Christiane Florin: "Ich bin Burka-phob", sagte der CDU-Politiker Jens Spahn kürzlich in einem Zeitungsinterview. Die Burka löst offenbar Ängste und Aversionen aus. Fremd und frauenfeindlich ist sie in den Augen derer, die ein Verbot fordern. Als untragbar gilt nicht allein die Burka, davon gibt es in Deutschland nicht so viele. Unter Verdacht steht auch der Niqab, aber das Wort niqab-phob lässt sich nicht so leicht aussprechen. Erst recht nicht in einer erregten Gesprächssituation. Vollverschleierte Frauen, deren Augen nur durch einen Sehschlitz oder ein Gitter erkennbar sind, sind in Deutschland zum Feindbild geworden. Und glaubt man den Landesinnenministern der Unionsparteien, auch zum Sicherheitsrisiko. Was es bedeutet, Gesicht zu zeigen, und was wir sehen, wenn wir das Gesicht nicht sehen, darüber möchte ich nun mit Claudia Schmölders sprechen. Sie ist promovierte Germanistin und hat zahlreiche Bücher über das Gesicht und seine Aussagekraft veröffentlicht. Guten Morgen, Frau Schmölders.
Claudia Schmölders: Guten Morgen, Frau Florin.
Florin: "Eine Demokratie lebt davon, dass man Gesicht zeigt", sagt Sachsens Innenminister Markus Ulbig, hat er Recht?
Schmölders: Ja und nein. Das Wort Gesicht hat ja mehrere Bedeutungen, ähnlich wie das Wort Stimme. Auch wenn wir bei einer Wahl unsere Stimme abgeben, hört man uns ja nicht sprechen. Es handelt sich vielmehr um einen symbolischen Akt und so meint man mit dem Ausdruck "Gesicht zeigen" den symbolischen Akt des Einstehens für eine soziale Haltung, und zwar auch gegen Widerstand.
Florin: Und wer sein Gesicht nicht zeigt, steht nicht für diese Demokratie ein?
Schmölders: Wer ein Gesicht nicht zeigt, hat verschiedene Gründe dafür. Das Problem ist jetzt die Verallgemeinerung dieser Aussage und dieser Frage. Wer ein Gesicht nicht zeigt, hat Angst vielleicht vor den Leuten, die ihn dann wahrnehmen. Das kann ja auch passieren. Wer ein Gesicht verhüllt, hat verschiedene Gründe für die Verhüllung und die Verschleierung.
Florin: Welche zum Beispiel?
Schmölders: Die Gründe können einen Ritus beschreiben. Wenn wir sagen, bei uns gibt es einen Trauerschleier, in manchen westlichen Kulturen gibt es ja Trauerschleier, da wird ganz legitim verschleiert. Wir haben Nonnen mit einem Schleier, in einem Ritus eingebunden. Und diese Riten kennen wir und das sind unsere Riten. Jetzt kommt ein fremder Ritus und sagt uns: "Nein, wir wollen überhaupt von uns gar nichts zeigen." Das sind natürlich frappierende Unterschiede.
Florin: Ist das Gesicht, das ganze Gesicht, das Identitätsmerkmal schlechthin?
Schmölders: Ich muss wieder sagen nein. Die Stimme ist viel besser geeignet oder der Fingerabdruck oder die Iris im Auge. Das Gesicht ist ja heutzutage im Sog der Medien auch Gegenstand unendlicher Manipulationen im Bild. Schon seit Jahrhunderten unternimmt die Kriminalistik große Anstrengungen, die Identität eines Menschen nicht nur aufgrund des Gesichts festzustellen. Trotzdem gibt es natürlich diese große Arbeit der Erkennungsdienste für Landesgrenzen, Flughäfen, Massenversammlungen oder Ähnlichem. Und jetzt haben gerade die Russen eine Software namens Facefinder entwickelt, mit der man auf einem Foto einer beliebigen Menschengruppe sofort einzelne Namen erfahren kann und damit auch biografische Hinweise aufrufen. Damit kann man also dann Demonstranten-Gruppen auf der Stelle richtig auflösen. Also da gibt es eine Bemühung, aber wie gesagt, letztlich kann man mit der Stimme, Fingerabdruck und Iris Genaueres beschreiben.
