Christoph Heinemann: Wenigstens einer, Wladimir Putin, freut sich über die Aufhebung der Olympiasperren gegen russische Sportler durch das Internationale Sportschiedsgericht. "Das bestätigt unsere Position, dass die überwältigende Mehrheit unserer Athleten sauber is", sagte der russische Präsident.
Das Sportgericht CAS hatte gestern die vom Internationalen Olympischen Komitee verhängten lebenslangen Olympiasperren gegen 28 russische Wintersportler aufgehoben. Viele erhielten die Medaillen von den Spielen in Sotschi 2014 wieder zuerkannt. Die waren ihnen im Zuge des Skandals um systematisches Doping in Russland weggenommen worden. Das Gericht befand die vom IOC vorgelegten Beweise als nicht stichhaltig.
Der Zufall will es, dass übermorgen, am Sonntag um 23:30 Uhr, Grigori Rodschenkow, der frühere oberste Dopingkontrolleur Russlands, sagt: "Russland ist ein Dopingland. Nichts hat sich geändert." Und: "Putin weiß alles!" – Sonntag, Sportgespräch im Deutschlandfunk, 23:30 Uhr. Steht übrigens bereits online.
Maximilian Hartung ist nicht nur ein sehr erfolgreicher Säbelfechter – allein viermal deutscher Meister -, sondern seit einem Jahr auch Vorsitzender der Athletenkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes, jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Maximilian Hartung: Schönen guten Morgen!
Heinemann: Herr Hartung, waren Sie gestern überrascht?
Hartung: Ich bin aus allen Wolken gefallen. Diese Woche war echt wieder eine Kette von Hiobsbotschaften.
Heinemann: Was ist daran besonders schlimm?
Hartung: Besonders schlimm ist, dass man als Sportler überhaupt nicht nachvollziehen kann, wie diese Entscheidungen zustande kommen. Angefangen hat der Skandal 2014. Das ist ja inzwischen schon vier Jahre her. Und wir haben immer gedrängt nach Rio, dass es schnell geht, und dann hat das IOC mit zwei Kommissionen jetzt fast zwei Jahre gebraucht. Irgendwie ist es zustande gekommen, dass jetzt wieder eine Woche vor den Olympischen Spielen sich das Ganze irgendwie kumuliert und totale Verwirrung und Chaos herrschen.
"Es ist eben schwierig, einzelne Sportler zu überführen"
Heinemann: Sehen Sie das Problem beim Sportgericht CAS oder beim IOC, beim Internationalen Olympischen Komitee?
Hartung: Das ist für mich natürlich schwer zu sagen. Aber ich denke, das Problem liegt vor allem darin, dass man von Anfang an auf eine Diskussion sich verzettelt hat, auch von Seiten des IOC, was die Einzelfallgerechtigkeit angeht, was die Betrachtung einzelner Fälle angeht. Wenn systematisch betrogen wird und wenn Dopingproben verschwinden, dann ist es eben super schwierig, einzelne Sportler zu überführen, und genau das hat jetzt auch der CAS ausgestellt, nämlich dass es keine Beweise gibt, mit denen man jetzt die Sportler überführen kann. Und wenn in Sotschi noch Proben durch die Wand durchgesteckt wurden, dann stelle ich mir das auch sehr schwierig vor.
Heinemann: Hätte das IOC das mit einer anderen Taktik verhindern können?
Hartung: Diese Situation jetzt vor den Olympischen Winterspielen hätte man verhindern können. Man hätte vor Rio anders entscheiden können und auch im Nachgang von Rio härter vor allem mit der russischen Sportorganisation ins Gericht gehen können und nicht mit den Einzelfällen. Dann wäre jetzt vielleicht so kurz vor den Olympischen Spielen diese Situation nicht zustande gekommen.
Für die Medaillen-Nachrücker "emotional kaum vorstellbar"
Heinemann: Herr Hartung, könnten Sie sich vorstellen, dass das IOC bewusst schwache Beweismittel vorgelegt hat? Schließlich sind Thomas Bach und Wladimir Putin befreundet.
