Der Aufstieg begann mit dem Untergang. Im Jahr 476 wurde in Rom der letzte Kaiser des römischen Reiches abgesetzt. Die westliche Hälfte des stolzen, großen Imperiums fiel in die Hand fremder Invasoren – Konstantinopel jedoch, die kaiserliche Residenz im Osten, trotzte hinter ihren mächtigen Mauern jedem Angriff. Die prunkvolle Metropole und weite Landstriche an der Ostseite des Mittelmeers blieben römisch – dieses aufstrebende Reich wurde später "Byzanz" genannt.
"Byzanz ist ja die fortgesetzte Antike, die bruchlos fortgesetzte Antike. Die Byzantiner selbst sahen sich als Römer, bis ins 15. Jahrhundert sahen sie sich als Römer."
Dr. Falko Daim, Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz und Kurator der Byzanz-Ausstellung in der Bundeskunsthalle.
Im Westen Europas ging das über Jahrhunderte angesammelte Wissen der Antike im Chaos der Völkerwanderungszeit unter. Die Technik des Betongießens, die Regeln des römischen Rechts und die Rezepte der römischen Küche, alles geriet in Vergessenheit. Nicht so in der östlichen Reichshälfte.
"Von Niedergang kann man überhaupt nicht reden, es gibt unglaublich viel Neues, es gibt eine rasche Entwicklung sowohl in der Technik als auch in der Wissenschaft, in der Literatur, in der Musik, wo Sie hinschauen, geschieht sehr viel Neues."
In der Kultur von Byzanz entstand eine Brücke zwischen römischer Antike und christlichem Mittelalter. Daim präsentiert als Beispiel eine feine, rot gebrannte Tonschale: Von außen klassisches römisches Geschirr, aber innen zeigt ein kunstvolles Relief drei Männerfiguren zwischen Flammen – damals ein verbreitetes christliches Motiv.
"Die drei Jünglinge im Feuerofen sind ja eines dieser Motive, die man in der frühchristlichen Zeit gerne verwendet hat, um wankend gewordene Christen am Absprung zu hindern. Und hier, bei diesen Sigillaten, kann man sowohl antike klassische Motive wie Herakles und der Nemäische Löwe sehen als auch christliche Symbole – aber es wird niemals vermischt."
Das waren die Säulen, auf denen die kulturelle Identität des byzantinischen Staates ruhte. Das Erbe der Antike, vom Götterhimmel bis zum Rechtssystem, wurde weiter entwickelt, bis das Reich rund 1000 Jahre später unterging. Daneben stand das Christentum, das sich nach Kaiser Konstantins Toleranzedikt im 4. Jahrhundert allmählich in alle Lebensbereiche ausbreitete. Die dritte Säule war die griechische Sprache: Auf Griechisch verständigte man sich an der östlichen Seite des Mittelmeers schon seit Jahrtausenden. Hinzu kamen die vielfältigen Einflüsse aus Kulturen von weit jenseits der Reichsgrenzen.
"Was wir hier sehen, ist ein gehörnter Löwe, eine Goldschale in Form eines gehörnten Löwen. Der gehörnte Löwe lässt sich zurückverfolgen bis zu den Achämeniden. Also altpersische Kulturelemente."
Aber kombiniert mit einem Palmblatt-Muster nach typisch römischem Geschmack. Nur ein byzantinischer Handwerker konnte diese Traditionen miteinander verbinden – und er arbeitete nicht etwa in einer Metropole wie Konstantinopel, Thessaloniki in Griechenland oder Ephesos an der Küste Kleinasiens, nein, er arbeitete am Rand der Karpaten, am Hof eines Awarenfürsten!
"Alle, die Langobarden, die Bayern, die Alemannen, die Awaren, haben sich in ihrer Repräsentationskultur an den Byzantinern orientiert."
Im Westen Europas hatte nichts lange Bestand. Ostgoten, Westgoten und Vandalen durchzogen den halben Kontinent. Franken behaupteten ein erstes Reich, Slawen und Awaren drängten von Osten heran. Staaten blühten auf und zerfielen. Byzanz dagegen verteidigte die Herrschaft über den Balkan und Griechenland, über Kleinasien, Anatolien und den Nahen Osten bis hinunter nach Ägypten.
