Nach der Bundestagswahl
Kommentar: Deutschlands Demokratie steht am Scheideweg

Die historische Aufgabe der nächsten Koalition wird sein, die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in Krisenzeiten unter Beweis zu stellen. Wenn das am Anfang nur durch fragwürdige Tricks gelingt, wäre das ein schlechtes Vorzeichen.

Ein Kommentar von Stephan Detjen |
Der leere Plenarsaal des Deutschen Bundestages von oben fotografiert.
Die Sitze im Plenarsaal des Bundestages sind neu verteilt. Die Regierungskoalition - voraussichtlich aus Union und SPD - muss noch gebildet werden (picture alliance / dpa / Fabian Sommer)
In einer Zeit dramatischer Umbrüche stellt Deutschland die Weichen für eine traditionelle Regierungskonstellation. Zum fünften Mal werden Union und SPD ein politisches Bündnis schließen, das man einst als Große Koalition bezeichnete. Das war in Zeiten, in denen die beiden Volksparteien bis zu zwei Drittel der Wähler in der breiten Mitte des Parteienspektrums binden konnten. Jetzt werden Union und SPD über gerade mal ein gutes Dutzend mehr Stimmen verfügen, als Friedrich Merz zur Wahl als Bundeskanzler benötigt.
Es bleibt die Hoffnung, dass die kommende Koalition nicht wie die jetzt abgewählte von inneren Fliehkräften zerrissen wird. Nur dann kann es gelingen, verlorenes Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie zurückzugewinnen. Gelingt das nicht, scheitert Friedrich Merz als Kanzler ähnlich wie Olaf Scholz oder übernimmt die CSU die Rolle der FDP als destruktive Opposition innerhalb der Regierung, ist mit dieser Wahl auch ein anderer Entwicklungspfad vorgezeichnet: Dann wird diese Bundestagswahl nur als Vorstufe zu Regierungsbeteiligungen der AfD in Erinnerung bleiben.

Migrationspolitik und giftige Rhetorik

Die Parteien der politischen Mitte einschließlich der Grünen haben ihre Schwächung selbst herbeigeführt. Nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg wirkte der Wahlkampf in seiner entscheidenden Schlussphase, als hätten Union, SPD und die Grünen unter der unglücklichen Führung Robert Habecks die Waffen vor der giftigen Rhetorik der AfD gestreckt.
Das Wahlergebnis bestätigt, was Demoskopen, Politikwissenschaftler und Beobachter der Entwicklung in anderen Ländern immer vorausgesagt haben: Wer sich auf einen Überbietungswettbewerb mit Rassisten und Rechtsextremisten einlässt, wird ihn am Ende verlieren. Entsprechend sind die Linken, die sich in der verseuchten Debatte über die Migrationspolitik am konsequentesten gegen die AfD positioniert haben, die anderen Gewinner dieser Wahl.

Merz will Beschlüsse zur Finanzierung der Bundeswehr mit altem Bundestag

Die Stärkung der politischen Ränder schränkt schon jetzt spürbar die Handlungsfähigkeit der künftigen Koalition ein. Entscheidungen, die der Bundestag nur mit Zweidrittelmehrheit treffen kann, bedürfen künftig der Zustimmung von AfD oder Linkspartei. Dazu gehören die Wahl von Verfassungsrichtern und Grundgesetzänderungen, wie sie zur Reform der Schuldenbremse nötig sind. Weil die CDU ihre "Brandmauer" zur AfD innerparteilich nur begründen konnte, in dem sie sich auch ein Kooperationsverbot mit den Linken auferlegte, will Friedrich Merz die nötigen Beschlüsse zur Finanzierung der Bundeswehr jetzt noch schnell mit dem alten Bundestag über die Bühne bringen.
Es wäre ein Manöver, mit dem sich alle Beteiligten dem Vorwurf aussetzen würden, den gerade erst artikulierten Wählerwillen offen zu missachten. Die historische Aufgabe der neuen Koalition aber wird es sein, die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in krisenhaften Zeiten unter Beweis zu stellen. Wenn das schon am Anfang nur durch fragwürdige Tricks gelingt, wäre das ein schlechtes Vorzeichen.