Das Ansehen des türkischen Präsidenten Erdogan beruhe auf dem wirtschaftlichen Fortschritt des Landes, so Brok. Dieser hänge wesentlich von der EU ab, etwa beim Zugang zum Binnenmarkt und Investitionen aus der Gemeinschaft. Die Europäische Union müsse diese Abhängigkeit deutlicher in den Vordergrund stellen. Erdogan verletze mit seinem Vorgehen nicht nur die Demokratie, sondern schädige auch seine eigenen Interessen.
Zur Diskussion um eine Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei meinte Brok, wenn Erdogan den Puschversuch nutze, um das Land in einen islamischen, autokratischen Staat umzubauen, würde dies ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bedeuten.
"Türkei marschiert zurzeit in eine falsche Richtung"
Brok sagte, er glaube nicht, dass die Türkei noch ein Rechtsstaat sei. Mit einem Ausnahmezustand auf bestimmte Situationen zu reagieren, sei zwar legitim, wie etwa auch in Frankreich. "Die Frage ist nur, wie man ihn ausnutzt," so Brok. "Die Tatsache, dass man schon ein paar Stunden nach dem Putsch eine Liste von fast 3.000 Richtern und Staatsanwälten hat, die man entlassen hat, und auch das Verbot von Meinungsfreiheit und die Gefährung von Journalisten zeigen, dass die Türkei zurzeit in eine falsche Richtung marschiert, die von Europa weggeht."
Das Interview in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: Etwas würde passieren. Das hatte der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, für den gestrigen Tag angekündigt. Am späten Abend dann, eigentlich sogar schon eher in der Nacht, da hat er den Ausnahmezustand für sein Land verkündet - eine Maßnahme, die sich vor allem gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung richten soll und Erdogan und den Behörden umfangreiche Möglichkeiten verschafft.
Die Türkei hat in der Nacht den Ausnahmezustand angekündigt. Die Regierung kann damit die Freiheiten ihrer Bürger in erheblichem Maße einschränken. Bundesaußenminister Steinmeier hat sich noch in der Nacht von Washington aus dazu geäußert. Er sagte: Bei allen Maßnahmen, die der Aufklärung des Putschversuches dienen, müssen Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Darüber möchte ich nun sprechen mit Elmar Brok, Vorsitzender im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten im Europäischen Parlament. Wir erreichen den CDU-Abgeordneten in Südamerika. Hallo, Herr Brok!
Elmar Brok: Hallo, Frau Büüsker.
Büüsker: Herr Brok, kann Erdogan eigentlich wirklich alles machen was er will, ohne dass wir als europäischer Westen darauf mal resolut reagieren?
Brok: Nun, was heißt resolut zu reagieren? Wir sagen, die Rechtsstaatlichkeit muss eingehalten werden. Die Stellungnahme des Bundesaußenministers war da richtig. Auch die Tatsache, dass die Bundeskanzlerin, auch Frau Mogherini gesagt haben, wenn die Todesstrafe eingeführt wird, ist dies das Ende der Beitrittsverhandlungen. Jetzt müssen wir in Ruhe prüfen, wie weit er da vorgeht, wo es berechtigt ist. Jedenfalls ist ein Putsch nicht erlaubt, dagegen muss man vorgehen können. Aber wenn er dies nutzt, um einen Staat umzubauen in einen islamischen, autokratischen Präsidentenstaat, dann kommt das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union.
"Erdogans Popularität beruht auf seiner ökonomischen Entwicklung"
Büüsker: Aber passiert nicht gerade das? Tut Erdogan nicht gerade genau das?
