Die Deutschen und die Qual der Wahl
Der Souverän hat das Wort

Am Tag der Bundestagswahl soll der Wahlkampf schweigen – die Wählerinnen und Wähler haben ihren großen Auftritt. Eine Tour d'Horizon durch die Wahltage der Bundesrepublik seit 1949 zeigt, welche Bedeutungen mit dem Wählen verbunden werden.

Von Claudia Gatzka |
Wahl-O-Mat auf einem Smartphone und ein Stift liegen auf einem Stimmzettel zur Bundestagswahl
Rekordverdächtige neun Millionen Mal haben User den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2025 allein in den ersten 24 Stunden nach seiner Freischaltung zurate gezogen (Imago / Christian Ohde )
An den Wahlen zeigt sich zugleich, wie und mit welchen Mitteln sich die Deutschen als Souverän inszenieren und über welche großen politischen Fragen sie in den letzten Jahrzehnten an der Wahlurne abzustimmen schienen.
Im Lichte dieses historischen Blicks auf vergangene Wahlen und Wahlrituale werden politische Traditionen der Bundesrepublik kenntlich, die manche Wählerin und manchen Wähler am großen Tag der vorgezogenen Bundestagswahl vielleicht noch einmal ins Nachdenken bringen.
Claudia Gatzka, Jahrgang 1985, leitet seit 2020 das Forschungsprojekt „Verborgene Stimmen der Demokratie“. Sie ist Historikerin an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und unter vielem anderen Kolumnistin für die Zeitschrift Merkur sowie Mitherausgeberin des Archivs für Sozialgeschichte. 2019 erschien „Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik 1944–1979“ und für Ende des Jahres ist das Buch „Demokratie und Diktatur“ angekündigt.

Was soll man nur wählen? Das muss in der Repräsentativdemokratie keine schlechte Frage sein. Ist das Angebot breit, fällt die Entscheidung nicht ganz leicht – wer die Wahl hat, hat die Qual, so heißt es. Doch im Falle der Bundestagswahl scheint es nicht am Überangebot zu liegen, wenn viele Wähler nicht wissen, wo ihr größtes politisches Kapital, die eigene Stimme, am besten investiert ist. Vielmehr zögern sie, ihre Stimme überhaupt noch irgendeiner Bundestagspartei zu geben. Die Werte, die „sonstige“ Parteien mittlerweile erreichen, sind in der bundesrepublikanischen Geschichte einzigartig. So fungiert der Wahl-O-Mat dann auch als unerlässlicher Investitionsberater. Rekordverdächtige neun Millionen Mal haben User ihn allein in den ersten 24 Stunden nach seiner Freischaltung zu Rate gezogen. Würde die Bundeszentrale für politische Bildung zehn Cent pro Nutzung nehmen, es wäre für die Behörde, die aktuell dem Spardiktat unterworfen ist, ein einträgliches Geschäft. Vielen verlangt offenbar nach der digitalen Wahlempfehlung, und das heißt auch, dass sie ehrlich bemüht sind, das für sie passgenaue Angebot auf dem politischen Markt auszuwählen.
Doch der politische Markt ist kein neutrales Terrain, auf dem lediglich die besten Lösungen feilgeboten werden. Er ist auch ein Ort, wo überhaupt erst die Probleme definiert werden, die es zu lösen gilt. Die Problemdefinition, das Agenda-Setting, produziert ein Stück weit auch die Bedürfnisse des Wahlvolks. Wahlkämpfe sind so auch große Erzählungen der konkurrierenden Parteien darüber, was die Wählenden eigentlich wollen, was ihnen wichtig ist und was weniger wichtig. Nun kann man fragen, ob es ein Problem ist, wenn ein Souverän, der selbst nicht mehr so recht weiß, was er will, von Parteien, die zur Wahl stehen, erzählt bekommt, wer er ist und was er wollen soll. Ein Stück weit ist das schlichtweg Kern einer repräsentativen Demokratie. Dennoch hat es Sinn, hin und wieder innezuhalten und sich die Erzählungen genauer anzusehen. Über einen längeren Zeitraum lassen sich dabei Muster erkennen, die politische Prioritätensetzungen dauerhaft priorisieren.