Das lag nicht allein an der schlagkräftigen Armee. Der Kaiser in Konstantinopel stützte sich auf intakte Handelswege, ein Netz von Städten, ein solides Steuersystem. So wurde Byzanz zum Vorbild für den Rest des Kontinents, erklärt Ralph-Johannes Lilie, Professor für Byzantinistik an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften:
"Von daher ist Byzanz sozusagen das leitende Reich, das Reich mit dem höchsten Stellenwert im Mittelalter. Das geht sicher bis zum achten Jahrhundert, bis mit Karl dem Großen auch im Westen das Kaisertum wiederkommt und bis dahin haben die sich alle an Byzanz ausgerichtet."
Lilie kann das kulturelle Gefälle zwischen Ost und West mit einer Fülle von Beispielen illustrieren.
"Um die Mitte des siebten Jahrhunderts gibt’s eine Gesandtschaft, die von Byzanz nach Westen geht, die bringt eine Orgel mit. Diese Orgel wird in sämtlichen lateinischen Quellen der Zeit erwähnt, das ist offenbar die erste Orgel im Abendland – in byzantinischen Quellen wird die gar nicht erwähnt, weil es zu unwichtig ist. Als der fränkische Kaiser Karl der Dicke zum Kaiser gekrönt wird Ende des achten Jahrhunderts, da schreiben die 'Annales Fuldenses', er kam zurück und hat jetzt griechische Sachen angehabt. Er hat nicht mehr die fränkische Kleidung, sondern er hat lang wallende Gewänder angehabt, der hat sich in den damaligen Kaiser-Ornat gekleidet, ein Kaiser hatte so auszusehen und zwar wie er in Byzanz aussah natürlich."
Der Forscher leitet bei der Berliner Akademie der Wissenschaften den Aufbau eines Personenlexikons von Byzanz. Unter rund 20.0000 Einträgen wird das Wissen zu jeder Person zusammengestellt, die in einer historischen Quelle mit Byzanz in Zusammenhang gebracht wird: Grundlagenforschung für die Byzantinistik, das kleine, relativ junge Fach, das Archäologie und Sprache, Geschichte und Kunstgeschichte des Oströmischen Reiches behandelt.
Lilie wertet Inschriften und Siegel aus, Gesetzestexte und Lebensgeschichten von Heiligen. Den weitaus größten Teil der überlieferten Handschriften haben Theologen verfasst, viele handeln auch von theologischen Fragen. Deshalb hat sich lange der Eindruck gehalten, das oströmische Reich sei von den christlichen Bischöfen und ihrem Oberhaupt, dem Patriarchen in Konstantinopel, dominiert worden. Falsch, erklärt der Forscher: Die Fülle kirchlicher Texte ist ein Ergebnis der intensiven religiösen Auseinandersetzungen, die durch die frühe Christianisierung und die dauerhafte Stabilität des Landes begünstigt wurden.
"Die christliche Theologie ist im Wesentlichen im Osten entwickelt worden und wurde auch dort weitergeführt – im Osten haben Sie viel mehr theoretische Diskussion und dann gibt’s auch mehr Entwicklungen, die man als Fehlentwicklungen ansah und entsprechend verfolgte."
Widersprüche im Gefüge der relativ jungen Glaubenslehre mussten geglättet, abweichende Deutungen ausgeschaltet, eine Spaltung der Kirche vermieden werden. Besonders dramatisch war der "Bidlerstreit". Mehr als 100 Jahre lang debattierte die kirchliche und politische Elite, ob man Gott, Christus und die Heiligen in konkreten Abbildungen oder nur in Symbolen verehren dürfe.
Die Byzantinistin Claudia Sode, Professorin an der Universität Köln, arbeitet den "Bilderstreit" wissenschaftlich auf. Als das byzantinische Reich im achten Jahrhundert von allen Seiten angegriffen wurde, berichtet sie, gewannen religiöse Bilder immer größere Bedeutung. Auslöser waren offenbar Ereignisse wie in Sirmium, einer Stadt im heutigen Serbien, wo die fliehende byzantinische Bevölkerung die Reliquien des Heiligen Demetrios zurücklassen musste. Nur eine Abbildung von ihm konnte man in das sichere Thessaloniki retten – von da an wurde die Darstellung des Heiligen verehrt statt seiner persönlichen Überreste.
