Lebenshilfe Berlin, ein schmuckloses Bürogebäude in Berlin-Mitte, umgeben von Plattenbauten. Hier, in der Heinrich Heine Straße, arbeitet Christian Specht. Der 49-Jährige ist ehrenamtliches Vorstandsmitglied der Lebenshilfe, der gemeinnützigen Selbsthilfevereinigung, die sich vor allem um geistig Behinderte kümmert:
"Ja, ich habe mich immer sehr für Politik interessiert und will, dass Menschen mit Behinderung auch eine Stimme kriegen", sagt Specht.
Eigentlich wollte sich Christian Specht mit mir in seinem Lieblingscafe treffen, leider ist es gerade geschlossen und so sitzen wir an seinem Arbeitsplatz. Christian Specht greift zu seiner Kaffeetasse, schiebt einen Stapel Papiere zur Seite und erzählt mir von seiner Arbeit für die Lebenshilfe. Er musste von Geburt an mit einer Lernschwäche klarkommen, doch seine Beeinträchtigung hat ihn nie daran gehindert, sich einzumischen.
Seit anderthalb Jahren ist er nun gleichberechtigter Vorstand der Lebenshilfe – einer von Fünfen. Specht will den Benachteiligten eine Stimme geben – und dafür sorgen, dass sie diese auch in der Politik haben, wenn wieder mal gewählt wird.
"Was ich mir wünsche: Wenn auch Menschen mit Behinderung auf einer Liste mit antreten dürfen, auf einer Parteiliste, aber da gibt es eben auch Berührungsängste. Das wollen eben manche Parteien auch nicht."
85.000 Menschen mit Behinderung nicht wahlberechtigt
Die Berührungsängste sind da, und das obwohl sich die Große Koalition eigentlich darauf verständigt hat, die sogenannten Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderung abzuschaffen. In Brandenburg dürfen Menschen, die auf einen Betreuer angewiesen sind, an Landtagswahlen teilnehmen, in Hessen durften sie es nicht.
Wenn es um Bundestags- und Europawahl geht, sind etwa 85.000 Behinderte nicht wahlberechtigt. Das soll sich bald ändern, in Zeile 3.940 des Koalitionsvertrages heißt es:
Unser Ziel ist ein inklusives Wahlrecht für alle. Wir werden den Wahlrechtsausschluss von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, beenden!
Noch ist das allerdings ein frommer Wunsch. Und Jürgen Dusel, seit dem Frühjahr Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, wird allmählich ungeduldig: "Ich wünsche mir da schon ein bisschen mehr Mut. Ich bin der Meinung in 2018: Wir sollen und wollen mehr Teilhabe wagen!"
Der 53-Jährige ist von Geburt an stark sehbehindert. Dusel ist ein Vertrauter von Arbeitsminister Hubertus Heil, wie dieser Sozialdemokrat.
"Ich habe schon die Wahrnehmung, dass die SPD da sehr innovativ ist und engagiert ist. Und wir merken auf der anderen Seite, sag ich mal, so eine gewisse Zurückhaltung von CDU-Abgeordneten."
CDU zeigt bisher wenig Engagement
2013 lehnen die Christdemokraten einen ersten Versuch ab, das Wahlrecht entsprechend zu ändern. Können sich Menschen mit geistigem Handicap überhaupt an der politischen Willensbildung beteiligen? Wird im Bundestag gefragt, der Abgeordnete Reinhard Grindel, heute DFB-Präsident, tritt damals auf die Bremse und hält den Grünen vor, "dass sie aus reinen Wahlkampfgründen hier mit diesem Gesetzentwurf vorpreschen wollen, um bei sozialen Organisationen, Menschen mit Behinderung zu punkten. Das ist stillos, unerträglich, Herr Kollege!"