Umgekehrt erzählen sich Wähler und Medien, die für sie sprechen, anlässlich von Wahlen auch Geschichten über ihre eigene Rolle als Souverän und ihr Verhältnis zu den politischen Repräsentanten. Der Wahlakt selbst, oder seine Unterlassung, lässt sich als eine Stellungnahme zur Demokratie deuten. Die Bilder über Wähler, Gewählte, das Wählen selbst und die politischen Weichenstellungen, um die es dabei ging, lassen seit Bestehen der Bundesrepublik gewisse Muster erkennen, die heute noch aktuell sind.
Ein Evergreen der Bundesrepublik ist die Rede von der „Qual der Wahl“. Sie war nie ironisch, sondern meinte stets die reale Pein, die aus den Wahlen erwuchs. Den größten Schmerz, ja eine Art Fremdscham, bewirkten von Anbeginn die Parteien. Nach den ersten Bundestagswahlen war die Presse nachgerade überrascht, dass sich so viele Wählende zu den Urnen begeben hatten, obwohl sie gezwungen waren, Parteien zu wählen. Die Wahlbeteiligung lag bei 78,5 Prozent, und das galt als guter Wert. Die Union gewann nicht zuletzt, weil sie sich nicht „Partei“, sondern „Union“ nannte und mit „Persönlichkeiten“ statt mit Ideologie warb.
Parteien standen einerseits für Korruption und Vetternwirtschaft, andererseits für gesellschaftliche Spaltung durch überflüssige Ideologie. Die Entwicklung von der Klientelpartei hin zur Volkspartei, die schichtenübergreifend anschlussfähig war, schien auf ein ausgeprägtes Bedürfnis der Deutschen zu antworten, sich bei den Wahlen nicht als kleiner Teil des Ganzen oder gar eine Interessenclique, sondern als das Ganze selbst zu fühlen – heute würde man sagen: als „die Mitte“. Die Partei, der das lange am besten gelang, war die CSU mit ihrer beispiellosen Fähigkeit, absolute Mehrheiten zu erringen. Die CSU war nicht ein Teil Bayerns, sie war Bayern.
Parteien und ihre führenden „Köpfe“ standen aber auch für schlechten Stil, Polemik, „Entgleisungen“. Im Wahlkampf beklagte die Presse über die ersten Jahrzehnte hinweg die gegenseitigen Feindseligkeiten. Die Folge sei, so war schon 1949 in der ZEIT zu lesen, dass die Wähler sich „angeekelt“ abwenden würden, noch bevor sie sich überhaupt so richtig zugewandt hatten. Leserbriefe und Journalisten präsentierten den Souverän als erhabenes Gegenstück zum keifenden Politikbetrieb. Hinter der Streitaversion der Wähler und der Presse stand letztlich eine nationalistische Sehnsucht nach Einheit und Geschlossenheit, die viele mit Verweis auf die deutsche Teilung begründeten.
Politik wurde in der jungen Bundesrepublik ohne Umschweife in Kriegsmetaphern beschrieben. Presse und Bürger verorteten sich gern außerhalb des Schlachtfelds und übten sich in der Rolle der Kampfrichter oder auch der „Uneingeweihten“, denen der ganze politische Zirkus reichlich suspekt erschien. Wahlkampfwerbung galt nicht als vertrauenswürdig, sondern als unnötige Beeinflussung der Bürger in ihrem „freien“ Entscheidungsfindungsprozess – und damit als Störung. Behörden betrachteten Wahlplakate, durchaus stellvertretend für die Wohnbevölkerung, als „Verschandelung“ des Stadtbilds, noch dazu, weil die schlecht befestigten Plakatpappen nach einem Tag Regen zerfleddert auf den Gehwegen herumlagen oder bei stürmischem Wind die Sicht durch die Frontscheibe des neuen VW-Käfers zu beeinträchtigen drohten. Wahlkampf schien so in doppelter Hinsicht ein schmutziges Geschäft, ein gefährliches und ein teures noch dazu.
