"Ein Karnevalsjeck bin ich nie gewesen."
Der Rheinländer
Ursula Welter: Karl Lamers, Sie sind ein leidenschaftlicher Politiker, aber Sie haben selbst mal gesagt, Sie sind kein Selbstdarsteller. Lassen Sie uns trotzdem zunächst mit dem Menschen Karl Lamers beginnen: In Königswinter geboren und das an einem 11. November. 11. Im 11. – Sie sind Rheinländer, sind Sie eine rheinische Frohnatur?
Lamers: Nein, ich glaube, das kann man nicht sagen. Ein Karnevalsjeck bin ich nie gewesen. Ich bin ein bewusster Rheinländer, ja, aber eben ein Karnevalsjeck, nein.
Welter: Und Sie sind rheinischer Katholik. Das ist auch noch mal etwas anders als der Katholik?
Lamers: Ja, das glaube ich schon. Das glaube ich schon. Ich bin in einem durch und durch katholischen Umfeld aufgewachsen. Die wenigen evangelischen Christen in meiner Gemeinde waren etwas am Rande. Ich bin dann neun Jahre bei den Jesuiten in Godesberg zur Schule gegangen. Auch das hat mich stark geprägt. Habe dort übrigens keine unangenehmen, sondern nur angenehme Erfahrungen gemacht. Was mich am Katholizismus immer begeistert hatte, ist, dass sie keine nationale, sondern eine universale Einrichtung ist und natürlich in erster Linie eine europäische, aber immer auch offen für die ganze Welt.
Welter: Am 11. November 1935 in Königswinter geboren, das steht also als markanter Ausgangspunkt in Ihrem Lebenslauf. Da steht aber auch, dass Sie Ihren Vater im Zweiten Weltkrieg verloren haben. Ich vermute, das prägt kaum weniger als die rheinische Herkunft.
Lamers: Ja. Mein Vater war für mich von größter Bedeutung, und obwohl oder gerade weil ich ihn wenig gesehen habe – Düsseldorf war damals von Königswinter weit entfernt, und er kam nur am Wochenende nach Hause –, hat er einen prägenden Einfluss auf mich ausgeübt, sowohl sein Verhältnis zur Natur wie zur Literatur, und dann vor allen Dingen auch zur Geschichte, und Geschichte ist vergangene Politik. Wir haben oft schon damals über Geschichte gesprochen. Ich vergesse das nie, so manche Begebenheit. Ich glaube, dass deswegen mein politisches Engagement mindestens dadurch stark beflügelt worden ist.
Welter: Und in der Tat, Sie sind noch vor dem Abitur in die CDU eingetreten, 1955. Sie haben es schon angedeutet: Hat Ihre private Lebenssituation da den Ausschlag gegeben oder gab es da noch anderes? Und warum die CDU?
Lamers: Es war so: Wir hatten einen Geschichtslehrer, der es sich leider ein bisschen leicht machte und ab und zu mich, der ich auch damals schon Klassensprecher war, dann bat, regelmäßig bat, zu Politik zu sprechen, und das wurde dem damaligen Vorsitzenden der CDU in Godesberg bekannt, und der hat mich dann eingeladen und für die Junge Union gekapert, aber das war auch nicht schwer. Vielleicht war das gar nicht so gut, dass ich so früh in die Politik gegangen bin.
"Mich interessierte nur das eine – wie geht es weiter mit Deutschland"
Welter: Warum?
Lamers: Weil andere Dinge darunter gelitten haben, einschließlich meiner beruflichen Ausbildung. Das interessierte mich alles nicht. Es ist schlimm. Mich interessierte nur das eine – wie geht es weiter mit Deutschland. Insofern war ich natürlich beeinflusst durch die damalige Situation in unserem Lande.
Welter: Sie haben es angedeutet: Sie haben Ihre berufliche Laufbahn in eine Richtung und nur in die eine Richtung gelenkt, und das heißt, Sie haben das zweite juristische Staatsexamen dann nicht mehr gemacht. Das Erste haben Sie gemacht. Das bedeutet, Sie waren sich ganz sicher, dass das der Weg sein würde.
