Peter Kapern: Herr Caspary, in der vergangenen Woche hat das Bundesinnenministerium wissen lassen, dass es ein bilaterales Abkommen mit Spanien geschlossen hat über die Rückführung von Migranten. Haben Sie Bundesinnenminister Seehofer zu dieser Verhandlungsleistung schon gratuliert?
Daniel Caspary: Ich habe ihm nicht gratuliert, Herr Kapern. Es war klar, dass es solche Abkommen geben wird. Aber klar ist vor allem auch: Wir stellen sicher, dass wir uns an europäisches Recht halten, dass wir schauen, wo kommen Flüchtlinge zuerst an und sie gegebenenfalls auch zurückschicken. Aber das hätten wir meiner Kenntnis nach auch auf Basis des bestehenden europäischen Rechts so machen können.
Kapern: Das heißt, die ganze politische Diskussion um diese bilateralen Abkommen – es soll ja auch noch welche mit Italien und Griechenland geben – ist überflüssig?
Caspary: Die Diskussion ist nicht überflüssig. Aber ich wünsche mir, dass wir grundsätzlich eine andere Diskussion führen. Wir hatten im Jahr 2015 1,5 Millionen Menschen, die illegal übers Mittelmeer nach Europa gekommen sind. Wir hatten im Jahr 2017 noch 150.000, dank einer Stärkung des europäischen Außengrenzschutzes, dank des EU-Türkei-Abkommens, dank der besseren Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Staaten. Das ist ein Riesenerfolg, dass wir den Migrationsstrom um 90 Prozent gesenkt haben. Und ich wünsche mir, statt dass wir die Diskussion führen, wie können wir diese wirklich minimalen illegalen Migrationsströme innerhalb Europas stoppen, dass wir uns weiterhin mit aller Kraft darum kümmern, wie schaffen wir es, die gemeinsame europäische Außengrenze zu sichern. Und wir sollten möglichst alle Kraft für diese Aufgabe verwenden.
"Am besten 30.000 oder 40.000 europäische Grenzschützer"
Kapern: Da liegt ja der Vorschlag der EU-Kommission auf dem Tisch, 10.000 Frontex Mitarbeiter, die ab 2020 diesen Job übernehmen sollen. Ist das Problem damit gelöst?
Caspary: Das Problem ist damit nicht komplett gelöst, aber wir sind schon mal einen Riesenschritt weiter. Ich wünsche mir, dass wir am besten nicht nur 10.000, sondern am besten 20.000, 30.000 oder 40.000 europäische Grenzschützer kurzfristig einstellen. Da kann man zum Bespiel auch bestehende Truppen der Mitgliedsstaaten übernehmen. 10.000 Außengrenzer kosten uns rund 600 Millionen Euro im Jahr. Das heißt, bei 30.000 reden wir über 1,8 Milliarden im Jahr – bei 420 Millionen Einwohnern nach dem BREXIT reden wir da in der Größenordnung über einen Cocktail oder ein Spaghetti-Eis oder über zwei, drei Glas Bier im Jahr, dass das jeden Einwohner in Europa kostet. Und das heißt, mit eigentlich sehr geringem Aufwand könnten wir diese offene Wunde Europas, nämlich die illegale Migration und die ganzen Sachen, die sich daraus ableiten, irgendwie in den Griff bekommen.
Kapern: Nun laufen ja Ihre Wünsche möglicherweise noch ins Leere, weil die Mitgliedsstaaten und Ihre Regierungen einfach in eine Richtung diskutieren, die Sie gerade nicht als wirklich hilfreich geschildert haben. Horst Seehofer will auch sein bilaterales Abkommen mit Italien. Wird er das bekommen?