"Man gelangt zu der Überzeugung, dass die am Bild vollzogene Verehrung auf die dargestellte Person übergehe. Und umgekehrt erhofft man sich von der im Bild dargestellten Person über das Bild Hilfe, Beistand, Schutz vor den Feinden."
Doch viele Theologen widersprachen und erst nach schweren Auseinandersetzungen setzte sich die Partei durch, die für die Verehrung von Bildern eintrat. Daher haben die Ikonen in der Orthodoxen Kirche bis heute große Bedeutung – und Demetrios ist noch immer der Stadtheilige von Thessaloniki.
In der Byzantinistik allerdings herrscht Streit über den Bilderstreit. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, wie die historischen Quellen zu bewerten sind. Die Quellenkritik, methodische Grundlage aller historischen Wissenschaften, kam lange zu kurz. Erst neuerdings macht man sich bewusst, sagt Sode, dass alle überlieferten Schriften von Bilderverehrern verfasst wurden. Sie stammen von den Sieger des Streites und sind daher immer parteiisch, häufig aufgebauscht und oft genug gefälscht.
"In den Lebensbeschreibungen von Heiligen gibt es Hinweise darauf, dass Personen, die für politische Dinge verurteilt wurden, nachträglich zu Märtyrern der Bilderverehrung stilisiert wurden."
Wie viel Einfluss nahm die Kirche auf die Politik? Sie war ein Grundpfeiler des Reiches: Der Kaiser galt als Stellvertreter Gottes auf Erden. Er hatte darüber zu wachen, dass das Dogma eingehalten wurde. Seine politischen Erfolge und Misserfolge deutete man als Reaktionen des Allmächtigen auf den Lebenswandel der Gläubigen - genau wie Erdbeben oder Dürreperioden.
"Wir haben sehr viele Beispiele dafür, dass Naturereignisse, Siege und Niederlagen im Krieg als Zeichen Gottes verstanden werden, es gab im Jahre 726 ein großes Seebeben mit Vulkanausbruch in der Ägäis, das als göttliches Zeichen gewertet wurde, dass Gott seinen Ärger über die neu aufgekommene Bilderverehrung zum Ausdruck bringt. Hungernöte, Pest, das sind göttliche Zeichen, die man dann auch wertet als Zeichen zur Umkehr, zur Besinnung, einen anderen Weg einzuschlagen."
Dennoch: Im Westen spielte das Christentum eine größere politische Rolle. Das Deutsche Reich zum Beispiel hätte ohne Mitarbeit sie nicht funktioniert: Die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier wählten den Kaiser mit, der Papst in Rom krönte ihn. Umgekehrt in Byzanz: Dort ernannte der weltliche Herrscher das Oberhaupt der Kirche.
"Da zeigt sich ein großer Gegensatz zwischen griechischem Osten und lateinischem Westen. Im Westen ist es seit der Kaiserkrönung Karls des Großen der Papst, der den Kaiser zum Kaiser macht, in Byzanz ist es der Kaiser, der sehr häufig Patriarchen, wenn sie anderer Meinung waren, abgesetzt hat, das sind Phänomene, die im lateinischen Westen gar nicht denkbar wären."
Nicht nur die Schriften sind kirchlich dominiert, auch in der Architektur, die aus byzantinischer Zeit erhalten ist, stehen sakrale Bauten im Vordergrund. In Griechenland, auf dem Balkan und in weiten Teilen der Türkei findet man heute in jedem Dorf eine der charakteristischen alten Kirchen mit den roten Kuppeldächern – und oft mehr als eine. Entsprechend war die byzantinische Archäologie lange auf die Erforschung von Kirchen fixiert - bis sich eine junge Forscher-Generation neuen Themen zuwandte. Ina Eichner gehörte zu den ersten.
