Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 1 g-Moll
"Ich bin nutzlos, ich bin eine Null". So deprimiert klagte Peter Tschaikowsky im Jahr 1886, von Selbstzweifeln geplagt, als er mit der Arbeit an seiner ersten Sinfonie nicht vorankam. Damals war der Komponist 26 Jahre alt. Später verharmloste er das Werk als "eine Sünde meiner süßen Jugendzeit." Semyon Bychkov sieht das ganz anders. Der amerikanische Dirigent russischer Abstammung hat mit der Tschechischen Philharmonie sämtliche Sinfonien von Tschaikowsky eingespielt und schätzt auch die erste mit dem Titel "Winterträume" sehr, wie er im Beiheft zur CD-Box bekennt:"...seine wunderbare Begabung wird schon früh in den "Winterträumen" deutlich klar, insbesondere in dem faszinierenden langsamen Satz."
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 1 g-Moll
Der warme Streicherklang gilt als das vielleicht markanteste Merkmal der Tschechischen Philharmonie. Er prägt auch die Tschaikowsky-Aufnahmen unter Leitung von Semyon Bychkov, die über einen Zeitraum von vier Jahren entstanden und jetzt als Box unter dem Motto "The Tschaikowsky Project" erschienen sind. Die erste Sinfonie ist der Auftakt zu einer spannenden Neubegegnung. Tschaikowskys Musik wird hierzulande ja mitunter als kitschig abgetan, aber diesen Eindruck korrigiert Bychkov in seiner neuen Einspielung mit Nachdruck, Herzblut und gutem Geschmack. Bei ihm wirkt die Ausdruckskraft nicht sentimental, sondern authentisch. Gemeinsam mit der Tschechischen Philharmonie durchlebt er die Kontraste der Werke, wie in der sechsten, der wohl bekanntesten Sinfonie von Tschaikowsky, mit dem Titel "Pathétique". Nach dem düster brütenden Beginn, in dem der Komponist auf Geigen und hohe Bläser verzichtet, stürzt sich der erste Satz der Sinfonie in eine dramatische Steigerung.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 6 h-Moll
Das ist ebenso packend wie präzise musiziert. Die Aufnahme der sechsten Sinfonie, "Pathétique", liefert einen von vielen Belegen für das hohe Niveau der Tschaikowsky-Einspielung aus Prag. Semyon Bychkov, mit der Tschechischen Philharmonie schon länger eng verbunden und nach dem Tod von Jiří Bělohlávek im Jahr 2017 zu deren Chefdirigent berufen, formt mit seinen Musikern eindringliche Interpretationen. Dabei wahrt er aber immer einen gerundeten, homogen gemischten Klang, auch wenn Tschaikowsky das Orchester ins forte oder fortissimo führt. Diese Vortragsanweisungen lassen sich natürlich auch anders lesen, als Hinweis auf grelle Farben. So hat es etwa der legendäre russische Dirigent Jewgenij Mrawinsky verstanden. Hier ein kurzer Ausschnitt aus Mrawinskys Aufnahme der vierten Sinfonie von Tschaikowsky mit den Leningrader Philharmonikern, die in den 1950er Jahren entstanden ist.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll
Beim russischen Orchester hat der Beginn der Vierten eine klangliche Schärfe, die der neuen Aufnahme aus Tschechien ganz fremd ist.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll
Noch weiter klaffen die Vorstellungen im Finale der Sinfonie auseinander. Jewgenij Mrawinsky lässt das Stück förmlich explodieren, seine Leningrader Philharmoniker spielen wie die Teufel.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll
An diese fiebrige Hitze reicht die Interpretation von Semyon Bychkov nicht heran und will es wohl auch gar nicht. Im direkten Vergleich wirkt das Finale der Vierten deshalb eher gezügelt und fast ein bisschen brav.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 4 f-Moll
Große Leidenschaft und Herzenswärme
