Christoph Heinemann: Am Telefon ist Heribert Hirte, CDU, der stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsrechtsausschusses, Wahlkreis Köln 2. Guten Morgen!
Heribert Hirte: Einen schönen guten Morgen, Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Hirte, hat Joachim Stamp getrickst?
Hirte: Das wissen wir natürlich nicht ganz genau. Wir haben zwei Darstellungen, einmal die Einschätzung des Gerichts, des Oberverwaltungsgerichts, das sagt, es sei sozusagen über den Tisch gezogen worden, und andererseits Stamp, der, so würde ich es formulieren, versucht hat, geschickt die zeitliche Abfolge der Gerichtsentscheidungen auszunutzen und vielleicht auch eine Lücke auszunutzen, die in dem bisherigen Verfahren sich ergeben hatte. Dass man nämlich auf die letztlich mündliche Zusage der Verwaltung vertraut, nichts zu machen, was der Gerichtsentscheidung, der möglichen späteren Gerichtsentscheidung zuwider laufen könnte.
"Das 14. Verfahren in Sachen Sami A."
Heinemann: Stamp hat nach jetziger Darstellung am 12.7. - da hat das Ministerium zumindest dem Gericht mitgeteilt, dass an diesem Tag keine Abschiebung geplant sei, wohlwissend, dass Sami A. am folgenden Tag abgeschoben werden sollte. Kann man das als Täuschung bezeichnen?
Hirte: Das kann man so möglicherweise sehen. Andererseits haben wir eben gehört, dass Herr Stamp es anders sieht. Ich kann das letztlich nicht beurteilen, weil wir auf der anderen Seite natürlich auch einen Punkt berücksichtigen müssen, der in diesem Verfahren eine erhebliche Rolle spielt. Das ist, dass, wenn ich es richtig gezählt habe, das 14. Verfahren in Sachen Sami A. Wir wissen, dass auf der anderen Seite letztlich seitens der Kläger, der Antragsteller auch versucht wird, jede sich bietende rechtliche Möglichkeit auszunutzen.
Heinemann: Darf ein Politiker, noch mal zu diesem Komplex, darf ein Politiker die Anweisung geben, einem Gericht Informationen vorzuenthalten?
Hirte: Das kann ich so allgemein nicht sagen. Im Allgemeinen ist es natürlich so, die Gerichte müssen umgekehrt fragen, sie sind mit dem Untersuchungsgrundsatz ausgestattet, sie fragen bei der Verwaltung nach, was sind die Dinge, die jetzt passieren könnten. Das haben sie normalerweise getan. Und was hier vielleicht, ich sag es noch mal, das Problem ist, ist, dass es ein früheres Vertrauen gab auf Kommunikation mit der Verwaltung, was jetzt gefährdet wurde, was jetzt nicht mehr beachtet wurde, wo man sich dann an die bisherigen Usancen nicht gehalten hat. Und das macht den Fall eigentlich so besonders.
"Sami A. war kein Flüchtling"
Heinemann: Hätte der Minister warten müssen, bis das Gericht entschieden hat?
Hirte: Im Nachhinein würde ich sagen, ja. Denn wir haben eigentlich in der Rechtspolitik einen sehr fruchtbaren Dialog zwischen Justiz und Exekutive. Wir haben es immer wieder so, dass Einzelentscheidungen, Einzelprobleme durch Einzelentscheidungen der Gerichte vorgedacht werden, dass es dann Ergebnisse gibt, die dann von der Politik darauf abgewogen werden, ob sie übertragen werden können auf die generelle Linie, ob sie dann sozusagen zum Gesetz gemacht werden können. Und ich hätte durchaus die Hoffnung gehabt, dass das Gericht in dieser Situation, gerade auch in der aufgebrachten Stimmungslage, zu einer Entscheidung gekommen wäre, wenn es nicht vorher schon mit Tatsachen konfrontiert worden wäre, mit dem Vollzug der Tatsachen konfrontiert worden wäre, die vielleicht genau diese Abwägung auch hergestellt hätte.
Heinemann: Herr Hirte, Joachim Stamp hat ja den Spieß gestern umgedreht und gesagt, das Gericht musste zu jeder Zeit mit der Abschiebung rechnen. Stimmt das so?
Hirte: Ja, das ist das Problem, das ich geschildert habe, dass es diesen sozusagen kollegialen Konsens zwischen Verwaltung und Gericht ja offenbar gab über längere Zeit hinweg oder auch in vergleichbaren Fällen, etwa im Baurecht und bei anderen Fragen des Verwaltungsrechts, dass man sagt, wir machen nichts, bis das Gericht entschieden hat. Formal hätte das Gericht natürlich auch einen Beschluss erlassen können, zu sagen - der hätte dann beantragt werden müssen, aber dazu hätte es auch Anhaltspunkte geben müssen -, schiebt nicht ab, solange wir nicht entschieden haben.
Heinemann: Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat gesagt, hätte es eine klare Aussage gegeben, dass keine Folter droht, dann wäre der Fall rasch erledigt gewesen. Wieso hat die Bundesregierung von Tunesien keine solche Zusicherung eingeholt?
Hirte: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das mag damit zusammenhängen, dass man bei der Frage eines Gefährders die Sache etwas anders einschätzt als bei normalen Abschiebungsfällen, und dass dort möglicherweise auch in Tunesien die Signale anders waren, als sie das in anderen Fällen waren. Und das macht natürlich den Fall auch gerade als Einzelfall so besonders komplex. Denn in normalen Fällen von Abschiebungen von Flüchtlingen – Sami A. war kein Flüchtling, er ist als Student zu uns gekommen –, in normalen Fällen wird man solche Zusagen relativ schnell bekommen, weil die Menschen natürlich noch nicht lange in Deutschland gelebt haben und weil genau diese Gefährderprognose noch nicht da ist. Das ist hier anders gewesen.
