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Burkhard Spinnen: "Rückwind"
Geschwätziger Versuch über die 90er-Jahre

Burkhard Spinnen ist bekannt als langjähriger Jury-Vorsitzender beim Klagenfurter Bachmann-Preis. In seinem neuen Roman erzählt er vom Aufstieg und Fall eines Fabrikanten von Windrädern. Den Anspruch, eine Mentalitätsgeschichte der BRD zu sein, kann die Geschichte jedoch nicht einlösen.

Von Enno Stahl |
Buchcover: Burkhard Spinnen: „Rückwind“
Buchcover: Burkhard Spinnen: „Rückwind“ (Buchcover: Schöffling & Co. Verlag, Hintergrundfoto: imago/chromorange)
Burkhard Spinnen ist ein versierter Autor, bekannt für sprachliche und formale Präzision. Deshalb kann er es sich erlauben, seinen neuen Roman "Rückwind" mit einer gewagten narrativen Konstruktion zu versehen. Der Erzähler seines Buches ist ein Alter Ego des Protagonisten Hartmut Trössner. Dieses erzählerische Ich tritt beständig mit Trössner in Kontakt, um dem Leser die vom Unglück verfolgte Hauptfigur nahezubringen.
"Und warum, Trössner, hast du dich nicht mehr gewaschen? War es ein Akt der Selbsterfahrung? Oder der Selbsterhaltung? (…) Oder wolltest du etwa mich aus deiner Nähe ekeln, weil ich dir zu laut und zu fordernd geworden war? Weil mein positives Denken dir auf den Geist gegangen ist?"
Der Erzähler wirkt geschwätzig
Diese Struktur mit der direkten Ansprache des Romanhelden birgt Gefahren. Der Erzähler wirkt geschwätzig. Auch nutzt sich der Effekt auf Dauer ab. Allerdings besitzt Spinnen die Souveränität, seine Erzählform im richtigen Moment aufzugeben, um die Ereignisse der Vergangenheit konventionell in der dritten Person zu schildern. Nur wenn die Geschichte in die unmittelbare Gegenwart springt, taucht der frei parlierende Ich-Erzähler wieder auf.
Der Roman erzählt von einem Tycoon der Windradbranche und es ist eine Version der biblischen Hiob-Geschichte. Denn Hartmut Trössner, dem erfolgreichen Unternehmer, ist ein schreckliches Schicksal widerfahren. Reich und scheinbar vom Glück begünstigt, hat ihm ein Tag alles genommen, was er besaß: Binnen weniger Stunden verliert er seinen einzigen Sohn, seine geliebte Ehefrau und seine Firma. Dazu verbrennt sein Heim, weil er es mutwillig oder fahrlässig am Abend des Unglücks anzündet.
Trössner verbringt ein halbes Jahr in der Psychiatrie, wo der Ich-Erzähler, gewissermaßen als Advokat Gottes, sich seiner annimmt und mit allen Mitteln ins Leben zurückholen will. Nach einem Selbstmordversuch, der knapp verhindert werden kann, setzt sich Trössner ohne erkennbaren Anlass in einen Zug nach Berlin. Dort lernt er Iris kennen, eine junge Frau. Trössner vermutet in ihr eine Journalistin, die mit seiner Geschichte einen Zeitungscoup landen will.
Alle Frauen im Roman lassen sich dominieren
Die Figurenzeichnung Iris‘, die Frau als naives Mädchen, ist bedenklich bis ärgerlich. Sie und auch fast alle anderen weiblichen Personen im Roman sind flattrige, unsichere, unstete Wesen, denen der weise Senior Trössner erklären muss, wie die Dinge zu laufen haben. Dafür lassen sie sich von ihm vollständig dominieren. Dazu passt, dass alle Frauen im Buch mit Vornamen genannt werden, nur der Protagonist stets mit Nachnamen.
