Auch in der Vergangenheit wurden Menschen zur persona non grata erklärt. Neu sei allerdings, dass Boykott-Aktionen heutzutage durch die sozialen Netzwerke geprägt seien, sagt die queere Aktivistin und selbsternannte Polit-Tunte Patsy l’Amour laLove. Menschen könnten dadurch massenhaft Gehör finden. Positiv an der Sache findet sie, dass Menschen mit spezifischen Diskriminierungserfahrungen sich dadurch eine Lobby schaffen können. Allerdings würde auch "jede noch so schlecht durchdachte Kritik oder Forderung danach, dass jemand nicht mehr auftreten darf, etwas nicht mehr gesagt werden darf, Gehör finden, inklusive der Feindseligkeit, die dadurch auch mehr Gehör findet."
Sehnsucht nach einer einfachen Welt
Die Sehnsucht nach einer einfachen Welt motiviere Menschen zu solchen Aktionen, sagte l’Amour laLove. Ebenfalls der Wunsch, andere zu bestrafen. Darüber hinaus spiele auch eine autoritäre Sehnsucht, selbst reguliert zu werden, eine Rolle: "Selbst von anderen gesagt zu bekommen, wie geht es, sich richtig zu verhalten. Wie geht es, sich falsch zu verhalten. Was darf man tun und was nicht."
Eine Gefährdung der Meinungsfreiheit durch die sogenannte "Cancel Culture", wie sie oft von rechten Agitatoren beschworen wird, sieht Patsy l’Amour laLove nicht. Stattdessen sollte vielmehr zur Debatte stehen, "ob es wirklich immer notwendig ist, nur weil man alles sagen darf, auch alles sagen zu müssen. Gibt es nicht auch einen Standard, den man selbst setzen möchte, was gesagt werden sollte und was tatsächlich als rechts, faschistisch und menschenfeindlich bezeichnet werden kann?"
Es sei notwendig, dass Menschen über Diskriminierungserfahrungen sprechen und Freiheit und Emanzipation einfordern, so l’Amour laLove. "Das ist für mich etwas anderes als immer wieder auf der Kränkung und verletzten Position zu verharren. Die bleibt am Ende etwas Passives und eine Position, in der man immer nur um Anerkennung von der anderen Seite ringt und nicht den Schritt in eine Richtung geht, den Schritt in Richtung Befreiung, auch aus diesem verletzten und diskriminierten Status." Allerdings gibt es für sie keinen braven Aktivismus: "Wenn es in der Gesellschaft einen Skandal gibt, Verhältnisse, die skandalös sind, dann müssen die auch skandalisiert werden. Das funktioniert nicht, ohne unverschämt zu sein."
Fehlende Ambiguitätstoleranz
Ein Problem des "Cancel-Culture"-Aktivismus sei es, "Gefälligkeitsstichwörter einzustreuen", um gut da zu stehen und sich als aufgeklärtes - "woke" - Individuum zu inszenieren: Oftmals geht es "nicht darum, Rassismus oder Homosexuellenfeindlichkeit zu kritisieren, es geht vorrangig darum, gleich einer Werbestrategie, nicht als rassistisch oder nicht als homophob dazustehen", so l’Amour laLove. Auch Barack Obama stellte in einer Talkshow diese aktivistische Selbstinszenierung in Frage und plädierte für einen Umgang mit Doppeldeutigkeiten, da kritisches Denken durch Irritationen in Bewegung bleibt. Patsy l’Amour laLove diagnostiziert in heutigen Auseinandersetzungen ebenfalls eine fehlende Ambiguitätstoleranz. Dabei bereichert diese Form von Toleranz den Disput: Man könne den Anderen anders sein lassen, "was nicht bedeutet, dass man alles, was der andere sagt und macht, akzeptieren oder gut finden muss."
Die selbsternannte Polittunte und queere Aktivistin Patsy l’Amour laLove ist Geschlechterforscherin. Sie promovierte über die Schwulenbewegung der 1970er Jahre in Westdeutschland und publizierte diverse Bücher, unter anderem den Essay-Band "Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten." Sie lebt in Berlin.