Jedes Bundesland ist gesetzlich dazu verpflichtet, gemäß eines Verteilschlüssels eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen. Doch genau das will die AfD nicht mehr tun, sollte sie in einem Bundesland an die Regierung kommen. Der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla sagte im ARD-Sommerinterview: „Das würden wir nicht mehr mitmachen. Ich denke, es ist wichtig, dass die ersten Bundesländer aus diesem Verteilschlüssel auch ausscheren, um Druck auf eine Bundesregierung zu machen, damit diese Politik endlich geändert wird.“ Bundesländer können diese Verpflichtung nicht einseitig auflösen. Das würde gegen Bundesrecht verstoßen. Aber das Grundgesetz hält einen Ausweg für einen Konflikt zwischen Bund und Bundesland bereit: den Bundeszwang. Dieses scharfe Schwert des Rechtsstaats ist jedoch höchst umstritten.
Was ist der Bundeszwang?
Der Bundeszwang ist ein relativ unbekanntes, aber starkes Instrument des wehrhaften Rechtsstaats. Es soll helfen, das Grundgesetz oder andere Bundesgesetze durchzusetzen, sollte ein Bundesland dagegen verstoßen oder seinen Pflichten nicht nachkommen – im Zweifelsfall sogar mit Zwang gegen den Willen der Landesregierung. Er wird in Artikel 37 des Grundgesetzes erklärt.
Art 37 GG
(1) Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.
(2) Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden.
Wie würde der Bundeszwang angewandt?
Diese im Artikel 37 des Grundgesetzes beschriebenen „notwendigen Maßnahmen“ können Experten zufolge so weit gehen, dass der Bund vorübergehend selbst an Stelle des rechtswidrig handelnden Bundeslandes Gesetze beschließt und verwaltend tätig wird. Denkbar sind auch Finanzsperren, bei denen Gelder, die dem Bundesland eigentlich zustehen, nicht mehr fließen. Rechtswissenschaftler Stefan Martini von der Universität Kiel erklärt: „Oder was auch möglich ist, einen Beauftragten einzusetzen, der dann an die Stelle der Person rückt, die sich weigert zu handeln und die Bundesgesetze umzusetzen.“ Juristen seien sich teilweise uneinig, welche Maßnahmen unzulässig sind. Martini hält aber beispielsweise den Einsatz der Bundespolizei für möglich oder dass Landespolizeien anderer Länder im Auftrag des Bundes agieren. Im Konfliktfall müsste das Bundesverfassungsgericht überprüfen, ob eine solche Maßnahme des Bundes zulässig ist.
Wie wahrscheinlich ist es, dass das Gesetz angewandt wird?
Einige Verfassungsjuristen raten davon ab, Mittel anzuwenden, wie sie der Bundeszwang erlaubt. Hartmut Bauer, emeritierter Professor für Verfassungsrecht, warnt etwa: Die Anwendung des Bundeszwangs sei ein Spiel mit dem Feuer, denn „die Länder haben natürlich ein historisch gewachsenes Selbstbewusstsein, und die finden es nicht besonders ansprechend, wenn ihnen mit Zwangsmitteln entgegengetreten wird, sodass solche Konflikte, wenn sie dann mit Zwangsmitteln ausgetragen werden, sehr schnell dazu führen können, dass dieser Grundkonsens über die bundesstaatliche Ordnung gestört wird.“
Bauer plädiert dafür, derartige Konflikte zwischen Bund und einzelnen Ländern gerichtlich zu klären. Der Bundeszwang sei eher eine Ultima Ratio – ein allerletztes Mittel. „Und so steht es ja im Grunde genommen auch in der Verfassung: als Vorsorgenorm, als Auffangnorm für ganz besonders gelagerte Ausnahmefälle“, sagt Bauer.
Gab es schon eine Anwendung eines solchen Gesetzes?
In der Bundesrepublik wurde der Bundeszwang noch nie angewandt. In der Weimarer Republik gab es jedoch ein vergleichbares Mittel: die Reichsexekution. Diese war eine Interventionsmöglichkeit des Reichs gegenüber den Ländern. Der bekannteste Fall, bei dem die Reichsregierung von diesem Mittel Gebrauch machte, war der sogenannte Preußenschlag 1932. Offiziell wurde dies damit begründet, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet sei – wegen gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen den Kommunisten und Truppen der nationalsozialistischen SA. Für Reichskanzler Franz von Papen und Reichspräsident Paul von Hindenburg war dies ein Vorwand, Preußens geschäftsführende sozialdemokratische Landesregierung abzusetzen, die für die Rechten ein Problem darstellte vor dem Hintergrund der relativ klaren Politik, die gegenüber der NSDAP gefahren worden war. Die Entmachtung der preußischen Landesregierung und die Zentralisierung der Macht bei der Reichsregierung wurden nie mehr zurückgenommen. 1933 kam Hitler an die Macht und vollzog die Gleichschaltung aller staatlichen Gewalt. Diese historische Erfahrung führte später dazu, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes zurückhaltend waren, als es darum ging, den Bundeszwang in die neue Verfassung aufzunehmen, erklärt der emeritierte Juraprofessor Hartmut Bauer.