Florin: Warum erregt die Burka so die Gemüter? Was ist so schlimm daran, wenn das Gegenüber nur die Augen sieht? Wo es doch so viele schöne Lieder über die Augen gibt, wo in so vielen Umfragen herauskommt, dass die Menschen einem anderen zuerst mal in die Augen schauen und sagen, die Augen, das ist der Spiegel der Seele. Warum reicht das nicht?
Schmölders: Weil das vom Bildungsgrad des Betrachters abhängt. Der Bildungsgrad des Betrachters entscheidet, ob man nur primär sozusagen dieses Face-to-Face mit einem Nicht-Face, also nur mit den Augen erlebt oder ob man diese Gestalt sofort einordnet in einen kulturellen Kontext.
Florin: Aber bei einem Landesinnenminister zum Beispiel würde ich von einem hohen Bildungsgrad ausgehen.
Schmölders: Ja, der spricht aber zu seinen Wählern.
Florin: Die nicht so gebildet sind?
Schmölders: Richtig. So sehe ich das.
Florin: Sie haben physiognomische Biografien und Kulturgeschichten verfasst. Nehmen wir mal an, Sie hätten eine Burka-Trägerin vor sich und sollten ein Buch über sie schreiben. Ginge das überhaupt?
Schmölders: Ich würde sicher mit der Geschichte der Verschleierung weltweit beginnen, als Kulturforscherin. Christina von Braun hat ein solches Buch auch schon vorgelegt, das kennen Sie vielleicht. Ich könnte sogar auf die Tiere kommen, die sich verschleiern, Tintenfische, die einen Schleier hinter sich herziehen, wenn sie angegriffen werden. Aber ich käme eben sehr schnell auf die Kultur des Trauerschleiers in südlichen Ländern, auf unsere Nonne und sowieso auf die Mode des Kopftuches auch bis heute. Letztlich muss die Frau, die sich unter der Burka verbirgt, erforscht werden. Wie freiwillig ist ihr Verschwinden unter dem Tuch? Welche kulturelle Praxis liegt zu Grunde, welche geschlechtliche Selbstwahrnehmung und wiederum wie gebildet muss sie selber sein, um zu merken, dass sie womöglich in einer Umgebung mit ganz anderer, aber gleichberechtigter Frömmigkeit lebt? Dieser Satz von mir setzt natürlich voraus, dass man die Burka für eine fromme Einrichtung hält und nicht für eine erotische.
Florin: Für eine erotische oder für eine ideologische.
Schmölders: Eben.
Florin: Was sehen "wir" in der Burka?
Schmölders: Wir sehen erst mal eine Religionspraxis, wenn wir nicht selber genügend wissen, warum zieht die Frau jetzt das an, wer herrscht, beherrscht sie jetzt und zwingt sie dazu, macht sie es freiwillig? Das sind, glaube ich, die zwei wichtigsten Fragen. Uns frappiert es, aber ich muss Ihnen zugeben, als Kölnerin erinnert mich das leider doch auch immer an Karneval. Also ich habe für das Verkleiden vielleicht sogar mehr Sinn als manche andere Menschen in Deutschland in anderen Regionen.
Florin: Würden Sie sagen, die Frauen sind verkleidet?
Schmölders: Ja, wirkt auf mich so.
Florin: Aber dann würde ja die Debatte, wie wir sie führen, völlig schief laufen. Denn natürlich gehen wir doch davon aus, und das begründet ja auch die Angst, dass die Burka und Niqab ernstgemeinte Kleidungsstücke sind, dass damit ein bestimmtes Frauenbild ausgedrückt wird und auch ein bestimmtes Verständnis des Islam. Sehen Sie das nicht so?
Schmölders: Ich sehe das schon, dass man es so sehen kann. Ich sage nur, hier erweist sich, dass die Menschen verschiedene Grundvoraussetzungen für die Betrachtung von anderen Körpern haben. Wenn man sagt: "Denkt doch mal nach, ihr lieben Burka-Trägerinnen, ihr seid jetzt hier in Köln - obwohl in Köln, glaube ich, am allerwenigsten Burka-Trägerinnen sind - welchen einen Eindruck ihr macht." Diese reflexive Stufe meine ich. Bildung heißt, dass man eine reflexive Stufe erreicht und sich sagt: "Wie wirke ich auf meine Umgebung?" Das muss man erreichen. Wie der Dichter Adonis (im vorhergehenden Beitrag) gesagt hat, man muss den Frauen helfen, reflexiv zu werden.