Je wohlhabender die Westdeutschen wurden, je länger das sagenhafte Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte andauerte, desto intensiver wurde die Auseinandersetzung um die Kosten des Wahlkampfs, noch dazu, weil die Parteien sich mittlerweile staatliche Bezuschussungen genehmigten. Über den Wahlkampf 1965 hieß es im Südwestfernsehen, es bestehe ein verständliches Bedürfnis, diesen Wahlkampf so rasch wie möglich wieder zu vergessen. Doch dafür sei er zu wichtig und zu teuer gewesen. 35 Millionen Mark für knapp vier Millionen Wähler, so rechneten die Redakteure vor – lohnte sich das? Denn die restlichen 35 Millionen Wähler, die sich bereits für eine Partei entschieden hatten, schienen ohnehin nicht durch den Wahlkampf beinflussbar. Es war in der Bonner Republik durchaus möglich, eine Parteibindung zu besitzen, aber an Parteien und ihrem Wahlkampf Kritik zu üben.
Es erscheint deshalb reichlich schizophren, dass Westdeutsche im Vergleich mit Schweizern, Amerikanern oder Franzosen besonders zahlreich wählen gingen. Denn Wählen war ja reichlich aufwändig, gemessen daran, dass die eigene Stimme ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Am Wahlsonntag aufstehen, aus dem Haus zu gehen, sich in die Schlange vor dem Wahllokal einreihen und schließlich sein Kreuz richtig machen und den Wahlumschlag korrekt falten – das sind ganz schön hohe Kosten, wenn man nur einen freien Tag die Woche hat, und das war in der frühen Bundesrepublik für viele der Fall. Die Briefwahl hat den Aufwand etwas minimiert, aber keineswegs eliminiert, vor allem nicht den bürokratischen.
Doch die Westdeutschen nahmen diese Kosten in Kauf. Die Wahlbeteiligung stieg in den 1950ern auf über 85 Prozent, in den 1970ern gar auf über 90 Prozent. Die hohen Beteiligungsquoten hatten nicht nur mit der Systemkonkurrenz zu tun, mit den 99,5 Prozent in der DDR. Denn auch umgekehrt ließ sich argumentieren: Schaut her, bei uns im Westen darf man Nichtwähler sein, wir zwingen niemanden. Die Gründe für die hohe Wahlbeteiligung sind in der demokratischen Kultur der Bundesrepublik zu suchen: Wahltag und Wahlakt gediehen vor dem Hintergrund der Parteienschelte zu einem wichtigen Ritual der Konfliktbeilegung, an dem das Wahlvolk gerne teilnahm. Bürger begingen hier ein Stück weit auch die Befreiung von den Belastungen und Unehrlichkeiten des Wahlkampfs. Eine Ulmer Tageszeitung resümierte 1957: „Nachdem in den letzten Wochen die Wellen des Wahlkampfes auch in Ulm recht hoch gegangen waren, verstummte gestern das Schlachtgetümmel. Seines Wertes voll und ganz bewußt stand nun endlich der Wähler selbst im Mittelpunkt des Geschehens. Die weithin leuchtenden Plakate [...] hatten plötzlich keine Bedeutung mehr. Nur die Stimme der Wähler beherrschte über Stunden die ganze Stadt“.
Der Wahlakt wurde so zur großen Bühne des mündigen Wählers stilisiert, der – wie es in der Tageszeitung Badische Neuesten Nachrichten 1957 hieß – „mit geschwollener Brust durch die vertrauten Straßen“ schritt. Die Lokalpresse beschrieb mit Liebe zum Detail die Ruhe, Disziplin, Friedfertigkeit und gute Laune, die den Wahltag beherrschten. Selbst Erzählungen von Pannen in den Wahllokalen hatten darin Platz. Presse und Wähler feierten so den Souverän bei seiner wichtigen politischen Handlung, und bedienten den narzisstischen Blick der Wählenden auf sich selbst.
