Auch Begriffe haben ihre Konjunkturen. Was einmal in Mode und in aller Munde war, ist plötzlich ausrangiert - und umgekehrt. Begriffe haben also Geschichte, und wer sich die Geschichte der Begriffe näher ansieht, wird feststellen, dass sie ein ergiebiges Reservoir darstellt für das, was man gemeinhin unter dem Wort denken subsummiert. Denn man kann sich fragen, was eigentlich damit verloren geht, wenn bestimmte Begriffe außer Gebrauch geraten - und kommt auf diesem Weg immer zu einer mehr oder weniger geglückten Diagnose der jeweiligen Gegenwart. Heimat wäre so ein Begriff, oder Achtsamkeit, oder auch Intensität – ein Wort, das der junge französische Philosoph Tristan Garcia jüngst erfolgreich wiederbelebt hat. Nun ist es das Ritual, dessen Reanimation wir dem koreanischen Philosophen Byung-Chul Han verdanken: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart heißt sein neuester, nur knapp 130 Seiten starker Essay. Und wir sagen es gleich vorweg: Die Reanimation ist geglückt.
"Das Smartphone ist kein Ding im Sinne von Hannah Arendt. Ihm fehlt gerade die Selbigkeit, die das Leben stabilisiert. Besonders haltbar ist es auch nicht Es unterscheidet sich von Dingen wie einem Tisch, die in ihrer Selbigkeit mir gegenüberstehen. Alles andere als selbig sind seine medialen Inhalte, die unsere Aufmerksamkeit ständig in Beschlag nehmen. Ihr rascher Wechsel lässt kein Verweilen zu. Die dem Apparat innewohnende Unruhe macht ihn zu einem Un-Ding. Zwingend ist außerdem der Griff nach ihm. Vom Ding aber sollte kein Zwang ausgehen."
Wohnen in Zeit und Raum
Rituale, sagt Byung-Chul Han, glichen Dingen insofern, als sie wie diese das menschliche Leben stabilisierten, gewissermaßen dessen Haltbarkeit stärkten. Rituale dienten dazu, dass sich der Mensch im Unbehausten zu Hause fühlen kann. Rituale wären in der Zeit nämlich das, was Häuser für den Raum sind. Der Verlust der Rituale käme umgekehrt einer Enthausung des menschlichen Daseins gleich, einer grundlegenden Ausgesetztheit und Verunsicherung des Menschseins.
Byung-Chul Han hat intensiv über Heidegger gearbeitet, und das prägt unüberhörbar seinem Denkstil, was aber nicht als Einschränkung verstanden werden soll, eher im Gegenteil. Ist, um ein Beispiel zu geben, für Heidegger die Sprache das Haus des Seins, belehnt Han eben dieses Denkmuster, um an ihm seinen Begriff des Rituals zu entfalten. Für Han ist das Ritual das Haus des Menschen.
Tatsächlich haben Sprache und Ritual etwas gemeinsam – nämlich dass Sprache selbst zu den Ritualen gerechnet werden kann, insofern Sprache ja ihre Elemente beständig wiederholt und variiert – wofür ein Regelwerk wie die Grammatik sorgt. Die Grammatik stabilisiert die Sprache, indem sie diese zu Wiederholungen zwingt, die Wiedererkennen ermöglichen. Indem ich die grammatischen Rituale der Sprache wiedererkenne, kann ich mich mit Gedankengut befreunden, das mir andernfalls gänzlich fremd bleiben müsste. Sprache, wenn man so will, ermöglicht es mir, dass ich Gedanken einhause, die gar nicht die meinen, die mir fremd sind.
Das Ritual der Sprache
Das Ritual der Sprache wiederum ist das Schweigen, das ja seinerseits Sprache ist, nämlich deren reine Form. Das Schweigen sagt nichts. Es legt einen stummen Ring um das Sagen. Deshalb kann Schweigen beredt sein. Für Heidegger war das Schweigen die eigentliche Sprache gegenüber dem uneigentlichen Gerede. Gerede ist für Han die adipöse digitale Kommunikation, die Kommunikation ohne Gemeinschaft. Jeder und jede äußern ständig und überall irgendwas zu irgendwas.
Ganz analog zu eigentlicher und uneigentlicher Sprache deutet Han das Ritual. Das Ritual ist regelgeleitet – und damit produziert es Wiederholung. Eine Wiederholung holt etwas wieder- oder zurück: nämlich das, was man schon kennt. Das Ritual ist ein Wiedererkennen in dem Sinn, das es zeigt, dass man sich schon auskennt. Das Ritual ist die Form des Auskennens - und das Auskennen Teil des Prozesses, den Hegel Einhausung nennt. Mit anderen Worten: Rituale helfen dem Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden (zum Recht zu finden) und häuslich einzurichten. Sie bringen Gemeinschaften ohne Kommunikation hervor, die im polaren Gegensatz stehen zur Kommunikation ohne Gemeinschaft, wie sie heute das Bild prägt, das die Welt abgibt. Es ist ein Bild extremer Beliebigkeit und Unzuverlässigkeit.