Brok: Das scheint er zu tun und deswegen werden das kritische Wochen werden und deswegen wird es schwieriger werden, neue Kapitel zu eröffnen, obwohl es gerade jetzt spannend wäre, die Kapitel 23 und 24 zu eröffnen, wo es um die Rechtsstaatlichkeit geht, und mit denen mal deutlich und Tacheles zu reden über Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Denn dann könnten sie nicht mehr ausweichen. Aber das ist aus anderen Gründen heute, glaube ich, schwierig zu tun. Aber ich glaube, dass wir auch deutlicher machen müssen, dass die Türkei von uns abhängt. Erdogans Popularität beruht auf seiner ökonomischen Entwicklung, die wirklich hervorragend in den letzten Jahren in der Türkei war. Und wenn die Direktinvestitionen aus der Europäischen Union aufhören, die in den letzten Jahren erheblich waren - zwei Drittel aller Investitionen kommen aus der Europäischen Union heraus, der Handelsverkehr ist groß -, dann würde das erhebliche Konsequenzen für die Türkei bedeuten, aber insbesondere für die Popularität Erdogans, und dies sollten wir jetzt, glaube ich, sehr viel deutlicher in den Vordergrund stellen, um ihn daran zu erinnern, dass er doch mit dieser Vorgehensweise nicht nur Demokratie verletzt, sondern auch selbst seine eigenen Interessen schädigt.
Büüsker: Aber glauben Sie denn wirklich, dass Erdogan noch ein Interesse an Beitrittsverhandlungen hat?
Brok: Ob er noch Interesse an Beitrittsverhandlungen hat, weiß ich nicht. Es würde ja auch ewig lange dauern, bis es soweit wäre, wenn überhaupt jemals die Mitgliedschaft käme.
Türkei hängt von der Wirtschaft der EU ab
Büüsker: Aber Herr Brok, ich meine, wenn Sie jetzt sagen, dass es das Instrument der EU ist, dass wir die Beitrittsverhandlungen abbrechen mit der Türkei, dann setzt das ja voraus, dass Sie hoffen, dass Erdogan noch ein Interesse an diesem Beitritt der Türkei hat, weil sonst ist das Schwert der EU ja komplett stumpf, dann können wir ja gar nichts tun.
Brok: Nein! Erstens ist es so gewesen, bis zu diesem Putsch, dass Erdogan Wert darauf gelegt hat, dass neue Kapitel eröffnet werden. Das wollte er. Ob er es heute noch will nach dem Putsch, weiß ich nicht.
Zweitens: Die wirtschaftlichen Beziehungen sind davon erst einmal unabhängig. Die Türkei hat eine Zollunion. Die Türkei hängt im entscheidenden Umfange von der Wirtschaft der Europäischen Union ab, vom Zugang zum Binnenmarkt und den Investitionen, die aus der Europäischen Union kommen. Der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei wäre nicht ohne Europa möglich gewesen. Und wenn aufgrund einer solchen Entwicklung hier es zu drastischen Verringerungen führen würde, die wir jetzt schon ansatzweise sehen können, dann wird es klar, dass dadurch Erdogan sich selbst den Ast abschneiden würde, auf dem er sitzt, nämlich die wirtschaftliche Entwicklung, die durch Europa entscheidend so positiv in der Türkei mit geprägt worden ist. Und das ist, glaube ich, ein Punkt, den wir sehr viel deutlicher in den Vordergrund rücken müssen.
Büüsker: Die Todesstrafe, die Wiedereinführung der Todesstrafe ist jetzt im Prinzip die rote Linie, die die EU formuliert hat, und bis dahin ist dann quasi alles erlaubt?
Brok: Nein! Wir müssen sehen, dass eine Vielzahl von Kapiteln bisher nicht eröffnet worden sind, weil die Türkei auch die Voraussetzungen dafür nicht gegeben hat, und das wird sicherlich noch eingeengter werden jetzt. Die Fragen, die mit der Todesstrafe zu tun haben, haben eine noch darüber hinausgehende prinzipiellere Bedeutung. Die Abschaffung der Todesstrafe war 2004 Bedingung für den Beginn der Verhandlungen und wenn sie wieder eingeführt und durchgeführt wird, dann ist das auch das Ende der Verhandlungen. Das ist eindeutig klar. Aber dazwischen gibt es eine Vielzahl von anderen Möglichkeiten, die wir nutzen werden, dass beispielsweise die Kapitel nicht eröffnet werden. Es ist von den 35 Kapiteln, die die Türkei verhandeln müssen, ein einziges bisher zu Ende verhandelt worden. Und wenn das jetzt wieder blockiert wird, weil Erdogan sich so verhält, wie er sich verhält, ist das natürlich das Ende, das de facto Ende der Beitrittsverhandlungen.
