Deutliche Zugewinne von SPD und Grünen, massive Verluste bei der Union, Einbußen auch bei der Linken - die Bundestagswahl hat die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland verändert. Doch ein Trend der Wahl 2017 bestätigte sich: Im Osten feierte die AfD Erfolge. Beobachter und Politikwissenschaftler versuchen sich daran, die "Ostpartei" AfD zu erklären.
Die AfD hatte bei der Bundestagswahl am 27. September 2021 10,3 Prozent der Zweitstimmen erhalten. Sie lag damit unter ihrem Ergebnis von 2017. Damals hatten 12,6 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei den Rechtspopulisten gemacht. Kandidaten der AfD errangen diesmal 16 Direktmandate - alle in Ostdeutschland. In Sachsen und Thüringen wurde sie stärkste Kraft.
In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern lag die AfD jeweils auf Platz 2. Zwischen 18 und 24 Prozent hat die Partei im Osten erreicht, wo sie in vier Ländern vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall geführt wird. Ein Fünftel bis ein Viertel der Wähler, die meisten von ihnen Männer, haben eine Partei gewählt, die deutliche Bezüge zum Rechtsextremismus aufweist.
Auf offener Bühne in der Bundespressekonferenz stritt die AfD-Spitze am Montag nach der Wahl in Berlin über das Wahlergebnis. "Unter dem Strich wird man das als Erfolg nicht vermelden können", analysierte Parteichef Jörg Meuthen gerade mit Blick auf die Ergebnisse im Westen der Republik. Sein Co-Chef Tino Chrupalla, der sein Direktmandat in Sachsen verteidigte, sagte hingegen: Angesichts der starken Werte fast überall im Osten ist er mit der Bundestagswahl insgesamt zufrieden. Chrupallas Co-Spitzenkandidatin Alice Weidel sagte, dass sie sich das Ergebnis "nicht schlecht reden lasse, von niemandem". Die Führung der AfD ist seit Langem zerstritten.
Der Rechtsextremismusexperte und Soziologe Matthias Quent
sagte, im Osten habe sich die AfD ein "rechtsradikales Milieu" etablieren können, das nicht so anfällig sei etwa für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz wie im Westen. In Ostdeutschland sei die politische Kultur konservativer und rechtsoffener als in Westdeutschland. Besonders die oft regierende CDU im Osten habe die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus gescheut, kritisierte Quent.
Quent sieht auch "sozialstrukturelle Gründe" für die starke AfD im Osten, beispielsweise die Abwanderung von Menschen in den Westen in den 1990er-Jahren. Die AfD habe in Ostdeutschland kaum hinzugewonnen, aber sie habe sich lokal verankert, Direktmandate gewonnen und Strukturen aufgebaut. Dies sei sehr beunruhigend, sagte der Forscher. "Die AfD und ihr Milieu sind offensichtlich so weit etabliert und radikalisiert, dass sie für Zugänge von außen nicht mehr erreichbar sind."
Die AfD werde für ihren Rechtsradikalismus gewählt und nicht trotz dessen - und sei im Unterschied zum Westen im Osten auch bei jungen Wählerinnen und Wählern erfolgreich, sagte der Rechtsextremismusexperte. Die Partei mache Angst vor Einwanderung, vor Coronaimpfungen, gendergerechter Sprache und ökologischer Transformation. Quent nannte als Beispiel den thüringischen Landeschef Björn Höcke. Es gelinge der AfD außerdem immer stärker, sich als "Partei der ostdeutschen Interessen in Szene zu setzen und zu inszenieren", sagte Quent. Es werde suggeriert, die Bundesrepublik sei eine Diktatur so ähnlich wie früher das SED-Regime und man inszeniere sich als "Freiheitskämpfer".
Der
Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel
vermutet, dass sich die AfD weiter radikalisiert, "wenn man die Entwicklung der letzten beiden Parteitage zum Beispiel mal nimmt". Es seien "radikale Positionen, die vorher in der AfD so klar nicht durchgekommen sind, mehrheitsfähig geworden". Die weitere Entwicklung werde man auch am nächsten Bundesparteitag der AfD festmachen können.
Die Stärke der AfD ist auch eine Schwäche der politischen Konkurrenz. Das zeigt das Beispiel der Thüringer CDU: Sie ist in den vergangenen Jahren quasi implodiert. Zudem war Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Osten besonders unpopulär. Und die CDU in Thüringen hatte den geschassten Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen nicht trotz, sondern wegen seiner AfD-ähnlichen Positionen nominiert.
Die Linke in Thüringen erzielte - ohne den beliebten Ministerpräsident Bodo Ramelow - schwache 11 Prozent. Und die Grünen müssen erneut erkennen, dass es ihnen im Osten nicht gelingt, Wähler über die Kernklientel hinaus zu mobilisieren. Im Erfolg der SPD aber – in Thüringen mit gut 23 Prozent fast dreimal so viel wie bei der letzten Landtagswahl – können nicht nur Sozialdemokraten erkennen, was es ausmacht, einen erkennbaren Kurs und einen überzeugenden Kandidaten an der Spitze zu haben. Noch deutlicher wird das in Mecklenburg-Vorpommern mit Manuela Schwesig.
In Sachsen ist ein Vorteil der AfD, dass die anderen Parteien in vielen Gemeinden kaum präsent sind. Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer hatte schon vor der Wahl vorausgesagt, die Stärke der AfD in Ostdeutschland werde von Dauer sein. "Die AfD hat sich auch organisatorisch in einzelnen Milieus und Gruppen festgesetzt, auch in Betrieben", sagte der Professor der TU Dresden. Als Kümmerer vor Ort präsentiere sich die Partei.
Nach der Wahl wurde der sächsische CDU-Abgeordnete Marco Wanderwitz als Chef der sächsischen CDU-Landesgruppe im Bundestag abgelöst. Wanderwitz - auch Ostbeauftrager der Bundesregierung - hatte im Sommer die Meinung vertreten, Ostdeutsche hätten eine stärkere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien als Westdeutsche. "Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind", sagte er und löste damit Widerspruch und Kritik aus.
(Quellen: Henry Bernhard, Alexander Moritz, dpa, tei)