Die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative gehört zu den Grundpfeilern bürgerlicher Demokratien. Wo autoritäre Kräfte an die Macht kommen, greifen sie die Unabhängigkeit der Justiz an. Um das Bundesverfassungsgericht besser abzusichern, hatten sich das Bundesjustizministerium, die Parteien der Ampelkoalition und die Unionsfraktion zusammengetan. Außen vor blieben AfD, Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Bei den parteiübergreifenden Absprachen ist ein Papier zur „Resilienz des Bundesverfassungsgerichts“ herausgekommen. Die Änderungen sollten noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Dazu ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat und im Bundesrat nötig. Nach dem Bruch der Ampelkoalition wird nun diskutiert, ob die Reform noch vor der kommenden Bundestagswahl am 23.2.2025 umgesetzt wird.
Inhalt
- Auf welche Änderungen haben sich Ampel und Union geeinigt?
- Wie könnte das Verfassungsgericht bislang lahmgelegt werden?
- Welche Beispiele gibt es für das Außerkraftsetzen, Behindern oder die Instrumentalisierung von obersten Gerichten?
- Reichen die Änderungen aus, um das Bundesverfassungsgericht zu schützen?
- Was passiert mit der Reform nach Bruch der Ampelkoalition?
Auf welche Änderungen haben sich Ampel und Union geeinigt?
Das Bundesverfassungsgericht ist ein Verfassungsorgan. Dieser Status ist bisher nicht umfassend im Grundgesetz verankert, sondern in einfachen Gesetzen wie dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951. Diese Bundesgesetze lassen sich mit einfacher Mehrheit im Bundestag ändern; bei Änderungen des Grundgesetzes braucht es dagegen eine Zweidrittelmehrheit.
Das Bundesministerium der Justiz und die Vertreter der Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU wollen „die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Gerichts im Grundgesetz“ absichern, wie es in einer Erklärung aus dem Juli hieß.
Kern der vorgeschlagenen Absicherung des BVG sind Änderungen zweier Artikel des Grundgesetzes. Was sich in der bisherigen Geschichte des Gerichts bewährt hat, soll in die Artikel 93 und 94 aufgenommen werden.
Die Punkte sollen ins Grundgesetz:
- der Status des Gerichts
- die Amtszeit der Richter: zwölf Jahre
- die Altersgrenze der Richter: 68 Jahre
- die Zahl der Richter: 16
- die Zahl der Senate: zwei
- der Ausschluss der Wiederwahl der Richter
- die Fortführung der Amtsgeschäfte bis zur Wahl eines Nachfolgers
- die Bindungswirkung der Entscheidungen des Gerichts
- die Geschäftsordnungsautonomie des Gerichts
Änderungen bei der Richterwahl
Ein weiterer Punkt ist die Wahl der Richterinnen und Richter. In anderen Ländern wie Polen oder Ungarn war die Richterernennung mit einer einfachen Mehrheit immer wieder ein Einfallstor für die Regierung, um die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben.
In Deutschland braucht es dagegen eine Zweidrittelmehrheit. Die Richterwahl beruht somit auf einem breiten Konsens unter den in der Bundes- und Landespolitik vertretenen Parteien. Um zu verhindern, dass eine Partei, die über ein Drittel der Stimmen im Bundestag verfügt, die Richterwahl blockiert, wurde eine Lösung gefunden.
Wie diese aussieht, erläuterte der inzwischen zurückgetretene Justizminister Marco Buschmann: „Dass nämlich, wenn der Bundesrat blockiert wäre, der Bundestag, wenn der Bundestag blockiert wäre, der Bundesrat als Ersatzwahlgremium einschreiten kann.“ Er fügte hinzu: „Unsere feste Überzeugung ist, dass es nicht passieren wird, dass beide gleichzeitig blockiert sind.“
Wie könnte das Verfassungsgericht bislang lahmgelegt werden?
Das Bundesverfassungsgericht (BVG) könnte durch zwei Methoden lahmgelegt werden. Zum einen, indem im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) festgelegt wird, wie Richter zu arbeiten haben. Das am 17. April 1951 in Kraft getretene Regelwerk kann vom Bundestag mit einfacher Mehrheit geändert werden.
So könnte der Gesetzgeber das BVG lahmlegen, indem er die Geschäftsordnung des Gerichts ändert. Eine andere Möglichkeit wäre, dass den bisher zwei Senaten ein dritter hinzugefügt würde. Dieser könnte mit politisch willfährigen Richtern besetzt werden oder an den anderen Senaten vorbei über wichtige politische Fragen entscheiden.
