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hören Sie die Originalfassung des Interviews in englischer Sprache.
Jürgen Zurheide: Zum ersten Mal seit 17 Jahren hat es eine Fernsehdebatte zur Wahl gegeben. Ist das ein erstes vorsichtiges Zeichen für Demokratie in der Türkei?
Can Dündar: Ich hoffe es, ja. Der Opposition ist es gelungen, Druck auf die Regierung aufzubauen - und sie musste das akzeptieren. Das hat auch damit zu tun, dass die Umfragen zeigen: Sie könnte Istanbul verlieren. Ich vermute, sie hat versucht, dies zu verändern. Aber jetzt zeigt sich, das hat für sie nicht funktioniert.
Zurheide: Diese Debatte ist stark beachtet worden. Was haben Sie über diese Debatte in Istanbul selbst und als Reaktion darauf gehört?
Dündar: Die Politisierung ist sehr hoch. Die Leute bleiben bei ihren Positionen. Und diese Debatte wird vermutlich auch insofern nicht viel ändern, dass die Leute anders wählen. Da gibt es noch einige wenige unentschiedene Wähler, aber ich bin mir nicht sicher, dass diese Debatte etwas an ihrem Wahlverhalten ändern wird. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass eher im Gegenteil viele Leute für Imamoglu votieren werden, den Kandidaten der Opposition. Die Umfragen zeigen, dass der Abstand zwischen den beiden Kandidaten eher größer zugunsten des Oppositionskandidaten geworden ist.
Zurheide: Das heißt, dieser zweite Wahlgang hat eher aufseiten der Opposition, aufseiten von Imamoglu mobilisiert und nicht bei Yildirim – ist das mehr als Ihre Hoffnung?
Dündar: Das sind die Umfragewerte, die allermeisten Umfragen zeigen, dass Imamoglu sehr gut ankommt. Im Moment liegt Imamoglu mit zwei bis fünf Prozentpunkten vorne.
"Wahl für Erdogan von überragender Bedeutung"
Zurheide: Warum erscheint Imamoglu im Moment so gefährlich für Erdogan?
Dündar: Wie Sie wissen, ist eines besonders wichtig für Erdogan: Erdogan startete seine politische Karriere vor 25 Jahren in Istanbul, und seither hat er nie mehr in Istanbul bei einer Wahl verloren. Denn er hat verstanden: Sollte er Istanbul verlieren, könnte er anschließend auch die Türkei verlieren. Das ist der Grund, warum diese Wahl für ihn von überragender Bedeutung ist. Deshalb hat er die Richter gezwungen, die Wahl neu anzusetzen, denn er weiß, wenn er das verliert, ist das mehr als eine schwere Niederlage in seiner politischen Karriere.
Zurheide: Erdogan ist bei dieser zweiten Wahl nicht oder so gut wie gar nicht aufgetreten. Hat das damit zu tun, dass er die mögliche Niederlage so fürchtet?
Dündar: Ja, das ist richtig, aber in den zurückliegenden zwei, drei Tagen ist er auf die politische Bühne zurückgekommen. Er hat sich eingeschaltet und den oppositionellen Kandidaten hart attackiert. Er hat gesagt, der würde das Spiel verlieren. Er hat sich wieder eingemischt, aber das kam ein wenig zu spät. Und, aus seiner Sicht unglücklicherweise, hat das seiner Partei nicht mehr geholfen.
"Opposition stark genug, um Wahlurnen zu kontrollieren"
Zurheide: Wird diese Wahl frei sein, das ist nach meiner Einschätzung die Kernfrage?
Dündar: Gut, ich glaube, die Opposition ist inzwischen stark genug, alle Wahlurnen zu kontrollieren, und viele sind sehr alarmiert. Natürlich, die Regierung kann immer versuchen, etwas zu manipulieren, aber was wir in den zurückliegenden Tagen von Erdogan gehört haben, deutet eher darauf hin, dass sie versuchen, den künftigen Bürgermeister von Istanbul zu blockieren, wo immer sie können, wenn er denn gewählt wird. Das hat Erdogan gesagt. Er hat gemerkt, dass sie ihn nicht mehr stoppen können und deshalb wird er ihn blockieren.
Zurheide: Auf der anderen Seite bleibt die Türkei eine gespaltene Gesellschaft, was kann man tun, um daran etwas zu ändern?
Dündar: Ich glaube, wir erleben so etwas wie das Ende des Erdogan-Regimes. Es wird nicht ganz leicht sein, er wird alles versuchen, das zu verhindern. Aber nach dem Wandel in Istanbul werden wir einen Wandel in der türkischen Politik sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.