Wählen galt aber auch einfach als Bürgerpflicht, und das war eine im Kaiserreich gewachsene Tradition. Es gab eine Art Wahlpropaganda zweiter Ordnung, die das Wählen selbst bewarb. Die SPD stellte 1949 die politische Gleichheit heraus, die sich am Wahltag manifestierte. „Einen Tag im Laufe der Jahre gibt es“, hieß es 1949 im Hamburger Echo, „da sind wir allesamt Politiker, der Direktor und die Reinmachefrau, der Bauer und die Kellnerin, der Dichter und das Blumenmädchen, der Medizinalrat und die Krankenschwester, der Seemann und die Hausfrau. Es ist der Wahltag, der Tag der Gleichheit und der Selbstbestimmung.“ Es war in der Bundesrepublik nie umstritten, dass das Wählen eine positive Haltung zum demokratischen System zum Ausdruck brachte. Auf Nichtwählern lastete deshalb auch moralischer Druck. Sie galten als Abweichler und konnten als Luschen stigmatisiert werden, die ihr Leben nicht selbst in die Hand nahmen und ihr Schicksal anderen überließen. In einer 1965 produzierten Sendung des Südwestfunks hieß es über den Nichtwähler, er sei froh, dass er unerkannt bleibe. Denn er fühle „den Makel“, der ihm in den Augen der Gesellschaft anhafte.
Viele Wähler allerdings, die für die Sendung auf der Straße angesprochen wurden, verbargen nicht, diesmal der Wahlurne fernbleiben zu wollen oder schon länger nicht zu wählen. Sie gaben an, darin einfach keinen Sinn zu erblicken. Es sei ganz egal, ob die CDU oder die SPD regiere, es komme doch eh dasselbe dabei heraus. Verbreitet war auch der Topos, „die da oben“ würden doch sowieso machen, was sie wollen. Politische Gleichheit stach in den Augen mancher die soziale Ungleichheit nicht aus. Adenauer sei reich, sie sei arm, meinte eine Wählerin. Dass Politiker sich bereichern würden und korrupt seien, während der kleine Beamte für einen Zahnersatz tief in die Tasche greifen müsse, rundete das Arsenal an Vorhaltungen ab. Auch wenn die historische Forschung für die junge Bundesrepublik in der Zeit des Wirtschaftsbooms von einem Fahrstuhleffekt gesprochen hat, der alle sozialen Schichten gleichermaßen am Wohlstand partizipieren ließ, hörten die Menschen doch nicht auf, ein Gespür für soziale Unterschiede zu haben, und dies diente häufig als Begründung, nicht zu wählen.
Das Versprechen der 20 Jahre lang regierenden Union an die westdeutschen Wähler war seit Konrad Adenauer ein recht simples: Wählt uns, und ihr werdet euch um Politik nicht mehr zu sorgen haben. Die Wahlteilnahme wurde auch deshalb zur staatsbürgerlichen Pflicht erklärt, weil sie als einzige Form der Teilhabe konzipiert war. Jenseits des Wahltags sollte der Wahlbürger sich seinem privaten Fortkommen widmen. Zur Wählermobilisierung dienten außerdem Schreckbilder des Untergangs. In den 1950er Jahren stellte die Union die Sozialdemokraten als Handlanger Moskaus und als Sargnagel der jungen Bundesrepublik dar. Noch 1965 erschöpfte sich die inhaltliche Auseinandersetzung des Kanzlers Ludwig Erhard mit dem Grundsatzprogramm der SPD darin, zu konstatieren, fände es Umsetzung, dann wäre Deutschland verloren. In ihrer positiven Wahlwerbung weckte die Union zur selben Zeit avanciertere Konsumträume: Ein junges Paar besichtigt im CDU‑Wahlwerbespot 1965 sein Einfamilienhaus im Rohbau, fährt den neuesten Wagen, trägt feinen Zwirn und fliegt in den Urlaub. Die SPD galt zunächst als Spielverderberin, weil sie auf die anhaltenden sozialen Probleme hinwies. Erst als sie sich unter Willy Brandt und anderen Parteireformern der Erzählung vom unaufhaltsamen, universellen Wohlstand in der Marktwirtschaft öffnete, erschien sie als eine „moderne“ Kraft.