Lamers: Ja. Meine Frau war nicht gerade begeistert, als ich ihr das eröffnete. Es interessierte mich aber nicht. Vor allen Dingen konnte ich nicht … als Referendar hat man das Gefühl, auf der Schulbank zu sitzen. Das war irgendwie für mich schwer erträglich.
Es ist sicher nicht besonders klug gewesen, aber auch mit so einem Examen hätte ich nichts anders gemacht. Davon bin ich überzeugt. Ich habe mir auch immer gesagt, wenn man etwas macht, muss man es ganz machen, und für die Politik gilt das ganz besonders. Allerdings wird man auch leicht von ihr gefressen. Das ist auch wohl wahr. Ich behaupte nicht, dass ich einen sehr zielstrebigen, gradlinigen und von Anfang an erfolgreichen Weg gegangen bin, überhaupt nicht, aber ich habe dadurch, so glaube ich jedenfalls, gelernt, und als Endergebnis ist vielleicht was halbwegs Brauchbares dabei rausgekommen.
Welter: Aber ich höre raus, Sie wollten etwas verändern. Sie wollten etwas bewegen in den Gründerjahren, sozusagen in die CDU, das heißt, Sie hatten sich auch richtig was vorgenommen.
"Die Frankfurter Auschwitzprozesse haben mich tief erschüttert"
Lamers: Ja, und insofern war ich natürlich ein typisches Produkt der Situation des Zeitgeistes, aber in einem ganz neutralen oder gar positiven Sinne. Ich glaube, die Deutschen hatten nach 1945 begriffen, dass es so nicht weitergeht, und wir waren total am Ende. Deutschland war militärisch besiegt, wirtschaftlich am Boden, seiner freien Selbstbestimmung, seiner Souveränität entgleitet, und vor allen Dingen waren wir moralisch am Ende, am Boden.
Das hat die Zeit damals bestimmt, auch wenn es ja eine Zeit lang dauerte, bis sich Deutschland mit seiner Vergangenheit auseinandersetzte. Das ist wie nach einem Unfall. Dann ist man … hat man den berühmten Blackout, aber dann haben mich beispielsweise die Frankfurter Auschwitzprozesse sehr tief beeindruckt und erschüttert. Ja, so habe ich mir gesagt, das darf nie mehr kommen. Von daher ist auch beispielsweise mein europäisches Engagement jedenfalls sehr wesentlich mit zu beurteilen.
Heute sehe ich, Frau Welter, dass indem wir uns damals nichts mehr vorgemacht haben, nichts mehr vormachen konnten, wir einen großen Vorteil haben gegenüber unseren Nachbarn und etwa auch gegenüber Russland, wo die Schuld immer bei den anderen gesucht wird. Nein, wir haben gesagt, wir waren es, wir waren es, wir die Deutschen, die verloren haben, anders als 1918, "im Felde unbesiegt", und wir waren es, die diese unglaublichen Verbrechen begangen haben. Wir haben uns nichts mehr vorgemacht.
Welter: Mit der CDU haben Sie auch eine Partei gewählt für Ihre Heimat, Ihre politische Heimat, die für die deutsch-französische Aussöhnung stand damals schon. War das auch ein Faktor?
Lamers: Oh ja! Als Rheinländer ist man ja, wie oberflächlich gesagt wird, auch Franzose, und wenn Napoleon nicht den Unsinn begangen hätte, nach Moskau zu marschieren, bin ich überzeugt, dass wir heute zu Frankreich gehörten. Eben weil ich sehr stark immer nach den geschichtlichen Wurzeln gesucht habe, war mir auch immer klar schon, dass wir, ja, die Rheinländer und die Franzosen lange Zeit, über viele Jahrhunderte, einen gemeinsamen Herrschaftsbereich angehört haben, und ich mache keinen Hehl daraus, dass das mein Selbstwertgefühl durchaus gestärkt hat, dieses Wissen, dem ältesten Teil unseres Landes anzugehören.
