieder lernen müssten, sei eine Kernkompetenz: Die Selbstreflexion, zu erkennen, was eigentlich in einem vorgeht. Das müsse man sich bewusst machen, rät die Forscherin, und eine Bereitschaft haben, etwas zu ändern. Und dann könne man sich die Frage stellen: Warum habe ich diesen Impuls eigentlich und woher kommt er?
Man müsse dabei aus der Passivität rauskommen, rät Simon Koschut: Sich engagieren, demonstrieren, informieren. Denn wenn man in der Passivität bleibe, sei dies ein „guter Resonanzboden für Politiker, Ängste gezielt auszunutzen.“
Was immer helfe: Sich austauschen und mit anderen sprechen, sagt die Neurowissenschaftlerin Urner. Der Mensch bleibe ein soziales Wesen. Emotionen dürfe er auch nicht unterdrücken. Indem er sie sich bewusst macht, könne er „freie Entscheidungen treffen“ und „über den ersten unreflektierten Impuls“ hinwegkommen.
(nba)