Caspary: Ja - er ist der Innenminister, der die Aufgabe hat, dieses Abkommen auszuverhandeln. Das macht bestimmt auch Sinn, dass wir Flüchtlinge, die schon in anderen Ländern Europas registriert sind, dass wir die im Zweifel auch dorthin zurückschicken können. Aber ich sage es ganz deutlich, es gehört auch dazu eine Solidarität, die wir Deutschen, die die Belgier, die Schweden, die Franzosen und andere leisten müssen. Migrationsströme enden in aller Regel an der europäischen Außengrenze gerade in Griechenland oder in Italien oder in Spanien. Und wenn wir wieder zurückkommen zum Stand von 2013/14/15, vor der großen Welle, nämlich dass wir die Länder an der Außengrenze allein lassen, dass sie die Flüchtlinge registrieren müssen, dass sie allein die Verfahren durchführen müssen, dass sie allein die Flüchtlinge finanzieren müssen, dann passiert wieder genau das Gleiche wie 2015, nämlich ein Durchwinken und eine Unordnung. Und genau das darf sich nicht wiederholen. Da hat die Kanzlerin auch ganz klar gesagt: "2015 darf sich nicht wiederholen!" Deswegen müssen wir sicherstellen, dass registriert wird. Wir müssen sicherstellen, dass wir auch wieder zurückschicken können. Aber ich sage auch, es gehört ganz klar eine Solidarität dazu, die ja auch vereinbart wurde im Juni im Rat, nämlich eine, wenn auch freiwillige, Umverteilung von Flüchtlingen. Und da sind wir, Deutschland, auch gefordert. Aber es ist eben ein Dreiklang. Das Eine ist Fluchtursachenbekämpfung in den Herkunftsländern. Das Zweite ist dann die Frage Außengrenzschutz, gemeinsam mit den Nachbarländern in Nordafrika und die Stärkung von Frontex. Und das Dritte ist dann die Solidarität innerhalb der Europäischen Union. Und "Ja", auch Deutschland, das ja außer zur Schweiz gar keine EU-Außengrenze hat und an den Flughäfen, wir sollten da Ländern wie Italien oder Spanen gegenüber solidarisch sein.
"In den letzten zwei Jahren fast kein Druckmittel"
Kapern: Welche anderen Ländern sehen Sie in dieser Pioniergruppe, die dann also nicht mehr darauf wartet, dass Viktor Orbán möglicherweise doch nochmal seine Meinung ändert?
Caspary: Ja, ich sehe da vor allem die Länder aus der alten Europäischen Union quasi, aus der Europäischen Union bis 2004. Ich sehe da große, große Vorbehalte in vielen Ländern Zentral- und Osteuropas. Aber es ja nicht so, dass Orbán gar keine nimmt. Wenn ich da richtig informiert bin, wurden auch in Ungarn im letzten Jahr fast 2.000 Asylbescheide positiv ausgestellt. Ich sehe aber vor allem, dass wir jetzt erstmals in der Situation sind, dass auch wir ein Druckmittel aufbauen können. Wir hatten ja in der Diskussion in den letzten zwei Jahren fast kein Druckmittel, aber jetzt steht an die Beratung über den neuen europäischen Haushalt. Da hat ja auch die Kommission vorgeschlagen, dass Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen, entsprechend unterstützt werden sollen, dass wir Haushaltsmittel davon abhängig machen. Und das heißt, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir über den Haushalt ab 2020 sprechen. Das heißt, jetzt kommen alle Interessen von allen Mitgliedsstaaten auf den Tisch. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass auch unsere Bundesregierung und wir im Europäischen Parlament auch das Thema der Solidarität bei der Migrationsfrage als Druckmittel nehmen. Aber nochmal: Wir führen aus meiner Sicht schon wieder eine ganz falsche Diskussion. Weil das Thema "Umverteilung" ist doch ein ganz, ganz kleiner Baustein. Der Hauptbaustein lautet doch "Migration/Illegale Migration beschränken". Und im Vergleich zu 2015 haben wir die Zahlen um über 90 Prozent reduziert. Das ist doch ein Riesenerfolg, den wir der Bevölkerung auch sagen müssen. Und nachdem die Zahlen jetzt nur noch sehr, sehr niedrig sind, reden wir doch auch über verhältnismäßig kleine Zahlen, die da umverteilt werden. Und von daher bin ich optimistisch, dass wir vielleicht auch in Zentraleuropa ein Umdenken erleben.
Kapern: Im Zusammenhang mit diesen gesunkenen Flüchtlingszahlen stellt man ja Folgendes fest: 1. Es gibt diese drastisch zurückgegangenen Flüchtlingszahlen. 2. Gibt es trotzdem immer noch einen Teil des politischen Spektrums, der so tut, als hinge von der Migrationsfrage das Schicksal Europas ab. Und genau diese politische Gruppe ist es dann, die daran scheitert, die Lösungen, die sie selbst vorschlagen, in die Tat umzusetzen. Wie lange kann das gut gehen?