"Das ist nicht richtig, dass es bei der Union hängt. Wir haben in der letzten Sitzungswoche ein erstes Gespräch geführt." Nimmt gut fünf Jahre später Willfried Oellers seine Partei in Schutz, er ist behindertenpolitischer Sprecher der Christdemokraten. "Wir haben da einiges zu regeln, eine Wahl darf nicht angefochten werden können, weil ein Behinderter seinen Betreuer mit in die Kabine nimmt."
"Darüber hinaus auch strafrechtliche Themen, die da zu berücksichtigen sind, dass natürlich die Menschen mit Beeinträchtigung auch entsprechend geschützt werden, selbständig ihr Wahlrecht ausüben zu können."
Haltung der AfD zu Behinderten wirft Fragen auf
Wenn wir das nicht anständig ordnen, wird es Klagen geben, um ihnen das Wahlrecht im Einzelfall wieder abzuerkennen, fürchtet Oellers. Ist die AfD dabei, die Stimmung im Lande auch auf diesem Gebiet zu verändern? Eine Anfrage der Rechtspopulisten an die Bundesregierung bezüglich einer Zunahme geistiger Behinderung durch den Flüchtlingszuzug hat viele aufgeschreckt. Auch Christian Specht von der Lebenshilfe:
"Ich habe Angst, dass wir eine Partei drin haben im Bundestag, die gegen Behinderte sind. Da gab es eine Anfrage irgendwie mal, die wollten wissen, wie viel Menschen mit Behinderung es gibt."
Die grüne Abgeordnete Corinna Rüffer drängt die Große Koalition dazu, endlich die Gesetzesänderung anzupacken, Rüffer nimmt das Beispiel von Menschen mit Down-Syndrom, denen sie ein generelles Wahlrecht geben möchte:
"Erstens muss man sagen, es gibt Leute mit Down-Syndrom, die ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorzuweisen haben. Ich glaube, es gibt gesellschaftlich eine Unterschätzung dieser Personengruppe. Aber dann gibt es natürlich Leute mit Beeinträchtigungen, mit denen kann man aber viele Dinge vorher besprechen.
Man kann mit denen Parteiprogramme durchgehen. Ich finde auch, dass Abgeordnete dahin zu gehen, in die Werkstätten für Behinderte Menschen, und die sollten denen ebenso Rede und Antwort stehen wie sie beim Juristenverband vorbeischauen!"
Zu zweit in die Wahlkabine - das geht bisher nicht
Christian Specht wollte bei der Bundestagswahl wählen gehen, bekam aber Probleme, weil er seine Betreuerin mitbrachte. Ganz ohne geht es nicht, meint er und schildert sein Problem:
"Da sind dann die ganzen Parteien, und ich bin froh, wenn ich eine Begleitung hab, die mich unterstützt. Stell Dir mal vor, ich bin jetzt in der Wahlkabine und kreuz die AfD an, das ist nicht mein Sinn!"
Und dann erzählt er noch einmal davon, dass es doch schön wäre, wenn Menschen mit Behinderung aktiv Politik gestalten könnten. Specht versucht das als Mitglied des Behindertenbeirates von Berlin Kreuzberg, er engagiert sich im Rundfunkrat des RBB. Mehr solcher Beispiele wünschen sich auch Sozialdemokrat Jürgen Dusel und die Grüne Corinna Rüffer.
"Generell zu sagen, dass bestimmte Personen nicht wählbar sind, das finde ich sehr arrogant", sagt Jürgen Dusel.
Corinna Rüffer: "Wenn man sich hier im Bundestag umschaut und sich die Frage stellt, wer vertritt denn eigentlich Menschen mit Behinderung, wird man feststellen, dass wir kaum jemanden haben!"
Kaum mehr Hoffnung auf Veränderung
Christian Specht allerdings hat den Glauben daran verloren, dass die Wahlrechtsänderung rechtzeitig zur Europawahl noch kommen könnte.
Ja, es steht im Koalitionsvertrag, seufzt er, aber was heißt das schon. "Die kümmern sich nicht um solche Themen, um das Wahlrecht für Menschen mit Behinderung, das wird einfach zur Seite geschoben!"