Jürgen Zurheide: Über Venezuela haben wir in den letzten Jahren im Verhältnis mit politischen Auseinandersetzungen mit Menschenrechtsverletzungen immer wieder wiederberichtet. Aber auch die humanitäre Lage ist außerordentlich schwierig. Diese wollen wir in den Blick nehmen mit dem Caritas-Nothilfe-Koordinator Gernot Ritthaler. Sie waren gerade in Venezuela, was haben Sie da erlebt, beobachtet?
Ritthaler: Ich habe ein Land erlebt, das total zerrissen ist. Auf der einen Seite ein wirklich großer Reichtum, nicht nur ein potenzieller, weil es gibt da Öl, es gibt eine gut entwickelte potenziale Landwirtschaft, die Läden sind voll in Caracas, aber es gibt einen Riesenanteil von extrem armen Menschen, wo es wirklich Mangelernährung gibt, die zehn Dollar Mindestlohn haben, und wenn ein Liter Milch zwei Dollar kostet, dann können Sie sich vorstellen, wie diese Leute irgendwie rumkommen können. Da ist einerseits eine große Verzweiflung. Irgendwie schaffen es die Leute, man weiß nicht wie, und auf der anderen Seite auch ein gewisser Fatalismus, und das ist die Situation, die ich angetroffen habe. Da versuchen wir zu helfen als Caritas international.
Zurheide: Da kommen wir gleich drauf, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt, und was Sie machen. Ich will noch ein Stück bei der Lage bleiben. Also Ernährung haben Sie angesprochen, das ist wirklich ein reales Problem, vor allen Dingen auch für Kinder.
Ritthaler: Genau. Es ist einfach so, dass die Menschen oder diejenigen, die wirklich arm sind, die keinen Zugang zu Jobs haben, die abgeschnitten sind von Dingen, die man verkaufen kann, wo man Geld mit machen kann, die keine Dollars haben, was ja die zweite Währung ist. Die können sich einfach keine Nahrungsmittel kaufen, keine proteinhaltigen Nahrungsmittel. Es ist einfach sehr teuer, Milch, alles, was Proteine hat, Fleisch. Da gibt es einfach wirklich extreme Fälle von Unterernährung.
Zehn Dollar Mindestlohn reichen nicht aus zum Überleben
Zurheide: Sie haben gerade gesagt, zehn US-Dollar monatlich ist der Mindestlohn, und eine Tüte Milch kostet zwei Dollar. Das heißt, wer Dollar hat, kann sich alles leisten, und der Rest fällt hinten rüber. Wie viele Menschen haben Dollar?
Ritthaler: So etwa zehn, fünfzehn Prozent, denen geht es sehr gut, die haben auch wirklich ein Einkommen in Dollar. Dann gibt es – schwer zu sagen –, es gibt da unterschiedliche Statistiken von der Regierung und von anderen Organisationen, aber so grob die Hälfte der Bevölkerung hat irgendwie immer mal wieder Zugang zu Dollar, weil sie einfach Dinge eintauschen, weil sie auf dem Schwarz- oder Parallelmarkt irgendwas verbartern. Wer dann Dollars hat, der findet Zugang zu Dingen, aber die Waren sind extrem teuer. Das ist ein Preisniveau wie Deutschland, und wer dann vielleicht 50 Dollar hat, der kommt trotzdem nicht sehr weit damit. Das muss man auch ganz realistisch sehen. Dann gibt es die Menschen, die auch davon komplett abgeschnitten sind.
Zurheide: Medizinische Versorgung ist ein anderes Beispiel oder ein anderes Stichwort. Die Infrastruktur, sagen Sie, ist weitgehend zusammengebrochen. Was haben Sie da erlebt?