Doch ein heißer Draht zum Wähler ging damit nicht unbedingt einher. 1965, auf dem Gipfelpunkt der ungebrochenen Wachstumsentwicklung, filmte ein Kamerateam die SPD-Wahlkämpfer bei der Arbeit in der Fußgängerzone. Eine Frau mittleren Alters steht mit verschränkten Armen vor einem SPD-Mitglied und fragt: „Was soll man denn jetzt nun wählen? – Ich weiß es nicht.“ – „Wir können versuchen, Sie zu informieren…“, antwortet der Wahlkämpfer. – „Ja, was nützt mir das denn?“, fragt die Wählerin. „Ich bleib ja doch, was ich bin.“ – „Das sollen Sie auch bleiben, was wollen Sie sonst werden?“ fragt der Sozialdemokrat. Und dann versucht er zu raten, was sie wollen könnte, und offenbart dabei sein banales Wählerbild. „Sie wollen gut leben… Sie wollen ruhig leben… Sie wollen was haben für’s Alter…“ – Die Frau bejaht zunächst, doch präzisiert dann: Vor allem wolle sie keinen Krieg. Nun, so belehrt sie der Sozialdemokrat, das wolle ja nicht einmal die CDU.
In den folgenden Jahren werden solche Kontakte zwischen Wählern und Parteien politischer. Die Studentenbewegung politisiert die lokalen Räume und trägt die spontane Debatte in die Fußgängerzonen hinein. Die APO diskutiert im Bundestagswahlkampf 1969 mit Wählenden und klärt sie beispielsweise über die im Aufstieg befindliche NPD auf. Um den öffentlichen Raum nicht der APO zu überlassen, folgen die Parteien ihr nach. Es beginnt die Ära der Straßendiskussionen. Dabei spüren sie allenthalben, dass die Wähler „politischer“ geworden sind, wie sie es nennen. Ob auf der Straße oder im Versammlungssaal: Die Politisierung des Alltags ist getragen von der politischen Sachorientierung. Bürger wollen nun über konkrete Gesetzesvorhaben informiert werden und dazu Fragen stellen. Viele zeigen sich gut genug informiert, um mit ihren politischen Repräsentanten auf Augenhöhe darüber zu diskutieren.
Hintergrund ist gerade nicht die anhaltende wirtschaftliche Prosperität, sondern eine erste Delle in der Wachstumsentwicklung. 1967 erlebt die Bundesrepublik die erste kleine Rezession ihrer Geschichte, die Nerven liegen blank, und die sogenannte Geldwertstabilität erscheint nicht garantiert. Für viele geht es 1969 nicht nur um einen ersehnten Politikwechsel und um die Neue Ostpolitik, sondern um nichts Geringeres als die Frage, ob der Wohlstand gehalten werden kann. In dieser Situation fangen Wählerinnen und Wähler an, genau zuzuhören und im Zweifel auch ihre Meinung darlegen zu wollen. 1969 zeigt sich: Wirtschaftliche Verunsicherungen sind große Gelegenheiten für die Demokratie, und es macht sich bezahlt, dass die Parteien in den Austausch gehen, auch wenn sie parallel freilich weiterhin auf die Experten vertrauen. Zu jener Zeit setzt ein Ansturm neuer Mitglieder ein, wie ihn SPD und CDU noch nie erlebt haben und auch nie wieder erleben werden.
Selbst das Schlachtfeld zu betreten, bedeutet für Wählerinnen und Wähler nun auch, offen vor Reportern oder in der Lokalzeitung ihre Wahlentscheidung kundzutun oder gleich werbend als „Testimonials“ für eine Partei aufzutreten. In den 1970ern wirken zahlreiche Bürger in Wählerinitiativen mit, um eine Partei und ihre Kandidaten vor Ort zu unterstützen. Sie kleben sich Parteiaufkleber aufs Auto und bitten bei Parteiverbänden um Informationsmaterial. Mit dieser neuen Bekenntnisfreude wandelt sich auch die Atmosphäre am Wahltag. Die Wahlparty bürgert sich ein, das kollektive Empfangen der Wahlergebnisse vor dem Fernseher. Parteiversammlungen und lokale Wahlpartys der Parteien sind häufig mit Live-Musik und Disco verbunden.
