Ayse Nur Kayapinar engagiert sich für mehr politische Partizipation von Musliminnen und Muslimen. Sie macht mit bei dem Stuttgarter Verein coexist. Natürlich werde sie am 26. September wählen gehen, sagt Ayse Nur Kayapinar. Aber:
"Es ist nur sehr schwer, PolitikerInnen zu finden, die gegen Diskriminierung aktiv agieren und dabei die Interessen und Werte der Muslime gleichzeitig vertreten. Das ist sehr schwer, da eine Partei zu finden, die einen repräsentieren könnte."
In Deutschland gibt es rund 5,5 Millionen Muslime und Musliminnen. Doch nur die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass und ist somit wahlberechtigt. An der Bundestagswahl können insgesamt mehr als neun Millionen Menschen nicht teilnehmen, obwohl sie hier zwar dauerhaft leben, aber keine deutschen Staatsbürger sind.
"Es gibt hier ein Repräsentationsdefizit, was ich auch als Demokratiedefizit benennen würde", sagt Cihan Sinanoglu. Er ist Leiter der Geschäftsstelle Rassismusmonitor am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin. Und dieses Demokratiedefizit zeigt sich dann beispielsweise auch im Parlament: Nach offiziellen Angaben des Bundestages sitzen dort lediglich drei Parlamentarier muslimischen Glaubens – von insgesamt 709. Wenn es um die stärkere Repräsentanz von Muslimen in der Politik geht, sieht Cihan Sinanoglu die Parteien in der Pflicht:
"Es gibt genug Kandidaten mit Migrationshintergrund, die sich aufstellen lassen würden, sie haben aber keine aussichtsreichen Listenplätze. Wenn die Parteien was tun wollten, dann müssten sie ihnen bessere Listenplätze geben."
Unterschrift ja - Wahlstimme nein
Naima Niazy engagiert sich bei dem "Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland". Dort haben sie in diesem Jahr die Aktion "Jede Stimme zählt" gestartet, um vor allem muslimische Frauen zu motivieren, wählen zu gehen. Naima Niazy weist auf eine interessante Untersuchung hin:
"Es gibt eine Studie von 2017, die zeigt, dass Menschen, die einen Migrationshintergrund haben und in der zweiten Generation in Deutschland leben, sowohl eine stärkere Parteipräferenz haben und sich stärker auch an anderen politischen Dingen wie Demo, Unterschriftensammlungen beteiligen als das bei Menschen ohne Migrationshintergrund der Fall ist. Aber dennoch gehen sie seltener wählen. Es muss etwas an diesem Akt des Wählen-Gehen geben, dass sogar Menschen, die tendenziell politisch aktiv sind, an diesen Punkt länger brauchen, um den für sich zu claimen."
Die Wahlabstinenz hänge wohl u.a. damit zusammen, dass die Eltern oder Großeltern in den Herkunftsländern die Erfahrung gemacht hätten, wählen zu gehen bringe ohnehin nichts. Aber es fehle auch an einer entsprechenden Familientradition, wie sie einheimische Familien oft pflegen:
"Wenn man damit aufwächst, dass die Eltern mit einem wählen gegangen sind und nachher ein Eis essen gegangen ist und wächst damit auf, dass macht man so, dann wird das auch einen Einfluss haben."
Kopfuchverbot, Familienzusammenführung, Wahlrecht
Allerdings gibt die Projektleiterin des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen in Deutschland auch zu bedenken, dass die persönlichen Erfahrungen von Musliminnen und Muslimen durchaus unterschiedlich seien: "Gerade bei Menschen, die geflüchtet sind aus einer Diktatur in eine Demokratie, dann denke ich schon, dass sie, wenn sie wählen gehen können, das machen, weil sie sich bewusst darüber sind, dass es hier Freiheiten gibt, die es in den Herkunftsländern nicht gibt."
Um das Interesse gerade muslimischer Frauen an Wahlen zu erhöhen, wünscht sich Naima Niazy, dass die Parteien bestimmte Themen mehr in den Vordergrund rücken wie beispielsweise eine erleichterte Familienzusammenführung, eine Ablehnung eines Kopftuch-Verbotes oder ein erleichterte Ausländerwahlrecht.
Naima Niazy: "Dann sind das Themen, die aufgrund der individuellen Biographien Menschen, die muslimisch sind, eher interessieren, als das bei Menschen ohne Migrationshintergrund der Fall ist."
Doch wie lässt sich die Wahlbereitschaft erhöhen? Vielleicht mit der Einführung einer Quote für Muslime in den Parteien? "Auch die Quote ist keine optimale Lösung, aber eine Quote führt dazu, dass wir ins Gespräch kommen darüber, dass es einen ungleichen Zugang gibt." Sagt der Integrationsforscher Cihan Sinanoglu. Denn schon heute gebe es eine unsichtbare Quote bei Politikerinnen und Politikern, die sich aus einer institutionellen Diskriminierung ergebe. Für die meisten Muslime gelte:
"Die Leute machen weniger Abitur, weniger Hochschulabschlüsse. Das hat einen Effekt auf das politische Engagement. Das heißt, ich brauche Ressourcen, um mich politisch engagieren zu können, ich brauche sprachliche Ressourcen und das Wissen usw. Aber das habe ich nur, wenn ich die strukturellen Barrieren versuche abzubauen, und da passiert noch viel zu wenig."
Muslimische Partei als Lösung?
Ein möglicher anderer Weg, die politische Partizipation zu erhöhen: eine Partei wie BIG, die vor allem muslimische Interessen vertreten will. Doch BIG, die der türkischen AKP nahestehen, ist in den zehn Jahren ihrer Existenz bei überregionalen Wahlen immer unter einem Prozent geblieben und somit politisch bedeutungslos. Ayse Nur Kayapinar von dem Stuttgarter Verein Coexist: "Ich denke eher, dass die schon vorhandenen Parteien sich aktiv auch für Muslime einsetzen sollten, es sollte Teil ihres Wahlprogramms sein. Ich denke nicht, dass es eine muslimische Partei geben muss, damit die Interessen vertreten werden."
Und auch Haci-Halil Uslucan, Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen, sieht vor allem die größeren Parteien in der Pflicht: "Wenn man langfristig denkt, Parteien strategisch denken, dann kommen sie nicht um die Frage herum, sich viel stärker für Zuwanderer zu öffnen, weil Zuwanderer eine deutlich jüngere Bevölkerung sind und weil in der jüngeren Bevölkerung die Frage von kultureller Vielfalt, Offenheit viel liberaler thematisiert wird als in der älteren Bevölkerung."
Doch letztlich ist allen klar: "die Zuwanderer" oder "die Muslime" gibt es nicht. Es gibt große thematische Überschneidungen, die auch durch die Religionszugehörigkeit bedingt sind, aber es existiert eben auch eine große Vielfalt der Interessen und Bedürfnissen unter den muslimischen Menschen in Deutschland.