Trössner verabredet mit Iris einen Deal: Tm Tausch für eine Liebesgeschichte - einmal mehr der alte Mann und das junge, attraktive Mädchen - will er ihr erzählen, was wirklich geschehen ist. Die Wahrheit darüber, wie es zu dem Unglück gekommen ist, hat er nämlich komplett vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Ihr Arrangement sieht vor, dass sie sich nach Ankunft in Berlin in einem Sandwichladen wiederbegegnen, ganz so, als kennten sie sich nicht:
"Tun Sie etwas, um mich aus der Reserve zu locken. Etwas, das mir keine Wahl lässt."
Was Iris sich einfallen lässt, ist ausgerechnet das:
"Großes Pech für die Abwesenden, denn es gibt etwas zu sehen! Iris ist nämlich ihr Rock heruntergerutscht, hat sich komplett von ihrer Taille verabschiedet und bildet jetzt eine Stofffessel um ihre Füße, so dass sie keinen Schritt machen kann, ohne sich lang hinzulegen. Ist das peinlich! Und das beladene Tablett kann sich auch nirgendwo abstellen, kein Tisch, keine Theke in der Nähe. Sie müsste es auf den Boden – aber sie kann sich doch nicht hinhocken! Nicht im Slip, wenngleich es einer von der eher züchtigen Sorte ist."
Erzählstrom fließt zäh dahin
Dass diese Szene tatsächlich sehr peinlich ist, muss nicht betont werden. Sie ist nicht nur für Spinnens Figur peinlich, sondern auch für den Autor selbst. Seine Erzählung nimmt in der einmal etablierten Figurenhierarchie ihren Lauf. Trössner entscheidet, handelt, Iris huscht als folgsames Instrument seiner Willkür hinterdrein. Immer mal wieder wechselt sie den Namen, sodass nicht klar ersichtlich wird, wer sie eigentlich wirklich ist, und was sie von Trössner will. Aber ihre Absichten scheinen durchaus lauter zu sein:
"Sie mag ein Naseweis sein, aber keine Bestie."
Der Erzählstrom fließt zäh dahin – nach und nach erfährt man Trössners Geschichte. Als sein Vater, ein mittelständischer Unternehmer, überraschend verstirbt, tut Trössner das, was er immer hatte vermeiden wollen: Er übernimmt den väterlichen Betrieb. Mit einem einzigartigen Riecher für kommende Trends richtet er das Unternehmen gegen alle Widerstände auf die Produktion von Windrädern aus. Der kleine Betrieb wird zum Global Player, Trössner zum gefragten Ansprechpartner in alternativer Energieerzeugung. Davon, dass das Buch eine Mentalitätsgeschichte der BRD sei, wie es in der Verlagswerbung heißt, ist wenig zu spüren. Beiläufig wird die Wiedervereinigung erwähnt. Ihre politischen, sozialen und ökonomischen Folgen bleiben jedoch ebenso ausgespart wie der Wandel zur neo-liberalen Dienstleistungsgesellschaft.
In weiten Teilen belanglos
Trössner heiratet eine berühmte deutsche Fernsehschauspielerin und bekommt mit ihr ein Kind. Gemeinsam produzieren sie ein hyper-erfolgreiches TV-Format, das im Inneren einer neuen, rechtspopulistischen Partei angesiedelt ist, der sogenannten "Partei politischer Christen".
Dann kommt alles, wie es kommen muss. Je höher das Glamourpaar steigt, desto tiefer muss es fallen. Der Sohn ertrinkt bei einem Badeunfall und die hinzueilende Mutter wird in ihrem Auto – ausgerechnet von einem Windrad – geköpft.
In der Erzählgegenwart irrt der Witwer mit der vermeintlichen Journalistin Iris durch Berlin und die Geschichte steuert auf einen sinnlosen Showdown zu. Am Ende bleibt unklar, was dieser Roman beabsichtigt: "Rückwind" ist in weitesten Teilen belanglos wie seine Figuren, wie der haarsträubende und langatmige Plot, die mäandernde Sprache und seine wenig überzeugende Erzählform. Von einem Autor wie Burkhard Spinnen wäre mehr zu erwarten gewesen.
Burkhard Spinnen: "Rückwind"
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt a.M., 400 Seiten, 24 Euro.