Bundestagswahl
Warum bei Wahlumfragen Vorsicht geboten ist

Die Umfragen zur Bundestagswahl sehen die Union seit Monaten klar vorn. Eng und spannend wird es demnach für kleinere Parteien. Doch was sagen Umfragen eigentlich genau aus und können Umfragen selbst auch Wahlen beeinflussen?

    Vier Groß-Wahlplakate an einer Straße in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen).
    Plakate zur Bundestagswahl: In den Wochen vor einer Wahl nehmen etwa 70 Prozent der Menschen die Umfragewerte der Parteien wahr, so ein Politologe. (picture alliance / dpa / Revierfoto / Revierfoto)
    Kurz vor der Bundestagswahl am 23. Februar werden fast täglich neue Umfragen mit der berühmten Sonntagsfrage veröffentlicht. Je näher der Wahlsonntag rückt, desto öfter blicken Medien, Parteien und Wahlberechtigte auf die Zahlen der Meinungsforschungsinstitute.
    Die Umfragen sind Thema im Wahlkampf, auch wenn Politiker oft behaupten, sie schauten nicht auf Umfragen. "Wenn es nach den Meinungsforschern geht, hätten wir erst gar nicht antreten müssen. Aber es geht nicht nach den Meinungsforschern“, wurde etwa der Grünen-Politiker Joschka Fischer im Bundestagswahlkampf 2005 zitiert.
    Doch wie kommen Umfragen zustande? Was genau sagen sie aus? Welchen Einfluss haben Umfragen? Welche Kritik gibt es an den Methoden? Und was müssen Medien beachten, wenn sie über Umfragen berichten?

    Inhalt

    Seit wann gibt es Meinungsumfragen?

    Im Juli 1824 – keine 50 Jahre nach Einführung der Demokratie in den USA – starteten amerikanische Lokalzeitungen die vermutlich erste Meinungsumfrage der Welt. Die Prognose von Wahlergebnissen wurde danach in amerikanischen Medien eine Art Volkssport –  mit enormem Aufwand: Zeitungen verschickten an Millionen Haushalte Probestimmzettel, vor allem an die eigenen Abonnenten.
    Der junge Marktforscher George Gallup behauptete ab den 1930er-Jahren, eine unfehlbare wissenschaftliche Methode zu haben. Für die schickte er Interviewer durch das ganze Land. Die sollten Arbeiter, Akademiker, Frauen, Männer, Alte und Junge genau zu dem Anteil befragen, in dem sie in der Gesamtgesellschaft vorkommen. Quotenstichprobe heißt das Verfahren. Trotz Rückschlägen und Fehlern setzten sich Meinungsumfragen durch.

    Wie werden Umfragen gemacht?

    In der Regel beruhen die Umfrageergebnisse auf 1.000 bis 2.000 Befragten, die repräsentativ und meist per Zufall ausgewählt sein sollen. Jede wahlberechtigte Person in Deutschland könne in die Stichprobe für eine solche Umfrage gelangen, erklärt der Politologe Thorsten Faas.
    Häufig werden Umfragen per Telefon durchgeführt. Dabei werden zumeist sowohl Festnetz- als auch Mobilfunknummern angewählt, schreiben die Soziologen Sabine Pokorny und Jochen Roose, die für die Konrad-Adenauer-Stiftung im Bereich Wahl- und Sozialforschung arbeiten. Allerdings nähmen in der Regel weniger als 20 Prozent der ausgewählten Personen auch wirklich an der jeweiligen Umfrage teil. Unterrepräsentiert seien in vielen Telefonumfragen vor allem ältere und formal niedrig gebildete Personen sowie Stadtbewohner.
    Alternativen bietet die Onlinewahlforschung. Eine häufige Variante sind laut der Wahlforschungsabteilung der Konrad-Adenauer-Stiftung sogenannte Access-Panels. Hier registrieren sich die Teilnehmer von Umfragen aus eigenem Antrieb online und werden dann durch ein Zufallsprinzip oder eine Quotenstichprobe zu einer konkreten Umfrage eingeladen.
    Zumeist werde dann versucht, die durch die Selbstrekrutierung der Teilnehmenden entstandenen Verzerrungen durch eine besondere Gewichtung von soziodemografischen Merkmalen (zum Beispiel Geschlecht, Alter, Bildung) auszugleichen. Studien zeigten jedoch, dass das nur bedingt gelinge.
    Die Forschungsgruppe Wahlen, die für das ZDF Umfragen durchführt, macht transparent, dass es bei dieser Gewichtung auch zu unterschiedlichen Werten der Parteien kommt. Bei den Prozentzahlen zur „politischen Stimmung“ kommt es dabei regelmäßig zu anderen Werten als bei der „Projektion“. Andere Institute machen diese Gewichtungen meist nicht öffentlich.

    Wie aussagekräftig und korrekt sind Umfrageergebnisse?