"Wenn man also vor den Kirchen steht, die häufiger mal in Architekturhandbüchern vorkommen, wenn man also daneben lauter Häuser sieht, die mindestens genauso gut erhalten sind wie die Kirchen, dann fragt man sich schon, warum hat sich eigentlich bisher noch niemand für die Häuser interessiert?"
Dr. Eichner, Wissenschaftlerin am Römisch-Germanischen Zentralmuseum Mainz, hat in Kilikien, einer Landschaft an der Südküste der Türkei, zahllose Häuser aus der frühen Zeit des byzantinischen Reiches gefunden. Sie wurden zwischen dem fünften und siebten Jahrhundert gebaut und stehen immer noch. Aus kleinen Steinquadern gemauert, oft zwei, manchmal drei Stockwerke hoch – und mit einer Ausstattung wie in der besten Zeit der römischen Antike.
"Bei diesem Gebäude haben wir im ersten Obergeschoss auf der Außenseite eine sogenannte Nischen-Toilette. Das sind Latrinen, die sogar auch bei pompejanischen Häusern vorkommen."
Die Latrine hatte einen Abfluss durch die Außenmauer und eine Wasserspülung, zumindest bei Regen.
"Es gibt hier vom Dach her eine Wasserleitung, die in diese Toilette führt, sie durchgespült hat und dann unten wieder weiterläuft in den Boden rein."
Das Erdgeschoss der Häuser wurde meist landwirtschaftlich genutzt: als Viehstall oder zur Verarbeitung von Oliven und Weintrauben. Die Wohnräume im ersten Stock hatten hohe Rundbogenfenster und oft einen Balkon, das schräge Dach war mit Ziegeln gedeckt. Und Komfort war nicht nur Reichen vorbehalten.
"Jetzt haben wir aber zufällig auch ein Reihenhaus gefunden und in diesem Reihenhaus haben wir ebenfalls eine Latrine im Obergeschoss gefunden."
Ein Reihenhaus aus fünf kleinen Wohneinheiten, alle nach dem selben Muster konstruiert – ein erstaunliches Beispiel für serienmäßiges, platzsparendes Bauen in der byzantinischen Provinz!
Eichner steht mit ihrer Untersuchung nicht mehr allein. Auch beim DAI, dem Deutschen Archäologischen Institut, hat man sich weltlicher Architektur zugewandt. Die sozialen Veränderungen des byzantinischen Reiches spiegeln sich darin stärker als im Kirchenbau. Ein markanter Wandel lässt sich im Verlauf des fünften Jahrhunderts in den Städten feststellen: Theater und Bibliotheken wurden geschlossen, öffentliche Bäder verkleinert. Die breiten Prachtstraßen, geschmückt mit kunstvollen Statuen und Brunnen, flankiert von Bogengängen mit zahllosen Geschäften, gab man auf.
Dabei war das fünfte Jahrhundert für Byzanz keine Zeit des Niedergangs. Dr. Philipp Niewöhner, Experte für byzantinische Archäologie beim DAI in Istanbul, vermutet, dass repräsentative Gebäude danach eher auf dem Land gebaut wurden. Die soliden, großen Häuser, die Ina Eichner dokumentiert hat, könnten in dieses Bild passen. Das öffentliche Leben auf den Straßen und Plätzen der Städte, das für die Antike so typisch war, verlor damals offenbar an Bedeutung. Markiert dieser Zeitraum den Wandel von der Antike zum Mittelalter?
Noch ist eine Datierung offen. Einig sind sich die Byzantinisten aber, dass das oströmische Reich Europas Übergang ins Mittelalter geprägt hat. Erst im 9. Jahrhundert begannen die Gesellschaften im Westen, sich von diesem Vorbild zu emanzipieren, erklärt Ralph-Johannes Lilie.
"Byzanz hat eben einen sehr hohen Stellenwert auch für die abendländische Kultur – und für die Leute damals, die haben das tatsächlich so gesehen, großenteils mit Neid, und sie haben sich’s schließlich dann ja auch angeeignet."