Caspary: Ich kann verstehen, dass Regierungen, wie zum Beispiel in Italien, wo im Prinzip beide Parteien, die dort an der Regierung sind, ja auch das Migrationsthema im Wahlkampf sehr intensiv gespielt haben, dass die das Problem weiter hochhalten wollen. Ich kann verstehen, dass ...
Kapern: Ihre Schwesterpartei, die CSU, hat das da ja in dieser Sache auch nicht anders gehalten in den letzten Monaten.
Caspary: Ja, gut. Man sieht ja die Ergebnisse leider auch bei der CSU in den aktuellen Umfragen, dass diese Diskussion nicht hilfreich war. Und deswegen wünsche ich mir, dass wir von diesem Nebenkriegsschauplatz, nämlich Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union oder über die Frage, ob an deutschen und deutsch-österreichischen Grenzen kontrolliert wird oder nicht, dass wir davon mal wieder wegkommen. Wir reden doch über ein Problem, das in der Praxis – zumindest was die Zahlen betrifft – weitgehend gelöst ist.
"Der BREXIT ist eine Riesenkatastrophe"
Kapern: Dann reden wir jetzt über ein anderes Problem: Der BREXIT. Der britische Handelsminister, Liam Fox, hat dieser Tage gesagt, er sehe die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem BREXIT ohne Abkommen kommt, bei 60 zu 40. Andere Mitglieder der britischen Regierung haben sich ähnlich pessimistisch gezeigt. Ist das Schwarzmalerei aus verhandlungstaktischen Gründen oder sind Sie ähnlich pessimistisch?
Caspary: Ich bin grundsätzlich optimistisch. Weil der BREXIT ist eine Riesenkatastrophe. Es hätte dazu nicht kommen dürfen. Ich bedauere das nach wie vor sehr. Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft eine möglichst gute Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich in vielen Politikbereichen haben. Und wenn wir einen "No-Deal-BREXIT" hätten, also keine Vereinbarungen, das wäre für uns in der Europäischen Union schlecht, aber das wäre für Großbritannien eine Katastrophe. Und deshalb denke ich, da wird sehr, sehr viel Rhetorik dabei sein. Und ich bin am Ende sehr, sehr zuversichtlich, dass es ein Abkommen geben wird. Das liegt im Interesse beider Seiten.
Kapern: Nicht alle unsere Hörer, Herr Caspary, beschäftigen sich permanent mit den Details und Feinheiten dieses BREXIT und was er bedeuten würde. Sie haben gerade gesprochen von großen Probleme, gar von einer Katastrophe. Sagen Sie doch mal in zwei, drei Stichworten, auf was müsste man sich einstellen? Wäre es das Chaos?
Caspary: Es wäre in einigen Teilen schon ein Chaos. Es gibt Beispiele, dass zum Beispiel Flugzeuge aus Großbritannien in den europäischen Luftraum nicht mehr reinkönnten, weil wir dafür keine Abkommen hätten. Wir hätten die Frage, dass zum Beispiel für Medikamente in Großbritannien dann Zulassungen wegfallen könnten. Nehmen wir mal die Grenzkontrollen für Waren, die dann wieder eingeführt werden müssten. Wenn jeder Lastwagen nur zwei Minuten kontrolliert werden würde an der Grenze zum Vereinigten Königreich, dann würden wir über tägliche Staus von 27 Kilometern Länge reden. Und nehmen Sie mal ein Unternehmen, wie Ford, das stellt viele Autos in Europa her, die Motoren werden fast alle in Großbritannien hergestellt. Überlegen Sie sich mal, wenn da 27 Kilometer Stau ist, stundenlange Verzögerungen, damit ist Just-in-time-produktion überhaupt nicht möglich. Und das wäre für Großbritannien eine Katastrophe und uns in Europa würde das schwächen. Deswegen, ich hätte mir gewünscht, wir hätten den BREXIT gar nicht bekommen. Aber ich wünsche mit jetzt, dass wir gemeinsam ein stabiles Abkommen hinbekommen, gerade im Verhältnis zu unseren auswärtigen Partnern auf der Welt. Im Wettbewerb mit Russland in Europa oder mit China in Asien oder jetzt auch mit den Vereinigten Staaten unter Präsident Trump sollten wir alles tun, dass wir auch nach dem BREXIT zwischen der Europäischen Union und Großbritannien eine gute Zusammenarbeit haben. Aber wer geht, dem muss auch klar sein, es werden sich manche Sachen ändern, und das muss die britische Regierung dann ihrer Bevölkerung dann auch erklären.