"Stille und Schweigen haben keinen Platz im digitalen Netz, das eine flache Aufmerksamkeitsstruktur hat. Sie setzen eine vertikale Ordnung voraus. Die digitale Kommunikation ist horizontal. Nichts ragt dort. Nichts vertieft sich. Sie ist nicht intensiv, sondern extensiv, was dazu führt, dass der Kommunikationslärm steigt."
Adipöse Kommunikation
Ventiliert wird diese soziale Verwüstung im Sinne wachsender Unbehaustheit – denn darum handelt es sich - vom sogenannten neoliberalen Regime – ein Begriffsgespenst, das als Generalsubjekt den unbestreitbaren Vorteil hat, zunächst einmal die Fronten zu klären. Und genau diese Funktion übernimmt es bei Han. Das neoliberale Regime ist der Gegner, der ständig als Subtext des Essays mitläuft. So stellt der Philosoph dem unbedingten Vorrang von Produktion und Konsumption – wie eben auch die ungebremste Produktion und Konsumption von Informationen, Daten und Kommunikationen – einem fernöstlich inspirierten, schonenden Umgang entgegen, der auf Rücksicht beruht, auf Höflichkeit, Gelassenheit und auf dem Ritual. Und wer von uns wollte bezweifeln, dass die Welt Schonung dringend nötig hat?
Hans Essay richtet sich anhand einer langen Liste von Oppositionen aus: Die Narration wird der ratio entgegengesetzt, das Erzählen dem Zählen; der intensive Moment dem bloß extensiven Fort- und Überleben; das Zeichen dem Bezeichneten, die Leere der Bedeutungshuberei; die Hülle dem Inhalt; die Regelleidenschaft der Psychologie, die gern in den halluzinierten Untiefen der Seele fischt; die äußerliche Regel dem verinnerlichten Gesetz. Im Grund geht es um ein neues Verhältnis zwischen innen und außen, Intension und Extension. Mal zählt das Außen mehr als das Innen – die Verpackung mehr als der Inhalt -, mal das Innen mehr als das Außen – Kontemplation geht vor Produktion. Polemisch gesagt, betreibt Han ein Art Katz- und Mausspiel mit dem Westen und dessen Innen-Außen-Ökonomie.
Der allgegenwärtige Protestant
Substantiell richtet sich Byung-Chul Hans Essay gegen die umfassende Protestantisierung des Westens, gegen den kapitalistischen Verinnerlichungsfuror, der nur das Pedant darstellt zur entgrenzten Produktion, zu der auch das entgrenzte Selbst gehört, zumal sein entgrenztes Sich-Produzieren in den sozialen Medien.
Man könnte auch sagen, dass Han die westliche Welt mit der fernöstlichen Philosophie konfrontiert – die quantitative und additive Welt des Materialismus samt ihrer wuchernden Kommunikation und Informationsflut mit der qualitativen Welt der Intensität und, heideggerianisch gesprochen, Kommunion. Allem eine Bedeutung zu unterstellen, ist der protestantischen Wut des Verstehens geschuldet – die damit die fraglose Bedeutsamkeit der Welt ironischerweise subvertiert. Entleerung ist Voraussetzung für Fülle – nicht die Völlerei.
"Der Mensch ist ein Ortswesen. Der Ort macht erst das Wohnen, den Aufenthalt möglich. Das Ortswesen ist jedoch nicht notwendig ein Ortsfundamentalist. Es schließt die Gastfreundlichkeit nicht aus. Destruktiv ist die totale Ent-ortung der Welt durch das Globale, die alle Unterschiede nivelliert und nur Variationen des Gleichen zulässt. Die Andersheit, die Fremdheit wirkt der Produktion entgegen. So bringt das Globale eine Hölle des Gleichen hervor. Gerade angesichts dieser Gewalt des Globalen erwacht der Ortsfundamentalismus."
Das bemerkt Han, um nicht vorschnell gewisse eingeübte Reflexe zu bedienen. Er bemerkt es zu Recht. Auch seine Vorbemerkung gilt der Abwehr vorhersehbarer Unterstellungen, wenn er schreibt, dass Rituale kein sentimentaler Essay seien, der diese sehnsüchtig zurücksehne. Als Kulturpessimist will er nicht gebrandmarkt werden – und ein solcher ist Han ja auch nicht. Doch ganz unabhängig davon: Der Mensch ist nicht nur dazu da, die Arme hochzureißen und Juchuu zu rufen, wie manche zu denken scheinen. Man bedenke außerdem: Für das Lobpreisen hat es einmal Rituale gegeben.
Byung-Chul Han: "Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart."
Ullstein Verlag, Berlin. 128 Seiten, 20. Euro.
Ullstein Verlag, Berlin. 128 Seiten, 20. Euro.