Wirtschaftliche Beziehungen haben starke Wirkung
Büüsker: Aber Herr Brok, ich verstehe das nach wie vor nicht. Sie betonen immer wieder die Beitrittsverhandlungen. Aber wenn Erdogan jetzt wirklich kein Interesse mehr daran hat - und warum sollte er ein Interesse haben; er baut sich seinen Staat gerade so aus wie er will, und wenn er in die EU wollte, müsste er das alles zurücknehmen. Warum sollte Erdogan noch ein Interesse daran haben?
Brok: Weil er bis vor 14 Tagen Interesse gezeigt hat und Druck gemacht hat, weitere Verhandlungen zu führen. Das ist erstens. Und zweitens noch einmal: Die wirtschaftlichen Beziehungen sind von entscheidender Wirkungsmacht jetzt, die wir nutzen müssen. Das hat nichts mit den Beitrittsverhandlungen zu tun. Das heißt, wir müssen deutlich machen, wenn die Türkei in eine Autokratie hineingeht, werden die wirtschaftlichen Beziehungen schlechter. Sie werden weniger Investitionen bekommen. Die Zollunion wird nicht mehr gepflegt und ausgebaut werden, worüber gegenwärtig verhandelt würde. Dieses hätte dramatische Konsequenzen für Erdogans Popularität in dem eigenen Lande und diese Mittel müssen wir deutlicher vorfahren, auch deutlich machen, dass wir nicht in der Hand Erdogans sind, sondern Erdogan sehr viel mehr von uns abhängt.
Büüsker: Hat die EU insgesamt ein bisschen eine Beißhemmung gegenüber der Türkei, weil sie ja auch abhängig von der Türkei ist, Stichwort Flüchtlingsabkommen?
Brok: Wir sind, wie ich vorhin sagte, aufgrund der wirtschaftlichen Dinge nicht abhängig von der Türkei. Aber die Türkei liegt da wo sie liegt. Wir müssen mit allen Ländern im Mittelmeerraum, wo es Meeresgrenzen gibt, reden. Das gilt auch für Ägypten, das gilt auch für Libyen und andere Länder. Es ist in der Tat so: Es gibt 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Wir haben mit dem Abkommen erreicht, dass diese Flüchtlinge stärker unterstützt werden, dass sie Schulunterricht haben. Wir können natürlich jetzt sagen, wir sind ärgerlich über Erdogan und unterstützen die Flüchtlinge nicht mehr. Das scheint doch keine sinnvolle Lösung zu sein im Sinne der Flüchtlinge. Wir werden den Krieg in Syrien nur beenden können, wenn alle Länder der Region mitmachen. Das sind auch Saudi-Arabien und Iran, die wahrlich nicht Erfinder der Menschenrechte sind, die jährlich Hunderte von Menschen durch die Todesstrafe umbringen. Mit denen müssen wir auch reden und reden. Mit dem Iran haben wir gerade einen Deal gemacht, um den Bau von Atombomben zu verhindern. Natürlich muss man in diesem Bereich auch mit Erdogan weiter reden. Sonst geht das Schlachten in Syrien und im Irak weiter voran.
"Ich glaube nicht, dass das ein Rechtsstaat ist"
Büüsker: Kann man bei all dem, was jetzt in den vergangenen Tagen in der Türkei passiert ist, noch von einem Rechtsstaat sprechen?
Brok: Nein. Ich glaube nicht, dass das ein Rechtsstaat ist. Ich meine, der Ausnahmezustand als solcher ist kein Hinweis darauf. Den gibt es gegenwärtig auch in Frankreich. Die Frage ist, was er damit bezweckt und wie das nachher ausgenutzt worden ist, und die Tatsache, dass man schon ein paar Stunden nach dem Putsch Listen von fast 3000 Richtern und Staatsanwälten hatte, die man entlassen hat, und all die Zahlen, die danach gekommen sind, zeigen, auch im Zusammenhang mit dem Verbot von Meinungsfreiheit, die Gefährdungen für Journalisten, die es ja auch schon vor dem Putsch gegeben hat, dass die Türkei jetzt zurzeit in eine falsche Richtung marschiert, die von Europa weggeht.
Büüsker: … sagt Elmar Brok, Vorsitzender im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten im Europäischen Parlament. Vielen Dank, Herr Brok!
Brok: Besten Dank auch!
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