"Barnier macht das sehr, sehr gut"
Kapern: Ja, die Taktik der britischen Regierung scheint ja derzeit die zu sein, dass die Minister die europäischen Hauptstädte bereisen, um dort zu berichten, dass Michel Barnier, also der Chefunterhändler der EU, ein ungewählter legalistischer Beamter, wie das in Großbritannien immer wieder heißt, ohne echten Kontakt zur europäischen Normalbürgern, durch seine Uneinsichtigkeit und Härte dabei sei, die BREXIT-Verhandlungen zu riskieren und an die Wand zu fahren. Was ist da dran?
Caspary: Nein. Michel Barnier macht das sehr, sehr gut, unser Chefunterhändler. Er hat breite Unterstützung und Rückendeckung auch im Europäischen Parlament. Wir haben in verschiedenen Beschlüssen seine Linie der Verhandlungsführung ausdrücklich unterstützt. Ähnlich sieht es aus bei den Mitgliedstaaten. Und genau weil er gut verhandelt und weil auch sein Verhandlungsteam extrem gut besetzt ist – die Beamten dort haben große Erfahrung mit dem Abschließen von internationalen Handelsabkommen, die wissen ganze genau, worauf es ankommt und wie man auch taktisch geschickt verhandelt - deswegen versuchen die Briten über die Touren in die europäischen Hauptstädte, die Europäische Union teilweise auseinander zu dividieren oder mitzubekommen, wie sind denn die Stimmungen in den Hauptstädten. Und deswegen, was mich im Moment wirklich begeistert, die Regierungen hätten am liebsten alle den BREXIT nicht gehabt, aber mein Eindruck ist, dass alle Regierungen im Moment sich eben nicht auseinander dividieren lassen, sondern immer ganz klar auf unseren Chefunterhändler Michel Barnier und seine Verhandlungskompetenz und ihn als Ansprechpartner verweisen.
Kapern: Und Sie gehen davon aus, dass das bis zum Abschluss oder bis zum Ende der Verhandlungen auch tatsächlich so bleibt?
Caspary: Ich wünsche mir das im Interesse aller. Denn wenn wir uns als Europäer auseinander dividieren lassen, dann werden wir die Verlierer sein. Das gilt übrigens nicht nur bei der Frage BREXIT, sondern das gilt auch bei unserem Verhältnis mit anderen Staaten, wie Russland. Wenn wir uns da auseinander dividieren lassen, werden wir alle gemeinsam untergehen. Wenn es Präsident Trump schafft, der ja auch versucht hat, die Europäische Union bei verschiedenen Sachen gegeneinander auszuspielen, und wenn es er schafft, dann werden wir auch gemeinsam untergehen. Und deswegen, wir können entweder gemeinsam im europäischen Verbund gut schwimmen und uns global behaupten oder wir werden gemeinsam getrennt untergehen. Und ich glaube schon, diese Erkenntnis ist in den europäischen Hauptstädten da.
Kapern: Nun hat ja die britische Regierung kürzlich ein sogenanntes Weißbuch vorgelegt mit einer Skizze, wie sich sich die künftige Beziehung zur Europäischen Union vorstellt, mit komplexen Zollmodalitäten. Da soll dann auf der britischen Insel Zoll für die EU erhoben und kassiert werden. Was taugen diese Vorschläge?
Caspary: Aus meiner Sicht taugen diese Vorschläge nicht viel. Es ist erstmal gut, dass überhaupt Vorschläge vorgelegt wurden. Es ist auch gut, dass aus meiner Sicht damit die britische Premierministerin May klar signalisiert hat, sie möchte, dass es ein Abkommen gibt. Aber auf der anderen Seite, wir können nicht zulassen, dass Irland und Nordirland irgendwie voneinander abgekoppelt werden. Das ist eine klare Bedingung, auf die sich die Briten eingelassen haben.
"Es darf keine Rosinenpickerei geben"
Kapern: Wissen Sie eine Lösung für dieses Problem der irisch-nordirischen Grenze?