All dies vollzieht sich in einem Kontext, der aus der Vogelperspektive durchaus düster anmutet: Anfang der 1970er kommt die Inflation, es folgt die erste Ölpreiskrise und schließlich eine Debatte um die globalen Umweltfolgen des Booms. Parallel steigen auch die Mieten, gibt es eine intensive Debatte um Autofluten, Verkehrschaos und Luftverschmutzung in den Städten. Die sozialliberale Regierung versucht, ihr Reformprogramm durchzusetzen und dabei auch auszuloten, wieviel der Staat sozial und ökologisch ins freie Spiel der Kräfte intervenieren soll. Gerade bei der Verkehrsregulierung zeigen sich jedoch Grenzen nicht nur der Akzeptanz, sondern auch des Willens. Die Frage, wo künftig bezahlbares Öl herkommen soll, wird wichtiger als die Frage des Tempolimits auf Autobahnen. 1974 bricht die Wirtschaft ein, 1975 schrumpft das Bruttoinlandsprodukt um bislang nie dagewesene 0,9 Prozent. Parallel dazu schwellt ein Diskurs um die Krise des Sozialstaats an, der einigen zu wohltätig erscheint. Die seither anhaltende Kontroverse um mehr oder weniger Staatshandeln ist hier bereits angelegt. Entlang der Frage nach dem richtigen Weg aus der Krise und dem Ausmaß staatlicher Steuerung bilden sich zwei polarisierende Lager, die sich in den 1980ern leicht modifizieren, aber im Grunde fortleben. Als die Arbeitslosenquote Ende der 1970er Jahre steigt, zeigt sich ein neues politisches Problemfeld, das nach der Abwehr der NPD eigentlich schon als überwunden galt: das rechtsextremistische Bekenntnis, vor allem unter Jugendlichen.
Seit den 1970er Jahren liegen so im Grunde alle Themen, die uns heute beschäftigen, auf dem Tisch. Zugleich ist ein Geist aus der Flasche, der sich nicht mehr einfangen lässt: die Sorge um das Nicht- oder das Negativwachstum. Dabei ist festzuhalten, dass substanzielle Wohlstandsverluste im Privatbereich in der Geschichte der Bundesrepublik bis 2009 nicht zu verzeichnen sind. In den mutmaßlich krisenhaften 70ern werden die verkauften Automarken eher größer und teurer, Einkommen und Vermögen nehmen oberhalb des Medianeinkommens zuverlässig zu. Einzig Preissteigerungen und Steuersätze führen zu Frustrationen und zu Sehnsüchten nach Steuererleichterungen.
Nach dem Machtwechsel hin zu Schwarz-Gelb unter Helmut Kohl stehen die Wahlen der 1980er Jahre im Zeichen der Wirtschaftskonsolidierung. Die Union und die ihr wohlgesinnte Presse reaktivieren dabei ein älteres Wählerbild, wonach der westdeutsche Wahlbürger nicht mehr erwarte als Wachstum, Wohlstand, Konsummöglichkeiten und Freiheit zum Privatvergnügen. Kohl hat Glück, dass die globale Konjunktur bald wieder anspringt und die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Nach dem erneuten Wahlsieg der Union 1987 resümiert ein Kommentator in der FAZ, der wichtigste Grund dafür sei, „daß das Volk sich ziemlich wohl fühlt, weil es ihm materiell gutgeht. […] Im Land herrscht Wohlstand, und die Bevölkerung ist zufrieden.“ Die äußerst vitalen außerparlamentarischen Kräfte, die Friedensbewegung, die Umweltbewegung und die Anti-AKW-Bewegung, werden als „Protestler“ diffamiert, die mit irrationaler Angst die Bürger aufzuwiegeln versuchen. Demgegenüber propagiert die Regierung ein Bild des Wählers als homo oeconomicus, dem sie „neue Zuversicht“ gebe und von der „lähmenden Zukunftsangst“ befreien will. Das sich formierende rot-grüne Lager, das schon damals für eine sozial-ökologische Neugestaltung der Marktwirtschaft eintritt, wird von Heiner Geißler im Wahlkampf 1987 als größte Gefahr für die „Zukunft“ der Bundesrepublik apostrophiert. Die Grünen, die 1983 in den Bundestag einziehen, gelten – heute kaum mehr vorstellbar – als Gegner des Staates.