Scheinbare Kleinigkeiten mit großer Wirkung
Auch kleine Veränderungen könnten das Bundesverfassungsgericht blockieren, erläutert Johannes Fechner, Parlamentarischer Geschäftsführer und Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion. Als Beispiel nennt er, dass alle Einträge nach Eingangsdatum abgearbeitet werden müssten oder die Vorgabe, alle Entscheidungen ausführlich zu begründen. „Das kann dazu führen, dass das Verfassungsgericht nicht mehr dazu kommt, verfassungswidrige Gesetze aufzuheben“, so Fechner.
Zum anderen könnte das Bundesverfassungsgericht lahmgelegt werden, in dem die Ernennung von Richtern blockiert wird. Denn sie werden jeweils zur Hälfte mit einer Zweidrittelmehrheit vom Bundestag und Bundesrat gewählt. Wenn eine Partei in einer der beiden Parlamentskammern mehr als ein Drittel der Stimmen hätte, könnte sie auf destruktive Weise eine Richterwahl verunmöglichen, erläutert Ulf Buermeyer von der Gesellschaft für Freiheitsrechte.
Welche Beispiele gibt es für das Außerkraftsetzen, Behindern oder die Instrumentalisierung von Obersten Gerichten?
Wenn autoritäre Parteien an die Macht kommen, gehen sie meist gegen demokratische Institutionen wie oberste Gerichte vor. Die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt von der Harvard-Universität haben in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ Merkmale dafür zusammengetragen.
Im ersten Schritt werden „Schiedsrichter“ wie Gerichte attackiert; anschließend werden neue Regeln etabliert. Beispielhaft dafür war das Vorgehen der PiS-Regierung in Polen oder der Staatsumbau in Ungarn unter Viktor Orbán; aber auch die von Benjamin Netanjahu geplante Justizreform in Israel zielen beispielsweise auf eine Schwächung des Rechtsstaats ab.
Die politisierte Justiz in Polen unter der PiS
Die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat während ihrer Regierungszeit (2015–2023) die Justiz in ihrem Sinne umgebaut. Darauf reagierte die Europäische Union mit einem Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Der Europäische Gerichtshof urteilte zudem, die Reformen verstießen gegen EU-Recht.
Die PiS beschnitten die Eigenständigkeit der Justiz in vielen Bereichen. So wurde unter anderem die Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs geändert, eine Disziplinarkammer eingesetzt, die Eigenständigkeit des Generalstaatsanwalts beschränkt, das Rentenalter für Richter heruntergesetzt, um genehme Juristen einzusetzen. Die seit Dezember 2023 regierende Regierung von Donald Tusk hat angekündigt, die Justizreform wieder rückgängig zu machen.
Ungarn: Justiz unter Orbáns Kontrolle
Seit 2010 ist in Ungarn die Partei Fidesz an der Macht. Seitdem wurde die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt. So wurde etwa das Verfassungsgericht in ihren Zuständigkeiten beschränkt. Zudem wurde ein Nationales Justizamt geschaffen, um die richterliche Selbstverwaltung einzuschränken.
Die EU hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn eingeleitet
; auch wurden EU-Gelder für Budapest zurückgehalten.
Israel: Kampf um das Oberste Gericht
Weil es in Israel keine Verfassung gibt, ist das Oberste Gericht eine wichtige Kontrollinstanz. Doch Premierminister Benjamin Netanjahu will die Rechte der Richter beschränken. Dafür hat er im Januar 2023 eine Justizreform in die Wege geleitet. Der Umbau des israelischen Rechtssystems zielt vor allem darauf ab, die Gerichtsbarkeit des Landes zu schwächen und die Macht von Parlament und Regierung zu stärken.
Gegen das Vorhaben gab es immer wieder Massenproteste. Kritiker sehen die Demokratie in Israel gefährdet. Einen Teil der Reform hat das Oberste Gericht im Januar 2024 gekippt.
Reichen die Änderungen aus, um das Bundesverfassungsgericht zu schützen?
Die Beteiligten der fraktionsübergreifenden Absprache sind sich sicher, dass mit den Änderungen das Bundesverfassungsgericht gut geschützt ist. Der inzwischen zurückgetretene Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP erklärte dazu am 23. Juli: „Es war an der Zeit, diese bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts einerseits und seiner mangelnden grundgesetzlichen Absicherung andererseits zu schließen.“ Nun habe man sich auf die „Stärkung unserer Verfassungshüter verständigt“.