Caspary: Ja - Da ist erstmal Großbritannien gefordert, einen Vorschlag zu machen. Auf den warten wir bis heute. Weil der Vorschlag, den die Briten gemacht haben, nämlich dass man unterschiedliche Zölle dann zwischen Großbritannien und der Europäischen Union an den Häfen benutzte, das ist doch ein abstruser Vorschlag. Damit ist doch der Umgehung von unterschiedlichen Zollsätzen geradezu Tür und Tor geöffnet. Wir werden dann erleben, dass Importeure ihre Produkte immer dann entweder in Großbritannien oder in der Europäischen Union anlanden, wo halt gerade der Zollsatz niedriger ist. Und weil es dann keine Grenzkontrollen gibt, kann man den Betrug de facto gar nicht kontrollieren. Deswegen, das war ein netter Vorschlag, theoretisch machbar, aber im Praxistest wird das so nicht funktionieren.
Kapern: Ein anderer Vorschlag läuft darauf hinaus, dass die Briten im Binnenmarkt für Waren, für Industriegüter bleiben. Nun besteht der Binnenmarkt aus den vier Grundfreiheiten: Die Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital. Können Sie uns garantieren, dass am Ende der Verhandlungen nicht doch diese vier Grundfreiheiten auseinander dividiert werden, nur um ein Abkommen mit Großbritannien zu erhalten?
Caspary: Auch da: Ich wünsche mir ganz klar, dass wir uns hier als Europäische Union nicht auseinander dividieren lassen. Auch da gilt, es sagen alle Hauptstädte im Moment in Europa und vor allem auch wir im Europäischen Parlament, es darf keine Rosinenpickerei geben. Und das wäre genau der Anfang von dem, dass man sich eben bestimmte Rosinen raussucht. Und wenn das dann ein Land wie Großbritannien machen darf, dann stellt sich auch sehr schnell die Frage, warum darf nicht irgendein anderes Mitgliedsland in der Europäischen Union eben sich die Vorteile rauszuziehen und Nachteile an andere abzudrücken. Und das ist eben genau der Punkt, der gilt: Wir sind in der Europäischen Union ein Verbund von Staaten, wir haben alle unterschiedliche Interessen, wir müssen alle Kompromisse eingehen und jedes Land muss auch Solidarität zeigen. Und ich sehe überhaupt gar keinen Grund, warum wir einem dann Drittstaat, wie Großbritannien, Rechte einräumen sollten, die ein Mitgliedsland der Europäischen Union nicht hat. Und deswegen, ich halte alle diese Vorschläge für theoretisch nett, aber in der Praxis aber auch politisch nicht umsetzbar und nicht akzeptabel. Und deswegen wünsche ich mir, dass Michel Barnier hier weiter klar verhandelt und eine gute Lösung findet, aber wir eben nicht unsere Grundprinzipien aufgeben.
Trumps Versuch, die internationale Ordnung abzubauen
Kapern: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche. Heute mit dem CDU Europaabgeordneten Daniel Caspary, dem Vorsitzenden der Gruppe der CDU- und CSU Abgeordneten im Straßburger Parlament. Herr Caspary, die USA haben neue Sanktionen gegen den Iran in Kraft gesetzt, und diese Sanktionen sollen auch für alle anderen Handelspartner des Iran gelten, sofern sie Wert darauf legen, weiterhin Geschäfte mit den USA zu machen. Wer Geschäfte mit dem Iran macht, macht keine mehr mit Amerika hat Donald Trump getwittert. Was halten Sie von diesem Anspruch, amerikanische Sanktionsregime auf die ganze Welt auszudehnen?