Florin: Sagen Burka und Niqab eigentlich mehr über die Frau oder über den Mann?
Schmölders: Ich würde sagen, ja unbedingt: über beide. Also es gibt ja nur eine Frau mit Burka, glaube ich, die verheiratet ist. Oder gibt es Frauen, alleinstehende Frauen in der Burka? Das weiß ich nicht.
Florin: Nein.
Schmölders: Es gibt immer nur Paare, in denen eben die Frau mit der Burka erscheint und da muss man sagen, je unbedingter die beide von ihrer Moschee und von ihrem Imam abhängen, desto geschlechtsloser ist diese Praxis. Das bedeutet eigentlich dann nur noch Unterwerfung, und das heißt ja Islam. Die Frau verschwindet hier im Willen Gottes, der als Mann gedacht wird.
Florin: Halten Sie das hier in dieser Gesellschaft – ich möchte noch mal auf den Satz des sächsischen Innenministers zurückkommen –, in dieser Demokratie, wo es auch auf Individualität ankommt, auf die Würde jedes Einzelnen, auf den Willen jedes Einzelnen, halten Sie das für tragbar, dass wir das akzeptieren?
Schmölders: Ja, das halte ich eigentlich für tragbar, gemessen an den kleinen Zahlen, die wir ja haben. Natürlich, wenn jetzt überwältigende Massen von Menschen hier aufträten, dann wäre es ein anderer Punkt. Aber diese wenigen Abzeichen und Ausweise einer gewissen Sonderbarkeit in einer fremden Kultur, das müssen wir, die wir ja so einen ungeheuren Vorsprung in der Bildung haben, das müssten wir leisten können. Also es schaffen können im Sinne von Frau Merkel. So gebildet sind wir, das kann man von uns verlangen.
Florin: Also ich merke, Sie legen sehr großen Wert auf die Bildung. Sie sagten vorhin auch, ob man eine Burka/einen Niqab versteht, ist eine Frage der Bildung.
Schmölders: Ja.
Florin: Jetzt möchte ich ein bisschen in der Zeitgeschichte zurückgehen. In den 1960er Jahren waren ja Mini-Röcke hier auch ein Skandal und jetzt ist es der Ganzkörperschleier. Warum reden wir eigentlich immer nur über Frauen? Über das, was Frauen anhaben in der Öffentlichkeit? Nie über Männer.
Schmölders: Na ja, es wäre auch witzig, wenn die Männer Mini-Röcke trügen.
Florin: Klar, aber es wären ja andere Arten von männlicher Provokation durch Kleidung denkbar.
Schmölders: Die Frau Vinken hat ja ein schönes Buch geschrieben über die Kleidung und sich darüber sehr viele Gedanken gemacht. Es ist tatsächlich immer so gewesen, dass die Männer viel variabler als heute gekleidet waren früher. Wenn Sie an die Soldaten, an die Offiziere, an ich weiß nicht was denken, da sind ja die Männer eigentlich uns immer viel, wie soll man das nennen, bunter entgegengekommen in den früheren Jahrhunderten. Insofern haben wir eine Verarmung der männlichen Kleidung bisher zustande gebracht in unserer Demokratie. Wenn Sie unsere Regierung anschauen oder überhaupt eine internationale Konferenz, es sehen ja alle Männer gleich aus.
Florin: Was würde denn ein Verbot der Vollverschleierung auslösen? Wer sein Gesicht lange verhüllt hat, kann der oder besser die es überhaupt dann so schnell wieder zeigen?
Schmölders: Nein, leider nicht, da bin ich völlig Ihrer Meinung, das ist eine ganz schwierige Umstellung. Und da muss man sagen, muss auch unsere Gesellschaft und es müssen die Bildungsinstitutionen des Islam helfen. Das ist wirklich ein Aufruf, den ich mache. Es muss der Islam selber, unsere Imame in Deutschland müssen hier viel mehr tun.
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