Die Folge dieser konservativen „Wende“-Rhetorik der 1980er Jahre ist, dass existenzielle Bedürfnisse jenseits des Wirtschaftswachstums als irrational abgetan werden. Das gilt auch für die Frage der Nachrüstung, also der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Territorium, die im Bundestag Ende 1983 eine Mehrheit findet, obwohl laut demoskopischer Erhebungen zwei Drittel der Westdeutschen dagegen sind. 1987 sinkt die Wahlbeteiligung auf ihren historischen Tiefstand seit 1949. Gerade jungen Westdeutschen attestiert die Presse fehlendes Vertrauen in die politischen Institutionen, auch fehlenden Respekt, den sie auf einen schwer zu bändigenden Individualismus zurückführt. Die 1980er sind nicht nur in dieser Hinsicht Wurzeln unserer Gegenwart, sondern auch mit Blick auf die Rede vom Populismus und die Ausbreitung rassistischer, antisemitischer und antitürkischer Hetze und Gewalttaten. Es ist dies das westdeutsche Szenario, vor dem die Ostdeutschen 1990 als Teilvolk hinzutreten.
Die Bilder, die in der Bundesrepublik von diesem ostdeutschen Teilvolk kursieren, würdigen es zwar für die Revolution von 1989, zeichnen es aber ansonsten als erziehungsbedürftig: Sowohl die Marktwirtschaft als auch die Demokratie müsse es nach 40 Jahren Sozialismussozialisation erlernen. Die demokratiepolitischen Fragen, die im Moment der Friedlichen Revolution nicht nur in der Bürgerbewegung aufkommen, bleiben angesichts der enormen wirtschaftlichen Herausforderungen marginal. Auch weite Teile des rot-grünen Lagers erblicken in den Ostdeutschen eher willfährige Konsumbürger jener Art, wie Helmut Kohl sie haben möchte. Deshalb kann das rot-grüne Lager in ihnen nur schwer Allianzpartner für ihr sozial‑ökologisches Projekt erblicken. Die neuen Bundesbürger reagieren mit geringer Wahlbeteiligung, auch wenn sie zunächst vielfach den beiden großen Volksparteien ihre Stimme geben. Die PDS wird indes parteiübergreifend dämonisiert, dazu bilden sich sogar Wahlabsprachen zwischen CDU und SPD in einzelnen Wahlkreisen Ostdeutschlands, um PDS-Kandidaten zu verhindern. Die PDS wird im Westen nicht so sehr als Partei der alten SED-Kader problematisiert wie in Teilen der ostdeutschen Wählerschaft, sondern als linksradikale Kraft, die gegen die „Besatzer aus dem Westen“ Ressentiments schüre und im Westen versuche, die „ewigen Protestler“ einzusammeln. Kanzler Helmut Kohl, inzwischen berüchtigt für seinen Berufsoptimismus, nennt sie „Miesmacher“. Für sachliche Auseinandersetzungen ist so: wenig Platz.
Im Kielwasser des schwarz-gelben Wirtschafts- und Zukunftsoptimismus macht sich, noch bevor das Bruttoinlandsprodukt 1993 einbricht, ein Begriff breit, der 1992 zum Wort des Jahres gekürt wird: „Politikverdrossenheit“. Der einst blühende Straßenwahlkampf erscheint im Wahlkampf 1994 nicht mehr als Forum sinnvoller politischer Auseinandersetzungen. „Die in Bonn“ ist zu einer eingeführten Formel für eine isolierte Politikerkaste geworden; Wähler halten ihren Kandidaten in der Fußgängerzone vor, von „dicken Diäten“ zu leben, während sie sich selbst am Hauptbahnhof die Brezel für 1,50 DM nicht mehr leisten könnten. Die Rede von der Politikverdrossenheit verliert ihre Aktualität auch nicht, als die Wähler 1998 und dann auch 2005 neue Politikwechsel einleiten, die durchaus mit Hoffnungen verbunden sind. Der populäre Volkskanzler Gerhard Schröder und die ostdeutsche Kanzlerin Angela Merkel entpuppen sich beide auf ihre Art als Quellen der Enttäuschung und Entwurzelung ihrer angestammten Wählerklientele – Schröder rückt die SPD nach rechts, Merkel rückt die CDU nach links. Die Ergebnisse ihrer Kanzlerschaften mögen aus einer staats- oder gesellschaftspolitischen Perspektive positiv sein, doch für einen nicht unbeachtlichen Teil der Wähler vergrößert sich so die Qual der Wahl, weil ihnen die Gewissheit über den Markenkern der beiden Volksparteien abhanden kommt.