Caspary: Ja, das ist leider ein weiteres Beispiel dafür, wie Präsident Trump aus meiner Sicht versucht, die internationale Ordnung zu zerstören und abzubauen und zu gefährden und dann als große Macht im Chaos am besten dazustehen. Ich finde es gut, dass wir als Europäer eben gesagt haben, wir wollen dieses Iran-Abkommen in Kraft halten. Das heißt, wir haben auch ein Regime eingeführt, um Unternehmen, die weiterhin mit dem Iran Handel treiben wollen, zu schützen, aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, die wirtschaftliche Dominanz Amerikas in der globalen Welt ist leider sehr, sehr groß. Deswegen erleben wir ja auch gerade in den Schlagzeilen der letzten Tage, dass sich viele europäische Unternehmen aus dem Iran-Geschäft zurückziehen. Wir werden es trotzdem hoffentlich schaffen, dass vielleicht der eine oder andere mittelständische Unternehmer, der mit dem Iran Geschäfte macht und mit den Vereinigten Staaten nicht, dass der sein Geschäft weiter aufrecht erhalten kann. Ich wünsche mir, dass wir als Europäer alles tun, um dieses Abkommen am Laufen zu halten. Es kann doch nicht sein, dass wir internationale Abkommen abschließen, und nur weil dann irgendwo ein neuer Staats- oder Regierungschef gewählt wird, werden die Abkommen komplett infrage gestellt. So geht es nicht. Ich möchte aber auch deutlich sagen, was der Iran macht in der ganzen Region um den Iran herum, ist nicht in Ordnung. Da gibt es wirklich viele Schwierigkeiten – wenn ich an die Situation in Syrien denke, an die Instabilität, die der Iran auch bringt in Richtung Israel und anderes. Das heißt, es gibt wirklich viele Dinge, die wir mit dem Iran auch kritisch zu besprechen haben. Aber das Atomabkommen war eindeutig, und es gibt aus meiner Sicht im Moment keinen objektiven Grund, es zu kündigen, wie es die Amerikaner gemacht haben.
Kapern: Nun hat die Europäische Union ein so genanntes "blocking statute", eine Blockadeverordnung in Kraft gesetzt, die so sozusagen europäische Unternehmen schützen soll vor dem Zugriff der USA in dieser Sanktionsfrage. Dieses "blocking statute" untersagt allerdings auch europäischen Firmen im Prinzip, sich den Amerikanischen Sanktionen zu unterwerfen. Das ist am Dienstagmorgen um 6.00 Uhr in Kraft getreten. Wenige Stunden später hat Daimler Benz verkündet, dass es seine Aktivitäten im Iran einstellt. Was belegt der Ablauf dieser Ereignisse? Die Machtlosigkeit der Europäischen Union oder die Rückgratlosigkeit von Daimler Benz?
Caspary: Nein, die Sache belegt erst mal, dass Unternehmen sich genau anschauen müssen, wie sind sie global aufgestellt. Dass zum Zweiten wir feststellen als Europäische Union, dass die Vereinigten Staaten in wirtschaftlichen Fragen global einfach wegen der Dominanz des Dollars, wegen der Dominanz des Bankenwesens immer noch sehr, sehr stark aufgestellt sind. Und da sieht man, wie wichtig es ist, dass wir uns als Europäische Union weiter stärken. Wir müssen die internationale Rolle des Euros weiter ausbauen. Je mehr internationale Geschäfte in Euro abgewickelt werden, umso unabhängiger werden wir von den Vereinigten Staaten. Wenn wir es schaffen, unsere Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Staaten, auch unabhängig von den Vereinigten Staaten zu gestalten, dann wird es auch besser werden. Und in dem Sinne: Ja, wir sind aktuell noch recht kraftlos, aber genau deswegen müssen wir doch dringend unsere europäische Außen- und Sicherheitspolitik weiter stärken. Deswegen müssen wir wirtschaftlich weiter stark werden, unsere gemeinsame Währung weiter stärken und dann schaffen wir es, vielleicht nicht heute, aber vielleicht in einigen Jahren, dann auch auf Augenhöhe in solchen wirtschaftlichen Fragen mit den Vereinigten Staaten zurecht zu kommen.
Kapern: Und wenn ich jetzt sage, dass diese Blockadeverordnung nichts anderes als Symbolpolitik ist, stimmen Sie mir dann zu?
Caspary: Es ist von daher ein Symbol, ja, weil eben Unternehmen, die heute in Europa und in den USA tätig sind, sich de facto diesen aus meiner Sicht falschen Maßnahmen der Vereinigten Staaten unterwerfen müssen. Aber auf der anderen Seite, ich kenne einige mittelständische Unternehmen, die eben Iran-Geschäft haben, und die in den Vereinigten Staaten wirtschaftlich nicht tätig sind, und denen sichern wir damit ihre wirtschaftliche Aktivität im Iran ab, und das sind nur wenige, ja, zugegeben, aber wir tun immerhin, was wir können und von daher ist es ein Symbol, aber es ist kein rein symbolisches Symbol, sondern es gibt auch etliche Unternehmen, die davon profitieren.