Welter: Da spricht der Karolinger Karl Lamers.
Lamers: Na ja, das ist mir oft gesagt worden ein bisschen spöttisch und so mancher auch anerkennend. Ich habe damit keine Schwierigkeiten. Karl der Große war ohne jeden Zweifel eine ganz überragende Figur, nicht nur für Deutschland, sondern auch für Frankreich, für ganz Europa. Er war ein Staatsmann, wenn auch mit manchen brutalen Zügen, wenn man an die Sachsenkriege denkt.
"Die Parteien sind Rivalen in der politischen Auseinandersetzung, aber es sind doch keine Feinde, und dieses Lagerdenken, das ist nicht meine Vorstellung von Demokratie."
Der Politiker
Welter: Zu Ihrem politischen Engagement, Karl Lamers – Sie haben es gerade schon angedeutet –, Politik ist ein hartes Geschäft und Sie haben sich dafür entschieden. War Ihnen das vorher klar, dass Politik hart sein kann, dass man da auch ganz schön einstecken können muss?
Lamers: Nein, nicht völlig … also theoretisch wohl, aber in der Praxis sieht es dann anders aus.
Welter: Das ist noch härter.
Lamers: Ich habe manche Niederlagen einstecken müssen, aber was mich nicht umwirft, macht mich stärker, und das gehört einfach dazu. Ich habe eine so großartige Frau, die mir geholfen hat, wie wir uns übrigens über die Politik kennengelernt haben.
Welter: Tatsächlich?
Lamers: Ja, ja!
Welter: Wie ging das?
Lamers: Sie war auch in der Jungen Union in Godesberg. Ich habe sie einmal da erlebt, wo sie einen Angriff gegen den amtierenden Kreisvorsitzenden führte. Das hat mich so beeindruckt, dass ich mir gesagt habe, das Mädchen guckst du dir mal näher an!
Welter: Das hat bis heute gehalten.
Lamers: Das hat bis heute gehalten, ja. Welch ein Glück.
Welter: Sie haben gesagt, Sie mussten einstecken. Sie haben Niederlagen angesprochen. Sie haben drei Anläufe gebraucht, um in den Bundestag gewählt zu werden. Sie waren vorher auf Landesebene sehr erfolgreich, aber auf Bundesebene, das hat ein bisschen gedauert. 1972, 1976 und dann 1980 hat es geklappt. Woran scheiterte das bei den ersten beiden Versuchen? Man sagt, Sie hätten sich nicht nur Freunde gemacht, auch, weil Ihre Art, Dinge offen anzusprechen, nicht überall so richtig gut ankam.
"Niederlagen waren für meine eigene Entwicklung notwendig und gut"
Lamers: Na ja, also das ist sicher ein Element, dass ich also, wie man das in der Jugend ist, nicht mit allem einverstanden war und auch sicherlich in vielen Fällen zu Recht, sicherlich nicht in allen, aber es kommt ja in der Politik nicht nur auf das Was, sondern auch auf das Wie an, und ob das immer so besonders klug war, das weiß ich nicht.
Ich war vielleicht nicht – wie soll ich sagen –, nicht gesettled genug, nicht seriös genug, nicht bürgerlich genug. Ich kann das alles verstehen, und das ist eine große Versuchung, im Nachhinein alles positiv zu deuten, aber ich bin auch heute noch wirklich davon überzeugt, dass es für meine eigene Entwicklung notwendig und gut war.
Welter: Also Sie blicken nicht mit Zorn oder –
Lamers: Überhaupt nicht.
Welter: – anderem zurück.
Lamers: Nein, nein, nein.
Welter: Und nun haben Sie auch im Landesverband Rheinland – ein durchaus wichtiger Landesverband – auch Einfluss ausüben können.