Drastisches Zeugnis der Emanzipation war schließlich die Eroberung Konstantinopels, der christlichen Metropole des Ostens, durch christliche Kreuzfahrer. Von der gründlichen Plünderung im Jahr 1204 hat sich das oströmische Reich nicht mehr erholt – auch wenn es erst 250 Jahre später endgültig unterging: Am 29. Mai 1453 wurde die verarmte Stadt von den übermächtigen Heerscharen der Osmanen eingenommen.
"Byzanz ist ja die fortgesetzte Antike, die bruchlos fortgesetzte Antike. Die Byzantiner selbst sahen sich als Römer, bis ins 15. Jahrhundert sahen sie sich als Römer."
Dr. Falko Daim, Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz und Kurator der Byzanz-Ausstellung in der Bundeskunsthalle.
Im Westen Europas ging das über Jahrhunderte angesammelte Wissen der Antike im Chaos der Völkerwanderungszeit unter. Die Technik des Betongießens, die Regeln des römischen Rechts und die Rezepte der römischen Küche, alles geriet in Vergessenheit. Nicht so in der östlichen Reichshälfte.
"Von Niedergang kann man überhaupt nicht reden, es gibt unglaublich viel Neues, es gibt eine rasche Entwicklung sowohl in der Technik als auch in der Wissenschaft, in der Literatur, in der Musik, wo Sie hinschauen, geschieht sehr viel Neues."
In der Kultur von Byzanz entstand eine Brücke zwischen römischer Antike und christlichem Mittelalter. Daim präsentiert als Beispiel eine feine, rot gebrannte Tonschale: Von außen klassisches römisches Geschirr, aber innen zeigt ein kunstvolles Relief drei Männerfiguren zwischen Flammen – damals ein verbreitetes christliches Motiv.
"Die drei Jünglinge im Feuerofen sind ja eines dieser Motive, die man in der frühchristlichen Zeit gerne verwendet hat, um wankend gewordene Christen am Absprung zu hindern. Und hier, bei diesen Sigillaten, kann man sowohl antike klassische Motive wie Herakles und der Nemäische Löwe sehen als auch christliche Symbole – aber es wird niemals vermischt."
Das waren die Säulen, auf denen die kulturelle Identität des byzantinischen Staates ruhte. Das Erbe der Antike, vom Götterhimmel bis zum Rechtssystem, wurde weiter entwickelt, bis das Reich rund 1000 Jahre später unterging. Daneben stand das Christentum, das sich nach Kaiser Konstantins Toleranzedikt im 4. Jahrhundert allmählich in alle Lebensbereiche ausbreitete. Die dritte Säule war die griechische Sprache: Auf Griechisch verständigte man sich an der östlichen Seite des Mittelmeers schon seit Jahrtausenden. Hinzu kamen die vielfältigen Einflüsse aus Kulturen von weit jenseits der Reichsgrenzen.
"Was wir hier sehen, ist ein gehörnter Löwe, eine Goldschale in Form eines gehörnten Löwen. Der gehörnte Löwe lässt sich zurückverfolgen bis zu den Achämeniden. Also altpersische Kulturelemente."
Aber kombiniert mit einem Palmblatt-Muster nach typisch römischem Geschmack. Nur ein byzantinischer Handwerker konnte diese Traditionen miteinander verbinden – und er arbeitete nicht etwa in einer Metropole wie Konstantinopel, Thessaloniki in Griechenland oder Ephesos an der Küste Kleinasiens, nein, er arbeitete am Rand der Karpaten, am Hof eines Awarenfürsten!
"Alle, die Langobarden, die Bayern, die Alemannen, die Awaren, haben sich in ihrer Repräsentationskultur an den Byzantinern orientiert."
Im Westen Europas hatte nichts lange Bestand. Ostgoten, Westgoten und Vandalen durchzogen den halben Kontinent. Franken behaupteten ein erstes Reich, Slawen und Awaren drängten von Osten heran. Staaten blühten auf und zerfielen. Byzanz dagegen verteidigte die Herrschaft über den Balkan und Griechenland, über Kleinasien, Anatolien und den Nahen Osten bis hinunter nach Ägypten.