Indexierung des Kindergelds
Kapern: Herr Caspary, wir haben in den letzten Tagen eine recht aufgeregte Debatte über das Thema Kindergeld und Zuwanderung in die deutschen Sozialsystemen erlebt. Also Zuwanderer aus Osteuropa, deren Kinder weiterhin in der Heimat, in den Heimatländern leben, aber gleichwohl Kindergeld erhalten auf deutschem Niveau. Da gibt es nun die massive Forderung an die Politik, da jetzt tätig zu werden, um dies zu ändern. Wie stehen Sie zu dieser Frage?
Caspary: Ja, als allererstes, wir sollten schauen, die Lebenswirklichkeit ist die, dass tatsächlich Lebenshaltungskosten in den europäischen Mitgliedsstaaten noch extrem unterschiedlich sind, und Kindergeld ist ja erst einmal eine Leistung, die für die Kinder da ist, und da macht es schon einen Unterschied, wie die Leistung in den Mitgliedsstaaten ist. Aber es gehört auch dazu, das kann dann bedeuten, dass der Deutsche, der vielleicht in Luxemburg arbeitet und seine Kinder dort hat, dass er dann auch entsprechend mehr Kindergeld bekommt. Von daher ist es eine Frage…
Kapern: Also sind Sie für eine Indexierung des Kindergelds nach den Lebenshaltungskosten in dem jeweiligen Land, wo die Kinder leben?
Caspary: Ich halte es für eine sehr gute Lösung, eine solche Indexierung. Und ich nehme mit Erstaunen zur Kenntnis, dass die Europäische Kommission gerade in diesen Tagen wieder darauf hingewiesen hat, dass das angeblich rechtlich nicht möglich sei, weil es angeblich Kinder dann benachteiligen würde entsprechend ihres Wohnortes. Aber da kann ich nur deutlich darauf hinweisen: bei den Beamten der Europäischen Kommission ist es ganz genau so, dass die Höhe für den Kinderzuschlag der EU-Beamten davon abhängig ist, wo sich diese Kinder aufhalten in der Europäischen Union. Und was bei Beamten der Europäischen Kommission möglich ist, muss aus meiner Sicht aus auch für jeden normalen Bürger möglich sein, und deswegen setze ich mich sehr dafür ein. Wir haben die Gesetzgebung laufen und wir versuchen, auf europäischer Ebene einen Rahmen schnellstmöglich zu schaffen, dass solche Indexierungen auch in Deutschland und anderen Ländern möglich werden.
Kapern: Nun ist ja Ihr Parteifreund Jens Spahn auf der Suche nach tausenden von Pflegekräften, die möglicherweise aus Osteuropa kommen sollen. Und denen er dann, wenn sie jetzt tatsächlich Interesse an einem Job in Deutschland hätten, sagen muss, dass sie aber weniger Kindergeld kriegen als der deutsche Kollege, der im selben Betrieb dieselbe Arbeit leistet. Ist das ein attraktives Jobangebot für Pflegekräfte beispielsweise aus Polen oder aus Litauen?
Caspary: Ja, das eine ist erst einmal… das Gehalt ist das eine und das Gehalt eines Pflegenden….
Kapern: Auf dem Konto landet beides zusammen.
Caspary: Genau, auf dem Konto landet beides zusammen. Aber noch mal: die eine Leistung wird dafür gezahlt, dass ein Kind in Deutschland irgendwie ernährt, ausgebildet, finanziert werden muss. Und die andere Leistung ist dann: was erarbeitet jemand durch seine Arbeit. Und da kann das schon einen Unterschied machen. Die Kosten für ein Kind in Polen sind einfach noch andere als die in Deutschland, und deswegen bedeutet eine Indexierung ja eben genau, dass es heißt, der zentraleuropäische Arbeitnehmer in Deutschland würde im Zweifel weniger bekommen, aber ein Arbeitnehmer aus Luxemburg würde dann vielleicht auch ein höheres Kindergeld bekommen. Das gehört beides zusammen.
"Attraktivität eines Arbeitsmarktes nicht über Sozialleistungen definieren"
Kapern: Aber es bedeutet auch, dass der deutsche Arbeitsmarkt weniger attraktiv für Arbeitnehmer aus Polen beispielsweise wird.
Caspary: Ja, aber wir sollten doch bitte die Attraktivität eines Arbeitsmarktes nicht über Sozialleistungen definieren, sondern über die Frage der Löhne und Gehälter. Und das ist Aufgabe entsprechend der Tarifpartner, und da bin ich mir schon darüber im Klaren, dass man da gerade auch im Pflegebereich und in anderen Bereichen in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich die eine oder andere Gehaltssteigerung noch mal sehen muss.