Lamers: Ja. Da habe ich einiges bewirkt. Natürlich drehte es sich immer auch um Personen. Wir hatten zeitweilig eine politische Führung – ich sage das mit der notwendigen Zurückhaltung –, die nicht besonders überzeugend war. Dann hatten wir auch noch den Streit zwischen Rheinland und Westfalen. Längst vergessen - völlig unverständlich heute, aber damals war es so.
Ich habe nicht, glaube ich, unwesentlich dazu beigetragen, dass wir dann uns einen Spitzenkandidaten holten, der aus einem anderen Landesverband kam – Heinrich Köppler –, mit dem wir bei der letzten Wahl, bevor er im Wahlkampf ja an einem Herzinfarkt gestorben ist, 48 Komma so und so viel Prozent der Stimmen bekommen haben in Nordrhein-Westfalen. Das muss man sich vorstellen. Das klingt heute ganz unglaublich, und darauf war ich natürlich ganz stolz.
Was wir damals auch als Junge Union durchgesetzt haben, das war in der Tat meine Idee, war die Etablierung eines Generalsekretärs in der CDU. Den gab es nicht immer. Das war auch damals dringend notwendig. Die Vorsitzenden waren Kanzler und waren damit mehr als genügend befasst, und darunter litt etwas die Partei. Also das war auch ein kleiner Erfolg, wenn man so will.
Welter: Nun haben Sie ja in den 70er-Jahren, dann noch nicht im Bundestag, haben Sie sehr wichtige Etappen miterlebt. Also von Brandts Kniefall in Warschau, seinen Rücktritt später, das Attentat von München, der Deutsche Herbst, um nur ein paar Punkt zu nennen, bis hin zum NATO-Doppelbeschluss dann später und die aufkommende Friedensbewegung. War das für Sie schwierig, Etappen dieser Qualität, dieser Größenordnung – heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, weil wir fast täglich eine solche Lage haben, aber damals ging die Welt noch nicht so schnell –, war das für Sie schwierig, da noch so ein bisschen an der Seitenaußenlinie zu stehen?
"Willy Brandt hat diesem Land zu großem Ansehen verholfen"
Lamers: Ja, sicher. Ich hätte schon lieber direkt mitwirken können, aber natürlich habe ich an diesen Auseinandersetzungen ganz lebhaften Anteil gehabt, genommen, und ich glaube, dass das auch so etwas wie Häutungsprozesse der jungen Bundesrepublik gewesen sind.
Damals war ich wirklich auch einmal traurig und entsetzt, als Adenauer, den ich tief verehrte, diesen Satz sagte, Willy Brandt alias Frahm, das war nicht in Ordnung, um es ganz vorsichtig zu sagen. Man kann über solche Gesten wie den Kniefall von Brandt in Warschau denken, was man will, es war aber ein ehrlich gemeinter, es kam ihm aus dem Herzen. So haben es die Polen ja auch empfunden. Er war sicherlich … er ist ja auch schließlich gescheitert an seiner eigenen Partei und seinen Schwächen, aber er war trotzdem für die junge Bundesrepublik etwas Neues, und er hat diesem Land zu großem Ansehen auch in Schichten verholfen und in Ländern, wo wir noch nicht so angesehen waren.
Das führt mich überhaupt zu einem Punkt, den ich immer bis heute als wichtig ansehe: Die SPD, damals eigentlich die einzige wirkliche große Konkurrentin, die kam für mich nicht infrage, weil sie A zu Beginn der Bundesrepublik mehr nationalistisch als europäisch war – abgesehen von dem Milieu, von dem ich eben gesprochen habe, in dem ich groß geworden bin –, aber ich habe sie nie als Gegner empfunden, sondern die Parteien sind Rivalen in der politischen Auseinandersetzung, sie wetteifern um die besseren Konzepte, für die Lösung der existenziellen Probleme unserer Gesellschaft, aber es sind doch keine Feinde, und dieses Lagerdenken, das ist nicht meine Vorstellung von Demokratie.
Welter: Aber da kann man es dann schwer haben in der Politik. Sie haben die Ostpolitik Willy Brandts geschätzt, gemocht. Das hat Ihnen den Beinamen roter Karl eingebracht. Also damit hatten Sie es in der CDU schwer.