Das lag nicht allein an der schlagkräftigen Armee. Der Kaiser in Konstantinopel stützte sich auf intakte Handelswege, ein Netz von Städten, ein solides Steuersystem. So wurde Byzanz zum Vorbild für den Rest des Kontinents, erklärt Ralph-Johannes Lilie, Professor für Byzantinistik an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften:
"Von daher ist Byzanz sozusagen das leitende Reich, das Reich mit dem höchsten Stellenwert im Mittelalter. Das geht sicher bis zum achten Jahrhundert, bis mit Karl dem Großen auch im Westen das Kaisertum wiederkommt und bis dahin haben die sich alle an Byzanz ausgerichtet."
Lilie kann das kulturelle Gefälle zwischen Ost und West mit einer Fülle von Beispielen illustrieren.
"Um die Mitte des siebten Jahrhunderts gibt’s eine Gesandtschaft, die von Byzanz nach Westen geht, die bringt eine Orgel mit. Diese Orgel wird in sämtlichen lateinischen Quellen der Zeit erwähnt, das ist offenbar die erste Orgel im Abendland – in byzantinischen Quellen wird die gar nicht erwähnt, weil es zu unwichtig ist. Als der fränkische Kaiser Karl der Dicke zum Kaiser gekrönt wird Ende des achten Jahrhunderts, da schreiben die 'Annales Fuldenses', er kam zurück und hat jetzt griechische Sachen angehabt. Er hat nicht mehr die fränkische Kleidung, sondern er hat lang wallende Gewänder angehabt, der hat sich in den damaligen Kaiser-Ornat gekleidet, ein Kaiser hatte so auszusehen und zwar wie er in Byzanz aussah natürlich."
Der Forscher leitet bei der Berliner Akademie der Wissenschaften den Aufbau eines Personenlexikons von Byzanz. Unter rund 20.0000 Einträgen wird das Wissen zu jeder Person zusammengestellt, die in einer historischen Quelle mit Byzanz in Zusammenhang gebracht wird: Grundlagenforschung für die Byzantinistik, das kleine, relativ junge Fach, das Archäologie und Sprache, Geschichte und Kunstgeschichte des Oströmischen Reiches behandelt.
Lilie wertet Inschriften und Siegel aus, Gesetzestexte und Lebensgeschichten von Heiligen. Den weitaus größten Teil der überlieferten Handschriften haben Theologen verfasst, viele handeln auch von theologischen Fragen. Deshalb hat sich lange der Eindruck gehalten, das oströmische Reich sei von den christlichen Bischöfen und ihrem Oberhaupt, dem Patriarchen in Konstantinopel, dominiert worden. Falsch, erklärt der Forscher: Die Fülle kirchlicher Texte ist ein Ergebnis der intensiven religiösen Auseinandersetzungen, die durch die frühe Christianisierung und die dauerhafte Stabilität des Landes begünstigt wurden.
"Die christliche Theologie ist im Wesentlichen im Osten entwickelt worden und wurde auch dort weitergeführt – im Osten haben Sie viel mehr theoretische Diskussion und dann gibt’s auch mehr Entwicklungen, die man als Fehlentwicklungen ansah und entsprechend verfolgte."
Widersprüche im Gefüge der relativ jungen Glaubenslehre mussten geglättet, abweichende Deutungen ausgeschaltet, eine Spaltung der Kirche vermieden werden. Besonders dramatisch war der "Bidlerstreit". Mehr als 100 Jahre lang debattierte die kirchliche und politische Elite, ob man Gott, Christus und die Heiligen in konkreten Abbildungen oder nur in Symbolen verehren dürfe.
Die Byzantinistin Claudia Sode, Professorin an der Universität Köln, arbeitet den "Bilderstreit" wissenschaftlich auf. Als das byzantinische Reich im achten Jahrhundert von allen Seiten angegriffen wurde, berichtet sie, gewannen religiöse Bilder immer größere Bedeutung. Auslöser waren offenbar Ereignisse wie in Sirmium, einer Stadt im heutigen Serbien, wo die fliehende byzantinische Bevölkerung die Reliquien des Heiligen Demetrios zurücklassen musste. Nur eine Abbildung von ihm konnte man in das sichere Thessaloniki retten – von da an wurde die Darstellung des Heiligen verehrt statt seiner persönlichen Überreste.