"Gerichte sollen Rechtsfrieden schaffen"
Heinemann: Haben da möglicherweise zwei Bundesminister geschlafen, Maas und Seehofer?
Hirte: Das kann ich nicht beurteilen.
Heinemann: Ein anderer Aspekt in diesem Fall sind die Äußerungen von Landesinnenminister Herbert Reul, der Folgendes zu Protokoll gegeben hat: "Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut, aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen." Herr Hirte, ist das ein Kriterium für die Urteilsfindung?
Hirte: Also zunächst mal, die Äußerung ist sicherlich unglücklich, um das vorweg zu sagen. Andererseits gilt, Gerichte sollen Rechtsfrieden schaffen und sollen in ihren Entscheidungen natürlich sozusagen die Dinge weiter blicken, sie sollen Schlichtung herbeiführen. Und wenn diese Schlichtung von Konflikten nicht erreicht wird, weil man vergisst oder übersieht, auf die Folgen zu schauen, dann ist ein Teil der gerichtlichen Entscheidungen, der Funktion gerichtlicher Entscheidungen nicht erfüllt.
Das allgemeine, etwas theoretischere Stichwort heißt Folgenorientierung, und das geht bis hinauf zu den obersten Bundesgerichten, dass man sich natürlich Fragen macht, bis hin zu Lobbyanhörungen, was ist eigentlich die Folge dessen, was wir entscheiden. Insofern, von der Wortwahl her sicher unglücklich, von der Diktion oder vom Ansatz her, dass Gerichte über die Folgen ihrer Entscheidungen nachdenken müssen – das tun sie auch normalerweise, und das werden sie auch hier getan haben – sicherlich richtig. Das Problem ist nur, wenn die Dinge schon vollzogen sind, ist es für einen Richter schwierig, über diese Frage noch einmal nachzudenken, weil er dann nur zum Vollzugsbeamten degradiert wird, und das ist sicher nicht richtig.
"Justiz muss ihre Entscheidungen klar kommunizieren und begründen"
Heinemann: Wie wirkt das auf die Bevölkerung, wenn ein Minister fordert, sinngemäß fordert, der Stammtisch sollte in die Rechtsprechung einbezogen werden?
Hirte: Das ist sicher dann nicht richtig, und ich würde auch sagen, die Formulierung mit dem Stammtisch ist ja jetzt Ihre Formulierung, die Sie so weitergeben. Und wir brauchen auf der anderen Seite Justiz, die ihre Entscheidungen dann auch klar kommuniziert und auch begründet. Und ich glaube schon, eines der Probleme liegt darin und lag jetzt gerade in diesem Fall darin, dass die Justiz in ihren Entscheidungen sozusagen die Kommunikation nach außen nicht in der Weise getätigt hat, wie man sie vielleicht hätte tätigen können. Pressesprecher bei Gerichten haben wir noch gar nicht so lange. Und dann kann man vielleicht, hätte man vielleicht noch mehr erklären können.
Heinemann: Bedrohen die Minister Stamp und Reul den Rechtsstaat?
Hirte: Nein, das sicher nicht. Wir haben ein Spannungsverhältnis zwischen Exekutive und Judikative, und dieses Spannungsverhältnis zwischen Exekutive und Judikative ist im Übrigen normal. Und dass hier die Exekutive versucht hat, Fakten zu schaffen, ob illegal oder nicht, ob unter Vertrauensbruch oder nicht, das steht noch sozusagen zur Klärung an. Aber das ist andererseits auch genau der Punkt, den man immer wieder erlebt.
Heinemann: Herr Hirte, Sie haben eben das mögliche Akzeptanzproblem angesprochen. Im Zusammenhang mit Sami A. schreibt die "Bild"-Zeitung heute, kein Land der Welt mache es seinen schlimmsten Feinden so bequem wie Deutschland. Was muss sich da ändern?
"Politische Entscheidung verlieren durch langwierige juristische Verfahren an Akzeptanz"
Hirte: Eines, was wir sicher erleben, ist, dass wir für Menschen - Sami A. war kein Flüchtling, aber bei Flüchtlingen erleben wir es, aber wir erleben es im Übrigen auch bei vielen anderen Bereichen unseres Rechts, dass wir sehr intensive Verfahren haben, sehr lange dauernde Verfahren haben, und dass die eigentliche politische Entscheidung durch die langwierigen juristischen Verfahren in ihrer Akzeptanz verliert. Um ein ganz anderes Beispiel zu nennen, der Bau von Leitungen von Nord- nach Süddeutschland, Stromleitungen, ist genauso jetzt unter Druck, obwohl er politisch von genau denselben Kräften auch verabredet wurde.
Heinemann: Der CDU-Politik Rupert Scholz, Staatsrechtler schlägt jetzt eine Änderung des Grundgesetzes vor, damit Gefährder kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben. Brauchen wir das?
Hirte: Vielleicht brauchen wir auch nur eine bessere Auslegung, das kann ja durchaus sein, das wäre meine Hoffnung gewesen, ich habe es eben angesprochen, wäre die Entscheidung vielleicht anders ausgefallen, wenn das Gericht sich nicht unter Druck gefühlt hätte oder unter Druck gesetzt worden wäre oder schon mit den Fakten konfrontiert worden wäre. Das wäre genau die Lösung gewesen, die ich mir im Wege der Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht hätte vorstellen können. Vielleicht werden andere Oberverwaltungsgerichte in Deutschland auch so entscheiden.
Heinemann: Heribert Hirte, CDU, der stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsrechtsausschusses. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Hirte: Ich danke meinerseits!
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