    Bei Umfragen im Vorfeld von Wahlen ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass sie nur aktuelle Verhaltensabsichten messen, nicht das tatsächliche Verhalten. „Wahlumfragen zeigen uns Stimmungsbilder“, sagt der Politologe Thorsten Faas. Kurz vor dem Wahltag seien sie aber in der Regel ziemlich aussagekräftig und lägen meistens nah am Wahlergebnis.
    Bei jeder Umfrage gibt es eine sogenannte Fehlertoleranz - auch Fehlergrenze oder Schwankungsbreite genannt. Diese liege, je nach Umfang und Methode der Erhebung, etwa zwischen zwei und vier Prozent, so der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. Zudem sei nicht auszuschließen, dass die Befragten bewusst oder unbewusst Falschaussagen machen. So kann es beispielsweise sein, dass Menschen in einer Umfrage nicht zugeben, eine rechtsextreme Partei wählen zu wollen.
    Forschungen zur Zuverlässigkeit von Meinungsumfragen zeigten, "dass die Fehlerquoten sehr viel größer sind als die, die angeben werden", sagt Rainer Schnell, Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen. Er spricht von Fehlerquoten von bis zu fünf Prozentpunkten. Das Wort "repräsentativ" werde immer nur verwendet, "um Leute zu beeindrucken". Zudem bemängelt Schnell, dass gerade Web-Umfragen nicht auf "wissenschaftlichen Zufallsstichproben" basierten.
    Ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass selbst Umfragen ganz kurz vor dem Wahltag deutlich danebenliegen können, war die Bundestagswahl 2005. Damals führten die Unionsparteien mit Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) laut dem Mittelwert der letzten Umfragen verschiedener Instituts mit 8,3 Prozentpunkten vor der SPD des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Bei der Wahl betrug der Vorsprung der Union vor der SPD nur einen Prozentpunkt.

    Welchen Einfluss haben Wahlumfragen auf das Wahlverhalten?

    Was definitiv gilt: Wählerinnen und Wähler nehmen Umfrageergebnisse wahr. In den Wochen vor einer Wahl treffe das auf etwa 70 Prozent der Menschen zu, sagt der Politologe Thorsten Faas.
    Wie sich das auf das Wahlverhalten auswirkt, ist nicht ganz so klar - es gibt verschiedene Theorien. So beschreibt etwa der Bandwagon-Effekt – auch Mitläufereffekt genannt – folgendes Phänomen: Wenn eine Partei in den Umfragen erfolgreich abschneidet, steigt die Zahl ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer weiter. Der Erfolg und die Aussicht auf einen Sieg wirken demnach anziehend.
    Das genaue Gegenteil behauptet die Underdog-Hypothese, auch Außenseitereffekt genannt. Sie nimmt an, dass sich Wählerinnen und Wähler vom zu erwartenden Gewinner abwenden und die Partei unterstützen, die zu verlieren scheint. Das Motiv könnte dann Mitleid oder Trotz sein. Ob es solche Effekte tatsächlich gibt, werde in der wissenschaftlichen Literatur nicht eindeutig beantwortet, sagt der Münsteraner Politologe Bernd Schlipphak.
    Eine weitere Annahme ist, dass Menschen auch strategisch wählen. Auf der Basis von Überlegungen zu möglichen Koalitionen nach der Wahl würden Umfragen als "Impuls- oder Signalgeber" genutzt, sagt Thorsten Faas. Gut zu sehen seien Effekte von Umfrageergebnissen auf das Wahlverhalten beispielsweise, wenn es knapp werde, erläutert der Politologe.

    Welche Rollen spielen Medien bei Wahlumfragen?

    In der medialen Berichterstattung sei es wichtig, deutlich zu machen, dass Umfrageergebnisse noch nicht das Wahlergebnis seien, betont der Politologe Bernd Schlipphak. Im Pressekodex – eine freiwillige Selbstverpflichtung von Journalistinnen und Journalisten – finden sich einige Bedingungen für die Berichterstattung über Umfragen: etwa die Zahl der Befragten und der Zeitpunkt.
    Schlipphak fordert eine umfassendere freiwillige Selbstverpflichtung für Medienhäuser und Umfrageinstitute. Man könnte beispielsweise festlegen, dass das Umfrageformat angegeben werden muss - also ob etwa online, telefonisch oder gemischt befragt wurde. Wichtig sei auch die Angabe, wie viele Menschen unentschlossen seien oder eine Antwort wie „weiß nicht“ gewählt hätten, meint Schlipphak. Der Politikwissenschaftler plädiert ebenfalls dafür, dass die Fehlertoleranz angegeben werden muss.
    Schließlich wird auch die Frage, bis wann vor der Wahl Umfrageergebnisse veröffentlicht werden sollten, immer wieder diskutiert. Der Pressekodex enthält dazu keine Angaben. Verboten ist lediglich die Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählerbefragungen während die Wahl läuft.
    Eine grundsätzliche Kritik an der politischen Berichterstattung über Umfragen kommt ausgerechnet von einem Statistiker. "Also ich habe manchmal das Gefühl, ich bin auf einer Pferderennbahn, wo berichtet wird, welcher Gaul jetzt gerade vorne ist, statt das Wesen des Gauls zu beschreiben", sagt Gerd Bosbach, emeritierter Statistik-Professor an der Hochschule Koblenz. Ihn "erschreckt es, dass wir nicht mehr über die Inhalte oder so gut wie nicht mehr über die Inhalte der Parteien reden".

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