Keine klare Öffnungsperspektive mit Datum oder anderen festen Kriterien, dazu kommt die Angst vor Grenzschließungen und damit einer Gefährdung von Lieferketten – Wirtschaftsverbände zeigen sich enttäuscht über die jüngsten Corona-Beschlüsse von Bund und Ländern.
Voraussetzung, um über Lockerungen nachzudenken, ist demnach eine Sieben-Tage-Inzidenz von maximal 35 Corona-Infektionen pro 100.000 Einwohnern. Manche Einzelhändler werden gegen die Beschlüsse klagen, glaubt der Handelsverband Deutschland.
Wirtschaftsgipfel soll Perspektiven bringen
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) äußerte im Dlf-Interview Verständnis für die Enttäuschung der Wirtschaft. Der lange Lockdown führe zu schweren Einbußen bei vielen Unternehmern. Es stimme, dass es keine Öffnungsperspektive in Form eines festen Termins gebe, eine wichtige Änderung hätten die Beschlüsse dennoch gebracht: Das nach unten korrigierte Ziel bei der Sieben-Tage-Inzidenz müsse nicht bundesweit gegeben sein, um über Öffnungen nachzudenken. Regional seien vorgezogene Öffnungen vorstellbar.
Altmaier plant für Dienstag (16. Februar 2021) einen Wirtschaftsgipfel. Dort will er mit Wirtschaftsverbänden auch über konkretere Perspektiven wie die Frage reden, welche Branchen als erste öffnen sollen dürfen – natürlich im Rahmen der Bund-Länder-Beschlüsse, betonte er im Dlf.
Weitere Finanzhilfen "im Bereich des Vorstellbaren"
Dass die Bundesregierung nach der Überbrückungshilfe 3 noch einmal weitere Finanzhilfen auflegen wird, schloss Altmaier nicht aus. Er legte sich in dieser Frage allerdings nicht fest.
"Wenn es nachgewiesene Notwendigkeiten gibt, dann wird mit dem Finanzminister beraten, wie man unterstützen kann. Es ist im Bereich des Vorstellbaren, dass wir auf die weiteren Entwicklungen reagieren, dass weitere Hilfen ankommen."
Die beste Lösung wäre allerdings, "dass die Menschen ihren Umsatz wieder verdienen können", so Altmaier.
Die Novemberhilfen, deren späte Ankunft oft kritisiert wurde, seien inzwischen zum großen Teil ausgezahlt, erklärte der Wirtschaftsminister.
Das Interview im Wortlaut:
Sandra Schulz: Herr Altmaier, beim Bund-Länder-Gipfel gab es viel Enttäuschung. Welche Antwort geben Sie auf die Frage nach einer Perspektive?
Peter Altmaier: Die Enttäuschung ist verständlich, weil dieser lange Lockdown, den wir diesmal haben, für ganz viele Unternehmerinnen und Unternehmer zu schweren Einbußen führt. Wir haben zwar umfangreiche Hilfen ins Werk gesetzt, aber natürlich ist das in vielen Fällen kein Ausgleich. Deshalb brauchen wir diese Perspektive.
Was oftmals übersehen wird: Bei dieser Inzidenz von 35, die wir neu hinzugefügt haben, geht es nicht darum, dass es eine bundesweite Inzidenz von 35 geben muss, sondern es geht darum, dass es auch in einem kleineren Zusammenhang möglich sein wird, Geschäfte zu öffnen. Das ist jedenfalls eine Perspektive.
"Das große Dilemma der Politik"
Das Zweite ist: Es waren sich alle Ministerpräsidenten einig mit der Bundesregierung, dass die nächsten Öffnungsschritte kommen, sobald sie gesundheitspolitisch vertretbar sind, und das ist das große Dilemma auch der Politik in dieser Frage, dass wir einerseits eine Verantwortung für die Gesundheit von 83 Millionen Menschen haben, andererseits aber auch eine Verantwortung für Millionen von mittelständischen Unternehmen und ihren Inhabern. Das müssen wir zu einem Ausgleich bringen, und deshalb sehen viele auch die Öffnung der Friseurbetriebe als einen Lichtblick. Wichtig ist, dass weitere folgen. Die Corona-Zahlen entwickeln sich in die richtige Richtung, und deshalb glaube ich, dass wir dem Ziel weiterer Öffnungen näherkommen können.
Schulz: Herr Altmaier, Sie machen jetzt viele Punkte auf einmal. – Sie nennen es gerade Öffnungsperspektive. Aber was der Gipfel am Mittwoch ja gerade nicht gesagt hat, ist zu sagen, wenn die 35 erreicht ist, dass dann auf jeden Fall gelockert werden kann. Und es ist auch nicht gesagt worden, wer dann konkret öffnen kann. Es ist ja im Grunde am Mittwoch nur die 50 gegen die 35 eingetauscht worden.
