Musik: Sephardisches Wiegenlied - Nani, Nani
Ein altes Wiegenlied, im Flüsterton. Flucht, Verlust, Sehnsucht klingen darin. Es erinnert an vergessene Kulturen und Menschen.
Das Vergessene ist in unserer europäischen Musiktradition oft das, was die Geschichtsschreibung nicht zuordnen kann oder möchte; was nicht "westlich" klingt. Man könnte grob sagen, sie unterteilt in: dort Vierteltöne, hier Zwölftonskalen. Gibt es dieses Nebeneinander in der Musik überhaupt? Die Verbindungen zwischen östlicher und westlicher Kultur, sie beschäftigen Musikerinnen und Musiker immer wieder. So auch zwei kürzlich erschienene Alben: "El Nour" von Sopranistin Fatma Said und "Nostalgia. The Sea of Memories" von Sängerin Nihan Devecioglu und Gambistin Friederike Heumann.
Musik: Ravel - Shéhérazade, II. La flute enchantée
Mod. 3: "El Nour", zu Deutsch "das Licht", heißt die Debüt-CD von Fatma Said. Und ist ein schillerndes Porträt. Tänzerisch bewegt sich das Repertoire zwischen romantischen Stücken aus Frankreich - wie hier mit Ravels Shéhérazade -, Spanien und dem Orient. Den versteht sie hier im weitesten Sinne: von Asien bis Afrika. Fatma Said hangelt sich entlang eigener Vorlieben und ihrer Biografie. Sie ist in Kairo aufgewachsen und hat an der Hanns-Eisler Musikhochschule in Berlin studiert. Und gerade erarbeitet sie sich einen großen Namen.
Musik: Sayed Darwish - El Helwa Di
El Helwa Di, eine orientalische Volksweise. In der zweiten Hälfte ihrer CD interpretiert Fatma Said einige solcher Lieder neu: gemeinsam mit Jazzmusikerinnen und Jazzmusikern und dem Vision String Quartett. "El Nour" ist beim Label Warner Classics erschienen. Das Album soll persönlich sein und niedrigschwellig. Spannend sind vor allem einige Weltersteinspielungen, darunter "Ana Bent El Sultan" von Gamal Abdel-Rahim - eine der raren Einspielungen aus dem ägyptischen Kunstliedrepertoire.
Musik: Gamal Abdel-Rahim - Ana Bent El Sultan
Said legt ein wenig Rauch in ihre Stimme und führt sie zugleich sehr klar. Ohne Mühe changiert sie Ausdruck und Stil, diese Wendigkeit ist ohne Zweifel eine ihrer großen Stärken. Ost und West sirren dabei wie eine Fata Morgana am Horizont - sie bleiben irgendwie ungreifbar. Die Brücke, die Fatma Said bauen möchte, sie spielt sich nicht innermusikalisch ab. Es bleibt vielmehr bei der reinen Zusammenstellung der verschiedenen Stücke auf der CD.
Musik: Francesco Cavalli - Lamento d'Apollo
Das Konzeptalbum "Nostalgia" dagegen sucht und knüpft die Verbindungen in der Musik selbst. Es ist erschienen beim kleinen Label Accent. Und der Aufwand, der dahintersteckt, ist unglaublich. Nihan Devecioglu ist Sopranistin, Performerin und Songwriterin. Sie kommt aus Istanbul und hat am Mozarteum in Salzburg studiert. Ihre Projekte beschäftigen sich mit den Beziehungen zwischen Kulturen und Menschen. Für "Nostalgia" arbeitet sie nun mit einer Expertin für Alte Musik zusammen: Friederike Heumann, die Viola da Gamba spielt.
Musik: Luigi Rossi - Passacaglia
Jede Musik auf der CD von Nihan Devecioglu ist wie eine Flaschenpost. Das Meer hat sie hin und her gespült, Menschen haben Erinnerungen in die Flaschen gelegt. Devecioglu und Heumann schauen ganz sorgsam, was sich da versammelt hat - und ordnen es neu. Etwa indem sie Stücke miteinander verweben, zum Beispiel von Claudio Monteverdi und Alessandro Grandi. Oder ihnen Improvisationen voranstellen.
Musik: Francesco Cavalli - Lamento d'Apollo
"Nostalgie", das ist für sie genau dieses Neuordnen von Erinnerungen und Erfahrungen. In Klagegedichten, Romanzen und Balladen hallen Kulturen wider, die sich sowohl östlichen als auch westlichen Strömungen zuordnen lassen. Die Musiktradition des Mittelmeerraums lebt von dieser Ambiguität. Und man hört: Sie hatte in der Renaissance und Barockzeit einen großen Einfluss auf die Kunstmusik, die wir heute als "westlich" bezeichnen. Auf der CD "Nostalgia" fügt sich alles wie von alleine. Die Musiken zeichnen Kultur und Identität als fluide Gebilde, die wie Flüssigkeiten ineinander übergehen.
Musik: Anonymus (Italien, 17. Jahrhundert) - Passacalli della vita
"El Nour" und "Nostalgia" - die Perspektiven der beiden Alben könnten kaum unterschiedlicher sein. Fatma Said sucht beim Big-Label Warner ihren eigenen Weg, mit sehr viel Euphorie und so produziert, dass ihre Stimme im Fokus steht. Ost und West klingen in romantischen Exotismen, im Instrumentarium nebeneinander. "Nostalgia" dagegen macht jede Trennung obsolet, unterschiedliche Kulturen sind der Musik eingeschrieben. Das Spiel ist historisch informiert und formt als großes Neues politische Statements für unsere heutige Zeit. Die Ambitionen der beiden Alben sind vollkommen unterschiedlich. Überragende Musikerinnen hört man auf beiden.