Hinten rechts gibt es in der kleinen Bühnenlandschaft von Aleksandar Denić ein Objekt, das während sechs langer Theaterstunden immer angestrahlt wird: Galileo Galileis Welt wird von einem Kreuz überragt; es bildet den höchsten Punkt im Dekor, und darüber gibt es keinen Sternenhimmel, keinen anderen Fixpunkt im Universum. Und unterhalb dieses Kreuzes steht ein riesiges Holzteleskop mit dem Venezianischen Löwen als Verzierung. Die Neigung des Fernrohrs wird mit großen Handrädern eingestellt - nicht weit ein Streckbett, dessen Bedienhebel denen des Teleskops ziemlich ähneln. Daneben ein kleines Holzhaus mit gotischen Fenstern, ein Bretterverschlag, ein Festzelt, ein Glockenturm. Ganz unten und auf der Vorderbühne frohlockt derweil der 86–jährige Jürgen Holtz, der seiner Haushälterin, der Frau Sarti, und ihrem wissbegierigen Sohn Andrea eine freudige Zukunft verspricht: "Es ist eine neue Zeit angebrochen: Ein großes Zeitalter, in dem zu leben eine Lust ist." - "So, na ja. Hoffentlich können wir auch den Milchmann bezahlen in dieser neuen Zeit."
"Ein wirkliches Theaterstück stört die Ruhe der Sinne"
Brechts Galilei ist natürlich auf Geld angewiesen und hält sich mit Privatunterricht über Wasser. In den ersten zwei Stunden seiner langen Aufführung hält sich Frank Castorf recht nah am Brechtschen Original und inszeniert milde komische Szenen des häuslichen Lebens: Seinem jungen Schüler Andrea Sarti erklärt der weise Protagonist seine Weltwahrnehmung. Und während er die Relativität dessen erklärt, was wir traditionell als das Oben und das Unten verstehen, räkelt sich die spärlich bekleidete Jeanne Balibar kopfüber auf seinem Schoß. Sie wird später als schrille, skurrile Fantasiefigur zu seinem Alter-Ego, einem unbedingt und fast ausschließlich der Wissenschaft verpflichteten Denker, der für seine Wahrheit auch Folter auf sich nimmt. Zur relativen Heiterkeit des Anfangs gehören an Hanns Eisler erinnernde Chorparodien.
In der Eingangsszene hatte der Ausnahmeschauspieler Jürgen Holtz sein Gewand abgestreift und völlig nackt auf der Bühne gestanden, wie ein früher Hinweis auf eine bittere Erkenntnis: Es gibt unterhalb und hinter allen Fassaden der Vernunft noch andere Wirklichkeiten. Der Mensch ist nackt und hat finstere Gegenspieler: nicht nur die Kirche, die mit ihren Folterinstrumenten den Körper für die Kraft des Geistes bestraft. Es gibt auch die Krankheit, die ihrerseits dem Geist Grenzen zuweist. Sie zersetzt den Körper und schließlich auch ganze Gesellschaften. Nicht umsonst hat Castorf dem an Brecht angelehnten Stücktitel die Zeile "Das Theater und die Pest" beigestellt. Das ist ein Aufsatz des französischen Theatermagiers Antonin Artaud, der in der Pest und dem Theater eine gemeinsame Energie ausmachte: die Auflösung der Zivilisation, gesellschaftlicher Zusammenbruch, organische Unordnung - bildlich der Ausbruch der eiternden Pestbeule, Ausdruck des verborgenen, wahren Charakters. "Ein wirkliches Theaterstück stört die Ruhe der Sinne auf, setzt das komprimierte Unbewusste frei und treibt zu einer Art virtuellen Revolte."
Sinn, Fluch und Segen der Wissenschaft
Schwarze Masken, Ku-Klux-Klan-Hauben, blutende Wunden, die sich Stefanie Reinsperger und Sina Martens schlagen, während sie übereinander herfallen: All das beherrscht nun die Bühne und rückt Galileo Galileis Leben in den Hintergrund. Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann sorgen mit Berliner Schnauze zumindest zeitweise für komödiantische Momente. Andreas Döhler und Jeanne Balibar verstricken sich in lange Dialoge über Sinn, Fluch und Segen der Wissenschaft: Was helfen Galileo Galileis Erkenntnisse den Olivenbauern in der Campania, wird gefragt. Und nein: Eine überzeugende Antwort wird es nicht geben. Aber jetzt sind wir schon längst im unendlichen Castorfland mit seinen Gewaltmärschen durch nicht fertig geprobte Diskurstäler und noch nicht erklommene Höhen der Expression. Auch wenn die finstere Drehbühne wie ein trauriger Stern in ewiger Nacht schön vor sich hin kreiselt, ein kaltes Lichtbündel durch das Riesenfernrohr fällt, Balibars Schreckensgesicht auf der obligaten Videoleinwand aufflammt und ein grollender Soundtrack aus den Lautsprechern dröhnt: Eine Welt will sich hier nicht auftun.
So stellt sich angesichts des barocken Theatertorsos die Frage, ob dieser Galilei einmal das künstlerische Niveau von "Les Misérables" erreichen wird, das der Meister am selben Theater vor gut einem Jahr inszeniert hat? Vielleicht nicht, denn dieser Castorf-Inszenierung fehlt es an produktiver Reibung am deutschen Klassiker, an Brecht, dem Ehrenpatron des Berliner Ensembles.