Andrea Lindholz von der CSU verweist auf den Punkt, dass sich zukünftig das Bundesverfassungsgericht selbst die Geschäftsordnung geben kann. „Das betrifft zum Beispiel das Thema, in welcher Reihenfolge Akten bearbeitet werden müssen.“ Das klinge zwar trivial, so die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion für Recht und Inneres, könne aber „im Zweifel sehr entscheidend sein“.
Sie verweist dabei auf Polen, wo Gerichte in der Reihenfolge des Eingangs entscheiden sollten. Dahinter habe die Absicht gestanden, „dass das Agieren der damals regierenden PS-Partei erst einmal nicht kontrolliert werden sollte“, so die CSU-Politikerin.
Noch mehr Verankerung im Grundgesetz gefordert
Johannes Fechner, parlamentarischer Geschäftsführer und Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion, hebt das vorgesehene Wahlverfahren hervor, bei dem eine Minderheit die Ernennung von Richtern nicht blockieren kann. Außerdem unterstreicht er: „Wir verhindern, dass, wie in Osteuropa geschehen, durch Schaffung neuer Senate oder die Herabsetzung der Altersgrenze neue Verfassungsrichterstellen geschaffen werden, die mit Günstlingen besetzt werden können.“
Nicht weit genug gehen dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter und Ex-Ministerpräsidenten des Saarlands, Peter Müller, die angestrebten Veränderungen. Er fordert, dass auch die Wahl der Richter mit einer Zweidrittelmehrheit im Grundgesetz verankert wird; geplant ist, diese wie bisher im Bundesverfassungsgerichtsgesetz festzuschreiben.
Müller sieht die Gefahr, dass sonst die Regelung wieder mit einer einfachen Mehrheit im Bundestag abgeschafft werden kann. Gerade die Zweidrittelmehrheit sichere „die Unabhängigkeit und Ausgewogenheit“, so der Jurist, weil ein breiter Kompromiss gefunden werden müsse.
Auch der Deutsche Anwaltverein fordert weitere Sicherungen. So solle das Bundesverfassungsgerichtsgesetz künftig nicht mehr mit einfacher Mehrheit im Bundestag geändert werden dürfen, auch der Bundesrat solle dafür zustimmen. Das wird auch von Peter Müller unterstützt. Schließlich liege das Bundesverfassungsgericht „in der gemeinsamen Verantwortung von Bundestag und Bundesrat“, so der ehemalige Richter.
Was passiert mit der Reform nach Bruch der Ampelkoalition?
Seit Anfang November 2024 ist die Ampelkoalition Geschichte. Kanzler Olaf Scholz (SPD) regiert mit den Grünen ohne Mehrheit im Bundestag weiter. Neuwahlen sind für den 23. Februar 2025 avisiert. Nun wird politisch darüber diskutiert, ob und wie die Reformen für das Bundesverfassungsgericht in den verbleibenden Monaten bis zum vorzeitigen Ende der Legislaturperiode noch umzusetzen sind.
Hintergrund sind Sorgen, AfD und BSW könnten bei der vorgezogenen Neuwahl eine Sperrminorität im Bundestag erreichen - ähnlich wie die AfD in den Landtagen von Brandenburg und Thüringen. Dies würde bedeuten, dass ohne Unterstützung einer Partei, die nicht der demokratischen Mitte zugerechnet wird, die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zur Änderung des Grundgesetzes nicht erreichbar wäre.
"Der Deutsche Bundestag sollte das Resilienzpaket für das Bundesverfassungsgericht unbedingt noch beschließen", sagte Ex-Justizminister Marco Buschmann (FDP) im Deutschlandfunk. Auch von SPD und Grünen kommen ähnliche Aussagen. Die Union hat weiter ihre Bereitschaft zur Verabschiedung der Reform signalisiert.
Juristen forderten die Parteien auf, die geplante Reform zur Sicherung der Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts auch nach dem Ende der Ampel zu verabschieden. Dieses Vorhaben sei "von so herausragender Bedeutung für den Rechtsstaat, dass alle demokratischen Parteien sich dafür einsetzen müssen, die Reform noch vor den angestrebten Neuwahlen zu beschließen", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von acht Verbänden, zu denen der Deutsche Richterbund, der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer zählen.
rzr, tei, jk