Lamers: Also den Beinamen, das meinen fast alle - ist aber entstanden durch meinen Einsatz für die Mitbestimmung.
Welter: Okay, gut. Dennoch stimmt: Die Ostpolitik Willy Brandts fanden Sie gut.
Lamers: Ja, natürlich, ja. Ich habe das auch für richtig gehalten. Ich habe es für notwendig gehalten aus 1000 Gründen, auch der Realpolitik, aber auch aus Gründen, die nur in der Geschichte liegen, wie wir dieses Land behandelt haben, Russland. Das gehörte ja mit zu den großen Verbrechen, und deswegen war es ja unerlässlich, aus beiden Gründen, aus realpolitischen wie aus solchen der Geschichte, dass wir auch versuchten, nach Osten die Hand der Versöhnung auszustrecken. Deswegen, das war nicht richtig, was meine Partei damals gemacht hat. Das war falsch. Das kann doch vorkommen. Die SPD hat auch viele Fehler gemacht.
"Demokratie lebt von der öffentlichen Auseinandersetzung"
Welter: Und Sie haben es nicht nur gedacht, Sie haben es auch gesagt.
Lamers: Ja, gut, also die Demokratie lebt von der Auseinandersetzung und zwar von der öffentlichen Auseinandersetzung. Wir sind ja auch dafür abgestraft worden. Ja, das ist so.
Welter: Dann will ich doch noch auf den Spitznamen roter Karl zu sprechen kommen, Karl Lamers, das war sozusagen Ihr Engagement auch im CDA. Das war der rheinische, katholische Sozialismus, dem Sie auch nahestanden.
Lamers: Ja. Ich war wirklich davon überzeugt, dass wir unbedingt versuchen müssten, eine liberale Wirtschaftsordnung mit einer solidarischen Gesellschaftsordnung zu verbinden, und das ist ja auch das, worum es heute in Europa geht, das beides miteinander zu vereinbaren unter den Bedingungen der Globalisierung.
Sehr, sehr schwierig, aber darauf kommt es an, und zwar einmal wirklich aus moralischen Gründen, aus Gründen der Gerechtigkeit, aber auch weil wir doch wissen, wenn die Spanne zwischen den Reichen und den Nicht-Reichen, so sage ich ganz bewusst, zu groß wird, dann ist, unbeschadet aller Gerechtigkeitsüberlegungen, die Gefahr groß – nein, sie tritt mit Sicherheit ein –, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft auseinandergeht.
Welter: Wann ist denn die sozialpolitische Kraft, die auch die CDU mit der CDA hatte, wann ist die denn unter die Räder der Globalisierung gekommen?
Lamers: Ich müsste sagen, Sie ist nicht völlig drunter gegangen, nicht wahr, und …
Welter: Aber man nimmt sie nicht mehr so recht wahr.
Lamers: Ja, man nimmt sie nicht mehr so recht wahr. Das liegt natürlich auch daran im Augenblick, dass wir die Große Koalition haben und die sozialen Leistungen, die in der Legislaturperiode gebracht worden sind, auf Initiative der SPD … aber beispielsweise der Mindestlohn, was ist eigentlich dagegen zu sagen, frage ich Sie. Es redet ja auch kein Mensch. Es funktioniert ja.
"Wir brauchen auch ein Globalprinzip der politischen Macht"
Welter: Aber der Widerstand war lange groß in der Union.
Lamers: Der Widerstand war lange groß. Ich halte das für verfehlt, aber ich glaube, insgesamt leidet eben die Sozialpolitik unter dem, was wir Globalisierung nennen. Dieses Wort ist eigentlich nicht richtig, denn Globalisierung bezeichnet ein Geschehen, einen Prozess, wir haben aber längst ein Ergebnis dieses Prozesses, nämlich eine überstaatliche Wirklichkeit, gerade, aber nicht nur im Bereich der Wirtschaft, und das Problem ist doch, dass die Politik nach wie vor territorial begrenzt organisiert ist, das Territorialprinzip von Macht ist der Kern dieses Organisationsprinzips eben.
