Simon: Herr Schwanitz, ist absoluter Persönlichkeitsschutz wichtiger als die Aufklärung der Stasi-Vergangenheit?
Schwanitz: Nun das waren immer zwei Rechte, die sich einander in Teilen auch entgegenstehen können. Das war gerade der Spagat, den das Gesetz beschreiben musste. Ich finde, dass das in den letzten Jahren auch gut gelungen ist. Da gibt es eine Rechtsunsicherheit, die jetzt zur Klage geführt hat, die ausgeräumt werden muss. Man muss das Urteil abwarten. Ich meine aber, die Aufarbeitung darf nicht gestoppt werden. Sie muss fortgesetzt werden auch mit solchen Akten und Unterlagen über Amtsinhaber.
Simon: Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes schafft so oder so einen Präzedenzfall. Marianne Birthler befürchtet ja, dass Akten, wenn sie überhaupt noch freigegeben werden, wenn das Gericht entscheidet, dass Helmut Kohl sie weiter sperren lassen darf, dann so weitgehend geschwärzt sind und eben nicht nur bei Helmut Kohl, dass sie keine verwertbaren Informationen mehr enthalten, also für Aufklärung und Forschung unbrauchbar sind. Sehen Sie das auch so?
Schwanitz: Ich habe die gleichen Befürchtungen und würde deswegen sehr dafür werben - das Parlament macht gerade auch mit einer Anhörung eine Befassung in der Sache -, dass diese Rechtsunsicherheit, die ja zur Klage geführt hat und auf deren Grundlage jetzt das Urteil kommt, dann auch durch eine Gesetzesänderung beseitigt wird. Es war typisch für die Staatssicherheit, im Westen sowieso, dass man Lauschangriffe, dass man Aufklärung, wie man das so bezeichnete, gegen Ämter und Amtsinhaber betrieb, aber auch im Osten war die Staatssicherheit Staat im Staate. Das heißt also, sie war bei Ämtern und bei deren Amtsinhabern natürlich immer mit dabei. Wenn das alles unter Schutz gestellt würde, dann käme die Aufarbeitung in weiten Teilen zum Erliegen.
Simon: Wieso hat eigentlich Ihrer Meinung nach, Herr Schwanitz, die Bundesregierung, hat der Bundestag bis heute die Schwammigkeiten in der Aktenherausgabe nicht eindeutig geregelt, obwohl ja seit langem Einigkeit darüber besteht, dass besonders dieser jetzt entscheidende § 32 ungenau ist und für Interpretationen breitesten Raum lässt?
Schwanitz: Bis zur Klage von Helmut Kohl hat es hier eine Praxis gegeben, die nicht beanstandet worden ist. Erst mit der Klage, erst mit der Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang ist das gerichtsrelevant geworden und ist auch dieser § 32 noch einmal in die Diskussion gekommen. Wer sich diesen Paragraph genau ansieht der wird feststellen, dass dort bereits jetzt schon eine Regelung drin ist, die sichert, dass eine Verwendung oder Veröffentlichung solcher Unterlagen dann ausgeschlossen ist, soweit dadurch überwiegende schutzwürdige Interessen dieser Personen beeinträchtigt werden. Ich glaube also, dass man auf dieser Grundlage künftig vorwärts gehen sollte. Niemand hat ein Interesse daran, in die Intimsphäre einzudringen, aber dass was Ämter getan haben, was die Staatssicherheit zur Ausspionierung dieser Ämter, auch zur Manipulation zum Teil getan hat, das sollte nicht der Aufarbeitung entzogen werden.
Simon: Sie sagen, bis zum Fall Kohl hat man dort keine Beschwerden gehabt. Da hat es aber Fälle von vielen bekannten, vor allem früheren DDR-Bürgerrechtlern gegeben, wo durchaus ins einzelne gehende Details aus dem Privatleben bekannt wurden. Haben die das eher still hingenommen, dass das so war, oder wie erklären Sie sich, dass es bis dahin keinen Protest gegeben hat?
Schwanitz: Das kann man allgemein schwer sagen. Die Behörde selber musste diese Abwägung zwischen dem Aufarbeitungsinteresse der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes auf der einen und den schutzwürdigen Interessen der einzelnen immer tun. Das war bereits jetzt im Gesetzestext enthalten, auch bevor Herr Kohl geklagt hat und zu den Gerichten ging. Ich schließe auch nicht aus, dass dieser Abwägungsprozess zu Gunsten der Interessen des einzelnen noch stärker ausgeweitet wird, aber ich glaube, das ist und sollte auch kein Anlas sein, diese Unterlagen generell zu sperren.
Simon: Höre ich richtig heraus, dass Sie meinen, in der Vergangenheit hat man vielleicht ein bisschen zu viel an die Forschung und Publikation gedacht und zu wenig an die schutzwürdigen Interessen der einzelnen?
Schwanitz: Das kann ich nicht ausschließen. Natürlich hat ein solches Recht - es ist eine neue Rechtsmaterie - auch im Vollzug der letzten Jahre neue Bewertungen erfahren. Das haben wir auf vielen Gebieten und ich glaube, das ist auch in Ordnung so.
Simon: Herr Schwanitz, Helmut Kohl hat in seinem Bemühen um die Sperrung seiner Akten Flankenschutz von Innenminister Otto Schily bekommen, also von Jemandem, den man eher auf Seiten von Behördenchefin Birthler vermutet hätte, denn das ist ja die vorgesetzte Behörde. Gibt es Ihrer Meinung nach in der westlich dominierten Berliner Republik keinen oder wenig Rückhalt für die frühere Bürgerrechtlerin Birthler, wenn sie sich dafür einsetzt, dass ihre Behörde weiter ihrem Auftrag nachkommt?
Schwanitz: Nein, das will ich nicht sagen. Der Innenminister hat natürlich als Verfassungsminister die jetzige Rechtslage zu bewerten, auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Ich werbe sehr dafür, dass wir - wir werden das Urteil heute abwarten - diese Widersprüchlichkeit, wenn sie zu dem Ergebnis führt, das wir alle nicht wollen, dann aufgelöst wird und dass wir Rechtsklarheit durch eine Novellierung finden. Ich denke der deutsche Bundestag selber - die Exekutive hat hier ja nie Recht gesetzt; das war immer ein Gesetz aus dem Parlament heraus - wird sich in den nächsten Wochen dann auf der Grundlage des Urteils mit dem Thema beschäftigen und wird eine Entscheidung fällen müssen.
Simon: Das war Rolf Schwanitz, der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, zu der Frage der Herausgabe der Stasi-Akten von Altbundeskanzler Kohl, die heute das Bundesverwaltungsgericht entscheiden wird.
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