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Cantaor Rafael Jiménez
"Lieber mit leerem Magen der Kunst treu bleiben"

Sein Leben als Flamenco-Cantaor zu bestreiten, ist in Madrid eine beschwerliche Ochsentour. Davon kann der erfolgreiche Rafael Jiménez ein Lied singen. Auftrittsmöglichkeiten gibt es zwar - aber von den 30 bis 60 Euro Eintritt für ein Flamenco-Lokal sehen die Musiker oft nur ein Handgeld.

Von Hans-Günter Kellner |
Cantaor Rafael Jiménez, kurz "El Falo"
Cantaor Rafael Jiménez, kurz "El Falo", bleibt lieber arm, als Kompromisse in seiner Kunst zu machen (Deutschlandradio / Hans-Günter Kellner)
Mit leichten Schritten, in schwarzem Hemd und schwarzer Hose kommt Rafael Jiménez die Treppen der Flamenco-Schule Amor de Dios herunter und tritt auf die Straße. Er unterrichtet hier Gesang, manche Schüler kommen aus Deutschland, China oder Japan. Doch das ändert sich gerade:
"Seit einiger Zeit feiert der Flamenco in Spanien eine Wiedergeburt, und die meisten, die bei mir Unterricht nehmen, sind wieder Spanier. Es sind ganz unterschiedliche Leute: Ärzte, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Maler oder Kellner. Sie sind auch ideologisch ganz unterschiedlich geprägt. Der Flamenco bringt uns zusammen. Das empfinde ich als großes Geschenk."
"In meiner Armut bin ich der Boss"
Der 56-Jährige, den alle nur bei seinem Spitznamen "El Falo" nennen, schlägt einen Spaziergang durch die Madrider Innenstadt vor, vorbei an den Tablaos, in denen er auftritt, den kleinen Flamenco-Lokalen. Manche lächeln über seine Vorliebe für solche Auftrittsorte, doch er zitiert ein unter den Künstlern bekanntes Sprichwort:
"In meiner Armut bin ich der Boss." Das soll heißen: Lieber mit einem leeren Magen der Kunst treu bleiben. Und tatsächlich: El Falo hat Konzerte gegeben, CDs aufgenommen, als Cantaor in New York gelebt, und jeder in der Szene betont, er sei ein außergewöhnlicher Künstler, der große Säle füllen könnte. Doch er mag die Tablaos und seine Arbeit als Lehrer.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Flamenco - Identität und Gefühl".
Auf der Rückseite einer barocken Kirche setzt sich El Falo in ein Straßencafé. Er blickt über den Platz. Kinder kommen lärmend aus einem Haus. Er selbst sei in Asturien in Nordspanien in einem Zelt zur Welt gekommen, erzählt er von seiner Herkunft, als Kind einer Gitano-Familie, einer spanischen Roma-Familie:
"Ich bin in absoluter Armut aufgewachsen, vollkommen am Rand der Gesellschaft. Wir hatten keine Wohnung, keine Gesundheitsfürsorge, keine Schule. Aber wir hatten unsere Kultur, und ich war glücklich. Für uns Gitanos haben Familie und Kultur eine große Bedeutung. Mir wurde immer das Gefühl gegeben, wichtig zu sein. Auf der einen Seite war die Armut, auf der anderen Seite die Werte. Das hat sich ein wenig ausgeglichen."
"Hinter Flamenco steckte nie eine politische Forderung"
El Falo bestellt sich einen Milchkaffee. Trotz der sozialen Herkunft vieler Flamenco-Künstler und der Texte, die nicht nur von Liebe, sondern oft auch von sozialer Ungerechtigkeit handeln, will er den Flamenco nicht als politische Kunst verstehen.
"Hinter dem Flamenco steckte nie eine politische Forderung. Zumindest nicht im Flamenco der Gitanos . In einem Text heißt es zum Beispiel: 'Ich war ein Stein und verlor mein Zentrum. Und sie warfen mich ins Meer.' Der Autor erzählt, was ihm persönlich widerfährt, aus der Ich-Perspektive. Es ist nicht die Geschichte eines anderen. Das passiert in den Liedern."
Mit finanzieller Unterstützung des spanischen Dichters Félix Grande kam El Falo früh nach Madrid und studierte Flamenco. Eher beiläufig erwähnt er, dass er eine klassische Gesangsausbildung hat. Aber für den Flamenco sei kein Hochschulstudium notwendig. Es reiche, ihn zu fühlen, sagt er lächelnd und bezahlt.
Nachspüren, wie der Flamenco früher klang
Auf dem Weg durch die Altstadt stürmt eine junge Frau auf El Falo zu. Sie kommt aus einem Tablao. Die beiden begrüßen sich freudig. Anabel Moreno, eine Flamenco-Tänzerin, eine Bailaora, stellt er sie vor.
"Wir haben demnächst 14 Auftritte zusammen. Ich bin darüber sehr glücklich. Sie ist eine der besten Bailaoras, die wir haben. Sie tanzt zusammen mit Jesús Fernández. Das Niveau ist wirklich hoch."
Die Auftritte in den kleinen Lokalen seien ein gutes Training für den Gesang, betont El Falo. Und seine Arbeit solle stets der Entwicklung des Flamenco dienen. Wie etwa seine Bearbeitung einer Malagueña, einer der vielen Varianten, von Enrique El Mellizo aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
"Ihn inspirierten die gregorianischen Chöre, die er in Cádiz hörte. Die die meisten Malagueñas kamen ja eher aus der Volksmusik. Ich wollte wissen, wie diese Melodie damals geklungen haben könnte. Mit diesem Anspruch gingen wir ins Studio. Eine meiner bewegendsten Arbeiten. Enrique El Mellizo verdanken wir heute noch sehr viel."