Altmaier: Das ist richtig, aber nicht vollständig, weil wir die 35 nicht bundesweit voraussetzen, so wie es bei den 50 gesagt worden ist, und das hat den großen Vorteil, dass in Ländern, in Bundesländern, in Regionen, wo die Zahlen sehr niedrig sind – und solche gibt es Gott sei Dank immer mehr in Deutschland –, dass dort dann auch über vorgezogene Öffnungen entschieden werden kann. Das Problem dieses Beschlusses besteht darin, dass wir kein festes Datum genannt haben und dass wir auch nicht gesagt haben, welche Branchen konkret die nächsten sind. Wir haben den Einzelhandel genannt. Ich darf darauf hinweisen, dass auch Gaststätten und Restaurants, dass auch Hotels sehnsüchtig darauf warten, dass geöffnet wird. Die Wissenschaftler und auch die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung waren sich einig, dass eine Öffnung aller geschlossenen Unternehmen die Gefahr mit sich brächte, dass wir dann sehr schnell wieder in einem großen Lockdown wären.
Wirtschaftsgipfel soll Perspektiven klären
Schulz: Viele haben sich zumindest einen Stufenplan erhofft. Ich denke, viele Hotels gehen nicht davon aus, dass sie bei der 35 öffnen können. Eine klarere Orientierungsgröße, die könnte man ja auch unabhängig von einem Termin nennen. Aber ein klarer Stufenplan, warum ist es sogar daran gescheitert?
Altmaier: Wir sind ja in ständigen Gesprächen, und wir haben uns entschieden, zunächst einmal das zu machen, was wir für vertretbar hielten. Aber ich habe für den kommenden Dienstag zu einem Wirtschaftsgipfel eingeladen. Dann werde ich mit allen Verbänden darüber reden, welche Perspektiven möglich sind. Und dann interessiert mich selbstverständlich auch der Vorschlag, der von den Wirtschaftsverbänden kommt. Die Frage ist doch, einigen wir uns mit der Wirtschaft, können wir uns auf einen solchen Stufenplan einigen, oder führt das dazu, dass die Branchen, die am Ende dann am längsten warten müssen, am meisten enttäuscht sind. Das ist eine ganz schwierige Diskussion.
Schulz: Sie können doch in diesen Gipfel nichts hineinnehmen, was nicht auch abgesegnet ist von der Bund-Länder-Runde.
Altmaier: Ja! Die Beschlüsse, die gefasst worden sind, und zwar einstimmig von Bund und Ländern am vergangenen Mittwoch, diese Beschlüsse gelten. Die werden im Übrigen auch von vielen Menschen in Deutschland als richtig angesehen. Sie werden aber heftig kritisiert, wie Sie zu Recht gesagt haben, von Betroffenen.
Was mich bei der ganzen Sache umtreibt, ist, dass es ja bislang nicht nur in der Ministerpräsidentenkonferenz, sondern auch in der Wirtschaft selbst ja ganz unterschiedliche Diskussionen gibt, was als nächstes geöffnet werden soll und in welchem Umfang. Alle Wissenschaftler sagen uns, dass eine gleichzeitige Öffnung aller geschlossenen Betriebe und Geschäfte dazu führen würde, dass die Zahl der sozialen Kontakte auf dem Weg in die Innenstädte, im öffentlichen Personennahverkehr sprunghaft ansteigen würde und damit auch das Risiko einer Infektion. Deshalb arbeiten wir ja auch parallel an weiteren Hygienekonzepten, die nicht die Geschäfte direkt betreffen.
"Wir werden diese Hilfen sehr schnell ausbezahlen"
Schulz: Die nächste Frage wäre die: Wenn jetzt auch allen klar ist, dass es nun alles nicht schnell gehen wird, wenn das auf längere Schließungen herausläuft, planen Sie dann noch weitere Wirtschaftshilfen?
Altmaier: Wir haben ja Wirtschaftshilfen in Gang gesetzt mit den Überbrückungshilfen III, die nicht nur beantragt werden können, die auch mit den Abschlagszahlungen ausgezahlt werden. Da sind Zahlungen bis zu 400.000 Euro auf einen Schlag möglich. Das ist dann für vier Monate im Voraus. Die ersten Zahlungen sind gestern eingegangen, übrigens bei einem Friseurbetrieb in Süddeutschland. Wir werden diese Hilfen sehr schnell ausbezahlen.
Das zweite ist: Immer dann, wenn irgendwo eine deutliche Regelungslücke erkennbar wird, die den Betroffenen nicht zuzumuten ist, die dazu führt, dass Hilfe nicht ankommen kann, dann werde ich mit dem Finanzminister gemeinsam versuchen, diese Lücke so zu schließen, dass den Unternehmen dann auch eine Perspektive geboten werden kann. Voraussetzung ist selbstverständlich immer, dass Kosten vorhanden sind, die wir dann in der Größenordnung bis zu 90 Prozent erstatten können. Das ist ein Angebot, wie es das im letzten Jahr in dieser Vollständigkeit nicht gegeben hat.