Hartung: Die Verschwörungstheorie würde mir jetzt ein Stück zu weit gehen. Ich glaube eher, dass da von vornherein der falsche Kurs eingeschlagen wurde und dass auch dieser McLaren-Report, auf den sich eigentlich ja alles stützt, gar nicht darauf ausgelegt war, einzelne Sportler zu überführen. Wir bekamen alle zwei Wochen irgendwie eine Meldung, jetzt wird wieder ein russischer Athlet gesperrt, und was ich daran auch besonders schlimm finde, ist: Die, die jetzt wieder freigesprochen wurden, da gibt es ja jeweils einen Nachrücker. Jemand, der eine Medaille zugeschickt bekommen hat, der hat vielleicht zuhause eine Medaillenzeremonie für sich abgehalten und muss die jetzt wieder abgeben, zurück an den russischen Athleten. Ich glaube, das ist emotional kaum vorstellbar, wenn man jetzt auf einmal eine Olympiamedaille dann Jahre später bekommt und wieder abgibt.
Heinemann: Herr Hartung, im IOC arbeiten ja wahrscheinlich auch Juristen. Mussten die nicht wissen, dass diese Beweismittel, die vorgelegt wurden, in dem Augenblick, in dem man es individuell versucht hat, also sagt, 28 Leute stehen da, dass diese Beweismittel, die vorgelegt werden konnten, weil das russische System auch mit Vertuschen funktionierte und Vernichten von Dopingproben, dass das einfach vor Gericht nicht klappen konnte?
Hartung: Das kann ich jetzt nicht abschließend bewerten, weil das CAS die Urteilsbegründung noch nicht veröffentlicht hat. Deswegen weiß ich nicht genau, wie jetzt diese Zahl zustande gekommen ist. Elf bleiben ja verurteilt. Deswegen kann ich das jetzt überhaupt nicht einordnen. Allerdings wirkt es schwach, wenn Kommissionen anderthalb Jahre arbeiten und dann eine Woche vorher das Ganze vor dem Sportgerichtshof wieder gekippt wird. Es ist für mich jetzt nicht erklärbar.
"Das macht auch nicht Mut für die anstehenden Olympischen Spiele"
Heinemann: Die Russen sind jetzt wieder Medaillensieger von Sotschi. Lohnt sich Doping doch?
Hartung: Der Medaillenspiegel ist für mich persönlich gar nicht entscheidend. Mir geht es eher um die einzelnen Athleten, die jetzt wissen, ja, ich muss einfach davon ausgehen, dass ich da jetzt gegen Betrüger angetreten bin in Sotschi, und die gucken jetzt alle mit so einem Blick auf ihre Sportkarriere zurück und auf ihre Platzierung. Das ist einfach wahnsinnig schade und das macht mich traurig und das macht auch nicht Mut für die jetzt anstehenden Olympischen Spiele.
Heinemann: Ist aber ein Phänomen, dass es fast überall gibt: Radsport, Fußball, Leichtathletik, Wintersport, Schwimmen, Olympia, überall. Es wird geschluckt, es wird geschmiert. Hat Leistungssport mit den gegenwärtigen Verbänden überhaupt noch einen Sinn?
Hartung: Leistungssport macht natürlich trotzdem wahnsinnig Spaß. Sonst wäre ich selbst ja auch nicht mehr aktiv. Es ist nur die Frage, ob die Organisation jetzt gerade der entscheidenden Frage des Kontrollsystems, wie sie jetzt im Augenblick Bestand hat, standhält. Ich verliere nach und nach das Vertrauen und denke, da muss ein radikaler Bruch in der Organisation her, um das wiederherstellen zu können.
Heinemann: Können Sie den Gedanken an verbotene Substanzen ausblenden, wenn Sie in den kommenden Wochen Berichte über die Olympischen Winterspiele hören, lesen, sehen?
Hartung: Das schwingt natürlich immer mit. Gerade wenn man nicht vertraut, dass das angemessen kontrolliert werden kann. Jetzt kam ja noch die Schwierigkeit dazu, dass die Flaschen, in denen die Urinproben aufbewahrt werden, manipulierbar sind. Ich denke, dieser schwarze Schatten, der ist immer mit dabei – leider.
Heinemann: … sagt Maximilian Hartung, der Vorsitzende der Athletenkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Hartung: Vielen Dank. – Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.