Das Feuer, das Tschaikowsky mit der Vortragsbezeichnung Allegro con fuoco einfordert, zündet Semyon Bychkov hier, im Finale der vierten Sinfonie, vielleicht eine Spur zu kontrolliert. Doch das ist eher die Ausnahme. Insgesamt neigen die Interpretationen keinesfalls zur Kühle, sondern sind von einer großen Leidenschaft und Herzenswärme getragen. Kein Wunder, schließlich ist die Musik von Tschaikowsky für Bychkov eine Kindheitsliebe, wie er im Beiheft der CD-Box betont. Diese enge Verbindung ist auch in den weniger bekannten Orchesterwerken zu spüren. In der Manfred-Sinfonie, mit ihrem Gegensatz aus Schwermut und ekstatischem Rauschen, aber auch in der selten aufgeführten dritten, der so genannten "Polnischen" Sinfonie. Im Andante elegiaco der Dritten schenkt Tschaikowsky den Geigen ein schwärmerisches Thema, das sich im Mittelteil verströmt. Dieses Thema lässt Bychkov mit Emphase und glühendem Ton aussingen.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 3 D-Dur
Da ist er wieder zu spüren, der sinnliche Streichersound der Tschechischen Philharmonie. Das Orchester gilt nicht umsonst als Klangkörper der europäischen Spitzenklasse, auch die Bläser sind exzellent besetzt. Sie haben bei Tschaikowsky reichlich Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Semyon Bychkov gibt ihnen Raum, zu atmen und ihre warmen Farben zu entfalten, wie im Andante aus der fünften Sinfonie mit seinem herrlichen Hornsolo.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 5 e-Moll
Das ist nicht nur vom Solohornisten sehr schön gespielt, sondern auch vom Rest des Orchesters sensibel begleitet und eingebettet und vom Aufnahmeteam differenziert eingefangen. Selbst in üppiger besetzten Passagen bleibt der Klang der Einspielung gut durchhörbar, wie im weiteren Verlauf des Andante aus der Fünften, wenn Tschaikowsky sich und den Hörern eine romantische Schwelgerei gönnt.
Musik: Peter Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 5 e-Moll
Virtuosität und Wachsamkeit
Semyon Bychkov modelliert mit seinem Orchester natürliche Spannungsverläufe, so wie hier, im Andante aus der fünften Sinfonie, das erst aufblüht und dann allmählich zurück sinkt. Die Musik verdichtet sich zu einem klingenden Organismus. Nicht nur in den Sinfonien, die den Großteil des "Tschaikowsky Project" ausmachen, sondern auch in Werken wie der Serenade für Streicher oder in der Fantasieouvertüre nach Shakespeares "Romeo und Julia". Dort verbindet der Komponist das süße Sehnen des Liebespaars und die Konflikte der verfeindeten Familien zu einem mitreißenden Drama, bei dem die Gegensätze am Ende direkt aufeinander prallen. Auch hier demonstriert Bychkov die Virtuosität und die Wachsamkeit der Tschechischen Philharmonie.
Musik: Peter Tschaikowsky, "Romeo und Julia". Fantasieouvertüre
Neben den reinen Orchesterwerken enthält die sieben CDs umfassende Tschaikowsky-Box auch die drei Klavierkonzerte des Komponisten, alle mit Kirill Gerstein als Solist. Das berühmte erste Klavierkonzert spielt Gerstein in der frühen Fassung von 1879, die Tschaikowsky selbst noch bis kurz vor seinem Tod dirigiert hat und die insgesamt deutlich lyrischer und weniger knallig angelegt ist als die heute meist aufgeführte spätere Version.
Doch die noch größere Entdeckung ist das zweite Klavierkonzert, ein Werk voller Überraschungen. Eine davon ist die Idee, im langsamen Satz lange Zeit Violine und Cello den Vortritt zu lassen, bevor das Klavier einsetzt. Damit hat Tschaikowsky sich bei Tastenlöwen, die gern möglichst alleine glänzen wollen, nicht unbedingt beliebt gemacht, aber den Orchestermusikern eine schöne Vorlage gegeben. Die nutzen der Konzertmeister und der Solocellist, um mit Kirill Gerstein in einen intimen Dialog zu treten.
Musik: Peter Tschaikowsky, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 G-Dur
Das Andante non troppo des zweiten Klavierkonzerts von Peter Tschaikowsky, mit Kirill Gerstein und der Tschechischen Philharmonie unter Leitung von Semyon Bychkov. Ein Ausschnitt aus einer sieben CDs umfassenden Box mit dem Titel "The Tschaikowsky Project", die bei Decca erschienen ist.
"The Tchaikovsky Project"
Sämtliche Sinfonien und Klavierkonzerte u.a. von Peter Tschaikowsky
Kirill Gerstein, Klavier
Tschechische Philharmonie
Ltg: Semyon Bychkov
Decca 4834942 (7 CDs)
Sämtliche Sinfonien und Klavierkonzerte u.a. von Peter Tschaikowsky
Kirill Gerstein, Klavier
Tschechische Philharmonie
Ltg: Semyon Bychkov
Decca 4834942 (7 CDs)