Die größte Bedrohung für den Wirtschafts- und Wohlstandsstandort Deutschland war weder die Wiedervereinigung noch die Corona-Krise, misst man das an der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Die größte Herausforderung war vielmehr die Bankenkrise. Um 5,5 Prozent schrumpft das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr ging es um 0,2 Prozent zurück, 2023 um 0,3 Prozent, und selbst im Corona-Jahr 2021 „nur“ um 4,2 Prozent. Die Bankenkrise ist auch und vor allem eine Krise der Gier an den Finanzmärkten, die viele involviert hat: Investmentfonds, aber auch Kleinanleger, Sparer oder klamme Kommunen ließen sich vom Versprechen dicker Renditen dazu hinreißen, an den Segnungen eines weithin unregulierten Finanzmarkts teilzuhaben. Mit 2009 verändert sich auch in der CDU die Rhetorik; dem Zeitalter der Deregulierung und der staatlichen Zurückhaltung wird das Ende bescheinigt. Wolfgang Schäuble fragt in einem Artikel in der FAZ: „Wie schaffen wir es, dass in einer Marktwirtschaft Freiheiten verantwortlich genutzt werden?“ An selber Stelle plädiert der renommierte Demokratieforscher Wolfgang Merkel für einen Freiheitsbegriff, der Freiheit nicht auf Konsumoptionen reduziert.
Doch die Frage, was im 21. Jahrhundert ein verantwortlicher und demokratiekompatibler Freiheitsbegriff sein kann, wird nicht zum Inhalt politischer Kommunikation im Umfeld der folgenden Wahlen. Vielmehr wird die staatliche Intervention zur Stabilisierung des Finanzsektors, mit einem sogenannten Bankenrettungsschirm in Höhe von 500 Milliarden Euro, zum eigentlichen Todesstoß für die Volkspartei SPD. Peer Steinbrück, der SPD-Finanzminister in der Großen Koalition, kann noch so oft betonen, dass es ihm auch um Sicherheit für Sparer und für das gesamte Investitionsgeschäft ging – die Kosten für die Stabilisierung des Finanzsektors und für wirtschaftliche Konjunkturprogramme, die die Regierung auflegen muss, übersteigen offensichtlich jedes Maß an Vorstellungskraft vieler SPD‑Wähler. Die Wahlbeteiligung bei den Post-Bankenkrisen-Wahlen von 2009 ist die niedrigste bei nationalen Wahlen in Deutschland seit 1898: Nur 72,2 Prozent der Westdeutschen gehen zur Wahl; in Ostdeutschland erreicht die Quote nicht einmal zwei Drittel der Wahlberechtigten. Erstmals seit 1949 liegt die Wahlbeteiligung vor allem in ärmeren Wahlkreisen unter 60 Prozent. Die SPD verliert über 11 Prozent. Sie verliert ihren Status als Volkspartei auch und vor allem dabei, als Regierungspartei den Wohlstands- und Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern. Dabei verliert sie und verliert der bundesrepublikanische Demokratiestandort jene Wählergruppen mit dem geringsten Vermögen.
Der Evergreen vom bedrohten Wirtschaftsstandort Deutschland dröhnt heute wieder durch die Straßen. Denken Sie daran, dass dies – wie die den Wahlkampf eingenebelte Migrationsdebatte – nicht nur eine Zustandsbeschreibung ist, sondern auch ein Versuch zu bestimmen, wie Sie wählen sollen. Ihre Entscheidung aber ist frei.