Ritthaler: Es ist einfach so, dass in den Krankenhäusern es sehr schwierig ist, jetzt überhaupt eine Versorgung zu bekommen. Ich habe eine Krankenschwester getroffen, die hat es sich nicht leisten können, ihren Job weiterzumachen, weil sie wurde auch nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt, diese zehn Dollar. Sie hat ein Kind, das sie ernähren muss, und das reicht einfach nicht zum Leben. Sie musste ihren Job kündigen, um überleben zu können, um in Schlangen stehen zu können, um Nahrungsmittel zu organisieren. Ihr Kind war auch unterernährt. Ärzten geht es genauso. Es können keine Medikamente importiert werden, die kommen ja größtenteils aus dem Ausland, weil die Regierung einfach keine Devisen hat, sodass die Krankenhäuser leer stehen und immer mehr runtergewirtschaftet werden, abgesehen von einigen wenigen Orten, die wirklich noch das haben, was man braucht, aber die sind sehr, sehr teuer und nur einer ganz kleinen exklusiven Schicht vorbehalten.
"Wir unterstützen Familien mit unterernährten Kindern"
Zurheide: Was können Sie als Caritas machen gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen?
Ritthaler: Wir als Caritas International arbeiten mit der Caritas Venezuela zusammen, und zwar unterstützen wir Familien mit unterernährten Kindern, um Zugang zu Nahrungsmitteln zu haben. Wir arbeiten mit einem elektronischen Gutscheinsystem, wo wir eng zusammenarbeiten mit ausgewählten Händlern, die die benötigten Waren besorgen können, und dort können diese Familien einfach einkaufen, was sie brauchen. Auf diesen Gutscheinen sind etwa ein Wert von 80 Dollar drauf, den können sie pro Monat ausgeben. Dann werden die Karten wieder ersetzt, wieder vollgemacht, und haben dann über fünf Monate die Gelegenheit, einfach mal ihre Familien zu ernähren, wieder neu Kraft zu schöpfen, nicht immer an das Überleben denken zu müssen, und das macht einen Riesenunterschied für die Menschen.
Zurheide: Jetzt bei aller Wertschätzung für die Arbeit, das ist aber der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, oder wie müssen wir das beurteilen?
Ritthaler: Natürlich, wir können nicht die grundsätzliche Situation ändern. Das ist das, was die Politik machen muss. Wir können aber konkret 8.000 Familien helfen. Wenn Sie mit denen reden, und die sagen Ihnen, ich habe vorher nicht gewusst, wie ich meine Kinder ernähren soll, und wirklich, da sind sehr viele Tränen geflossen, als ich mit Menschen gesprochen habe. Die waren sehr bewegt einfach, die Menschen. Diese fünf Monate helfen mir, etwas neu Kraft zu schöpfen, dran zu glauben, dass es irgendwie weitergehen könnte, dass da Menschen sind, die auch helfen, dass wir nicht komplett alleine sind. Dann geht es weiter, sie müssen weiterkämpfen, und gleichzeitig ist da eine Riesensolidarität. Leute haben mir gesagt, ich weiß, ich würde es gerne weiter haben, diese fünf Monate, aber ich weiß auch, dass es noch so viele andere Leute gibt, die das auch brauchen. Meine Nachbarn sind in derselben Situation, und die sollen das auch haben. Das hat mich auch sehr berührt.
Zusammenarbeit mit katholischen Gemeinden vor Ort
Zurheide: Immerhin. Die Regierung, lässt die Sie arbeiten, oder wirft die Ihnen Knüppel zwischen die Beine?
Ritthaler: Nein, von Seiten der Regierung haben wir keine Probleme. Das hat auch damit zu tun, dass wir mit der lokalen Caritas zusammenarbeiten, die da Teil der katholischen Kirche ist, und die katholische Kirche ist einfach eine sehr gut angesehen Institution im Land, die aber auch den Respekt genießt. Die Regierung sagt, die katholische Kirche und auch die Caritas legen auch die Finger in die Wunde und sagen genau, wo Menschenrechtsverletzungen sind, wo die Dinge nicht gut laufen, aber sie sind einfach eine Institution, die Respekt hat im Land, an der keiner vorbei kann und die auch wirklich ein Netzwerk im ganzen Land haben. Es sind Dorfgemeinden und Pfarrkomitees, die unser Programm tragen. Insofern funktioniert das, weil die sind einfach Teil der lokalen Zivilgesellschaft.
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