Schulz: Herr Altmaier, kurz zur Klarstellung. Die geschlossene Frage, theoretisch mit einem Ja oder Nein von Ihnen zu beantworten: Planen Sie weitere Wirtschaftshilfen über die Überbrückungshilfe III hinaus?
Altmaier: Ich glaube, dass Ja oder Nein in dem Fall nicht fair ist.
Schulz: Warum?
Altmaier: Wir haben immer wieder die Hilfen ausgedehnt. Wir haben seit dem ersten Lockdown im letzten Jahr, wo die Hilfen maximal 15.000 Euro waren pro Unternehmen, die Hilfen aufgestockt bis auf über 1,5 Millionen pro Monat. Und das zeigt, dass wir bereit sind, das zu tun. Aber wir müssen darüber sprechen, in der Bundesregierung und mit den Bundesländern, und wenn es nachgewiesene Notwendigkeiten gibt, dann werden der Bundesfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister darüber beraten, wie sie das lösen können.
Schulz: Sie legen sich nicht fest. Aber dass Sie noch aufstocken, ist im Bereich des Vorstellbaren?
Altmaier: Es ist im Bereich des Vorstellbaren, dass wir auf die weiteren Entwicklungen so reagieren, dass weitere Hilfe ankommt. Die beste Lösung wäre allerdings, wenn wir bei der Öffnungsperspektive so vorankommen, dass die Menschen ihren Umsatz und ihren Gewinn wieder mit ihren Unternehmen verdienen können. Das ist unser gemeinsames Ziel.
November-Hilfen zum großen Teil ausgezahlt
Schulz: Dass weitere Hilfe ankommt, ist insofern ja auch ein sehr gutes Stichwort, da wir wissen, dass viele Unternehmen jetzt, Mitte Februar, noch auf die November-Hilfen warten. Sie haben gerade gesagt, das werde schnell ausgezahlt. Definieren Sie schnell im Sinne der Bundesregierung.
Altmaier: Zunächst einmal: Bei den November-Hilfen sind die Abschlagszahlungen zu 95 Prozent ausgezahlt, durch den Bund für alle Unternehmen. Und seit vier Wochen ist die weitere Auszahlung Sache der Bundesländer. Die Bundesländer müssen das zum Teil prüfen, weil es um hohe Beträge geht, in der Größenordnung von bis zu einer Million Euro in diesem Fall. Ich hoffe, dass die Bundesländer auch in diesem Punkt vorankommen.
Schnell heißt so schnell wie vertretbar und möglich, und genau da sind wir vorangekommen. Ich habe die Ministerpräsidenten informiert über die Fortschritte, die erzielt worden sind, und das haben auch alle zur Kenntnis genommen.
Schulz: Wobei man der Fairness halber dazusagen muss: 90 Prozent der Abschlagszahlungen, das klingt viel. Aber wenn wir speziell auf die November-Hilfen schauen, da warten schon noch Unternehmen auf Zahlungen von insgesamt einer Größenordnung von zwei Milliarden. Das wollte ich als Gegenzahl hier noch mal in den Raum stellen.
Altmaier: Ja, das stimmt. Aber auch die abschließenden Zahlungen – ich muss darauf hinweisen – sind in einer Größenordnung von fast 70 Prozent geleistet worden. Und im Übrigen ist es so, dass noch gar nicht alle Anträge gestellt worden sind. Wir haben auf Wunsch der unternehmen die Antragsfrist verlängert bis zum 30. April. Selbstverständlich können auch diese Anträge erst dann beschieden werden von den Bundesländern, wenn sie dann vorliegen.
Lieferketten im Binnenmarkt müssen erhalten bleiben
Schulz: Okay, Herr Altmaier. – Einen Punkt würde ich gerne noch machen, obwohl wir nur noch eine knappe Minute haben. Der Blick auf die Lage an den Grenzen. Es scheint, jetzt wieder einen stärkeren Abschottungskurs zu geben. Wir haben die Sorge gerade gehört, die der VDA da formuliert, die Sorge vor wieder reißenden Lieferketten. Wie schauen Sie darauf?
Altmaier: Ich teile diese Sorge grundsätzlich. Die Motivation der Bundesländer und auch des Bundesinnenministers ist, eine Ansteckung mit den Mutationen zu verhindern. Aber wir müssen das so machen, dass wir im Grenzverkehr bei den Pendlern dafür sorgen, dass die Lieferketten erhalten bleiben. Es ist ein europäischer Binnenmarkt und das muss auch so bleiben.
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