Kapern: In einem Dreivierteljahr, Herr Caspary, stehen die nächsten Europawahlen an. In etlichen europäischen Ländern sind Rechtspopulisten und Nationalisten auf dem Vormarsch. Können die die Mehrheit im Europaparlament übernehmen?
Caspary: Wenn wir uns nicht anstrengen, dann droht das. Wir haben heute schon im Europäischen Parlament Populisten mit 30 bis 40 Prozent der Stimmen. Damit ist die Europawahl den nationalen Wahlen immer so fünf bis zehn Jahre voraus. Wir haben ja die Entwicklung jetzt auch in Deutschland erlebt, mit im Deutschen Bundestag über 20 Prozent Populisten seit der letzten Bundestagswahl. Mich erfüllt es mit großer Sorge, und ich kann uns nur allen raten, wir müssen noch besser zuhören, was die Menschen im Moment umtreibt. Ich habe den Eindruck, dass zu viele Menschen in Deutschland den Eindruck haben, wir hören nicht genau zu. Das zweite ist, wir sollten wieder mehr über die Probleme sprechen, die die Menschen wirklich im täglichen Leben umtreiben und nicht über die Probleme, die vorgestern aktuell waren aber weitestgehend gelöst sind, Stichwort Migration. Und zum dritten, die Menschen suchen Orientierung und Führung, und wir sind aufgerufen in dieser Welt, in der immer mehr Unordnung herrscht, mit Russland, das in Zentraleuropa Unordnung bringt und über Fake News bei uns Wahlen versucht zu beeinflussen. Die Chinesen mit ihrer Diktatur, jetzt die Amerikaner mit Präsident Trump, der vieles durcheinander bringt und viele, viele Unwahrheiten in die Welt setzt. Wir müssen den Menschen Orientierung und Halt geben, und wenn wir das tun als demokratische Parteien, dann bin ich sehr, sehr optimistisch, dass wir auch im Europäischen Parlament nach der nächsten Wahl demokratische Mehrheiten haben.
Kapern: Könnte es nicht zum Erfolg beim Zurückdrängen von Rechtspopulisten beitragen, wenn Sie die Rechtspopulisten der Fidesz Partei, deren Wahlerfolge in Ungarn auf Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus fußen, aus der EVP Fraktion und aus der Parteienfamilie der EVP ausschließen?
Caspary: Ich werbe sehr dafür, dass wir mit Fidesz weiter im Gespräch bleiben und sie genau nicht rausschmeißen. Denn wir haben gerade lange über den Brexit gesprochen. Aus meiner Sicht war der Beginn des Brexit als David Cameron als frischer Premierminister 2009 die britischen Konservativen aus unserer Fraktion im Europäischen Parlament abgezogen hat. Seitdem sind die gemeinsam mit der polnischen PiS in einer eigenen Fraktion. Mein Eindruck ist, dass damals der Brexit begonnen hat. Und was wir wirklich verhindern sollten, bei allen Schwierigkeiten, die wir haben mit Menschen wie Orbàn und seiner Fidesz Partei in einigen Fragen oder die die Sozialisten haben, wenn ich mir die rumänischen Sozialisten anschaue oder die Liberalen mit Babic in Tschechien. Wir haben in allen Parteifamilien schwierige Wegbegleiter, und meine Sorge ist nur, wenn wir jetzt anfangen, Orbàn rauszuschmeißen und die Sozialisten die Rumänen rausschmeißen, dann wäre es der Beginn einer Spaltung der Europäischen Union wieder in die alten 15 Mitgliedsstaaten und die Mitgliedsstaaten in Zentral- und Osteuropa. Und genau diese Spaltung dürfen wir nicht kommen lassen, und deswegen ist es manchmal nervig. Da sind viele Sachen inakzeptabel, aber ich halte es für besser, wenn wir in den europäischen Parteienfamilien, egal in welcher, auch mit den schwierigen Partnern im Gespräch bleiben, um irgendwie den Laden zusammen zu halten. Wenn der Gesprächsfaden reißt, das haben wir beim Brexit gesehen, dann kommt das Chaos.
Kapern: Herr Caspary, ich bedanke mich für das Gespräch.
Caspary: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.