"Man gelangt zu der Überzeugung, dass die am Bild vollzogene Verehrung auf die dargestellte Person übergehe. Und umgekehrt erhofft man sich von der im Bild dargestellten Person über das Bild Hilfe, Beistand, Schutz vor den Feinden."
Doch viele Theologen widersprachen und erst nach schweren Auseinandersetzungen setzte sich die Partei durch, die für die Verehrung von Bildern eintrat. Daher haben die Ikonen in der Orthodoxen Kirche bis heute große Bedeutung – und Demetrios ist noch immer der Stadtheilige von Thessaloniki.
In der Byzantinistik allerdings herrscht Streit über den Bilderstreit. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, wie die historischen Quellen zu bewerten sind. Die Quellenkritik, methodische Grundlage aller historischen Wissenschaften, kam lange zu kurz. Erst neuerdings macht man sich bewusst, sagt Sode, dass alle überlieferten Schriften von Bilderverehrern verfasst wurden. Sie stammen von den Sieger des Streites und sind daher immer parteiisch, häufig aufgebauscht und oft genug gefälscht.
"In den Lebensbeschreibungen von Heiligen gibt es Hinweise darauf, dass Personen, die für politische Dinge verurteilt wurden, nachträglich zu Märtyrern der Bilderverehrung stilisiert wurden."
Wie viel Einfluss nahm die Kirche auf die Politik? Sie war ein Grundpfeiler des Reiches: Der Kaiser galt als Stellvertreter Gottes auf Erden. Er hatte darüber zu wachen, dass das Dogma eingehalten wurde. Seine politischen Erfolge und Misserfolge deutete man als Reaktionen des Allmächtigen auf den Lebenswandel der Gläubigen - genau wie Erdbeben oder Dürreperioden.
"Wir haben sehr viele Beispiele dafür, dass Naturereignisse, Siege und Niederlagen im Krieg als Zeichen Gottes verstanden werden, es gab im Jahre 726 ein großes Seebeben mit Vulkanausbruch in der Ägäis, das als göttliches Zeichen gewertet wurde, dass Gott seinen Ärger über die neu aufgekommene Bilderverehrung zum Ausdruck bringt. Hungernöte, Pest, das sind göttliche Zeichen, die man dann auch wertet als Zeichen zur Umkehr, zur Besinnung, einen anderen Weg einzuschlagen."
Dennoch: Im Westen spielte das Christentum eine größere politische Rolle. Das Deutsche Reich zum Beispiel hätte ohne Mitarbeit sie nicht funktioniert: Die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier wählten den Kaiser mit, der Papst in Rom krönte ihn. Umgekehrt in Byzanz: Dort ernannte der weltliche Herrscher das Oberhaupt der Kirche.
"Da zeigt sich ein großer Gegensatz zwischen griechischem Osten und lateinischem Westen. Im Westen ist es seit der Kaiserkrönung Karls des Großen der Papst, der den Kaiser zum Kaiser macht, in Byzanz ist es der Kaiser, der sehr häufig Patriarchen, wenn sie anderer Meinung waren, abgesetzt hat, das sind Phänomene, die im lateinischen Westen gar nicht denkbar wären."
Nicht nur die Schriften sind kirchlich dominiert, auch in der Architektur, die aus byzantinischer Zeit erhalten ist, stehen sakrale Bauten im Vordergrund. In Griechenland, auf dem Balkan und in weiten Teilen der Türkei findet man heute in jedem Dorf eine der charakteristischen alten Kirchen mit den roten Kuppeldächern – und oft mehr als eine. Entsprechend war die byzantinische Archäologie lange auf die Erforschung von Kirchen fixiert - bis sich eine junge Forscher-Generation neuen Themen zuwandte. Ina Eichner gehörte zu den ersten.
"Wenn man also vor den Kirchen steht, die häufiger mal in Architekturhandbüchern vorkommen, wenn man also daneben lauter Häuser sieht, die mindestens genauso gut erhalten sind wie die Kirchen, dann fragt man sich schon, warum hat sich eigentlich bisher noch niemand für die Häuser interessiert?"
Dr. Eichner, Wissenschaftlerin am Römisch-Germanischen Zentralmuseum Mainz, hat in Kilikien, einer Landschaft an der Südküste der Türkei, zahllose Häuser aus der frühen Zeit des byzantinischen Reiches gefunden. Sie wurden zwischen dem fünften und siebten Jahrhundert gebaut und stehen immer noch. Aus kleinen Steinquadern gemauert, oft zwei, manchmal drei Stockwerke hoch – und mit einer Ausstattung wie in der besten Zeit der römischen Antike.
"Bei diesem Gebäude haben wir im ersten Obergeschoss auf der Außenseite eine sogenannte Nischen-Toilette. Das sind Latrinen, die sogar auch bei pompejanischen Häusern vorkommen."
Die Latrine hatte einen Abfluss durch die Außenmauer und eine Wasserspülung, zumindest bei Regen.
"Es gibt hier vom Dach her eine Wasserleitung, die in diese Toilette führt, sie durchgespült hat und dann unten wieder weiterläuft in den Boden rein."
Das Erdgeschoss der Häuser wurde meist landwirtschaftlich genutzt: als Viehstall oder zur Verarbeitung von Oliven und Weintrauben. Die Wohnräume im ersten Stock hatten hohe Rundbogenfenster und oft einen Balkon, das schräge Dach war mit Ziegeln gedeckt. Und Komfort war nicht nur Reichen vorbehalten.
"Jetzt haben wir aber zufällig auch ein Reihenhaus gefunden und in diesem Reihenhaus haben wir ebenfalls eine Latrine im Obergeschoss gefunden."
Ein Reihenhaus aus fünf kleinen Wohneinheiten, alle nach dem selben Muster konstruiert – ein erstaunliches Beispiel für serienmäßiges, platzsparendes Bauen in der byzantinischen Provinz!
Eichner steht mit ihrer Untersuchung nicht mehr allein. Auch beim DAI, dem Deutschen Archäologischen Institut, hat man sich weltlicher Architektur zugewandt. Die sozialen Veränderungen des byzantinischen Reiches spiegeln sich darin stärker als im Kirchenbau. Ein markanter Wandel lässt sich im Verlauf des fünften Jahrhunderts in den Städten feststellen: Theater und Bibliotheken wurden geschlossen, öffentliche Bäder verkleinert. Die breiten Prachtstraßen, geschmückt mit kunstvollen Statuen und Brunnen, flankiert von Bogengängen mit zahllosen Geschäften, gab man auf.
Dabei war das fünfte Jahrhundert für Byzanz keine Zeit des Niedergangs. Dr. Philipp Niewöhner, Experte für byzantinische Archäologie beim DAI in Istanbul, vermutet, dass repräsentative Gebäude danach eher auf dem Land gebaut wurden. Die soliden, großen Häuser, die Ina Eichner dokumentiert hat, könnten in dieses Bild passen. Das öffentliche Leben auf den Straßen und Plätzen der Städte, das für die Antike so typisch war, verlor damals offenbar an Bedeutung. Markiert dieser Zeitraum den Wandel von der Antike zum Mittelalter?
Noch ist eine Datierung offen. Einig sind sich die Byzantinisten aber, dass das oströmische Reich Europas Übergang ins Mittelalter geprägt hat. Erst im 9. Jahrhundert begannen die Gesellschaften im Westen, sich von diesem Vorbild zu emanzipieren, erklärt Ralph-Johannes Lilie.
"Byzanz hat eben einen sehr hohen Stellenwert auch für die abendländische Kultur – und für die Leute damals, die haben das tatsächlich so gesehen, großenteils mit Neid, und sie haben sich’s schließlich dann ja auch angeeignet."
Drastisches Zeugnis der Emanzipation war schließlich die Eroberung Konstantinopels, der christlichen Metropole des Ostens, durch christliche Kreuzfahrer. Von der gründlichen Plünderung im Jahr 1204 hat sich das oströmische Reich nicht mehr erholt – auch wenn es erst 250 Jahre später endgültig unterging: Am 29. Mai 1453 wurde die verarmte Stadt von den übermächtigen Heerscharen der Osmanen eingenommen.