Das Problem ist aber, dass wir erstens diese übernationale, überstaatliche Wirklichkeit noch nicht ausreichend auf der europäischen Ebene in einer gemeinsamen Politik bändigen und zweitens, dass diese Globalisierung, diese überstaatliche Wirklichkeit weit über Europa hinausgeht. Deswegen sage ich immer Europa reicht natürlich nicht.
Wir brauchen auch ein Globalprinzip der politischen Macht, aber damit wir auf der globalen Ebene mitreden können, brauchen wir doch ein starkes, ein einiges Europa. Wer das jetzt nicht begreift, auch angesichts des Aufkommens neuer Mächte, für die China nur das Synonym ist, dem ist mit Verlaub nicht zu helfen. Das ist meine eigentliche Sorge: Dieses sich die nationale Decke über den Kopf ziehen – in Frankreich und
"Krisen – derzeitig haben wir zweifelsfrei eine tiefe Krise, sind der Entwicklungsmodus solcher politischer Großprojekte."
Der Europäer
Welter: Wir reden gleich noch über Europa, Karl Lamers, und in gewisser Weise auch jetzt mit der Frage, die ich Ihnen stellen will: Sie habe noch vor dem Fall der Mauer 1989 17 Überlegungen zur politischen Neuordnung Europas vorgelegt. Hatten Sie den Mauerfall schon auf der Rechnung?
Lamers: Ja. Also dass das nicht ewig halten würde, davon war ich überzeugt, und, wissen Sie, auch aus einem Grunde, der sehr allgemein klingt, aber die tiefste Ursache, nach meiner Überzeugung, für den Niedergang der Sowjetunion, für den Zusammenbruch in einer Weise, die ja weltgeschichtlich einmalig ist: Sie haben versucht, eine isolierte Entwicklung zu forcieren. Das ist ihnen nicht gelungen. Das gelingt ihnen bis heute nicht.
Ich bin zwar nach wie vor der Meinung, dass das Wort von Helmut Schmidt von der Sowjetunion, sie sei ein Obervolta mit Raketen, diplomatisch, politisch nicht klug war, aber es traf den Nagel auf den Kopf. Es traf den Nagel auf den Kopf, und deswegen habe ich in der Tat nicht daran geglaubt, dass die Sowjetunion Bestand haben würde oder dass sie gar in der Lage sein würde, ganz Europa zu beherrschen. Da habe ich keine Minute dran geglaubt. Natürlich, im Nachhinein hat man Recht behalten, dann ist man noch geneigt, zu denken, man hätte auch immer schon so gedacht, ja, aber ich habe so gedacht. Mir war klar, dass die Militärmacht der Sowjetunion gewaltig war und bedrohlich war, alles richtig, aber das alleine entscheidet ja auch nicht in der Politik.
Welter: Sie haben in vielem recht behalten, Karl Lamers, Sie sind aber zweifellos auch in vielem enttäuscht worden. Sie haben für eine neue NATO geworben damals, Sie haben sich mehr europäischen Aufbruch gewünscht, auch in sicherheitspolitischen Fragen, als der Außenpolitiker, der Sie immer waren, der Sie sind – wenn Sie das von heute aus betrachten, wenn sich nicht alles damals dann mit Helmut Kohl und Francois Mitterrand auf die Währungsunion, auf den Euro konzentriert hätte nach dem Fall der Mauer, nach der Wende, stünden wir heute dann vielleicht anders da. Hätte man die Akzente anders setzen müssen?
"Die Krise in Europa ist auch eine Chance ist, uns zu besinnen"
Lamers: Tja, sicher wäre das wünschenswert gewesen, aber es war nicht möglich. Die Währungsunion allerdings war möglich, und sie hing nur von uns ab. Alle wollten sie. Es ging ja auch darum, dieses wiedervereinigte Deutschland einzuhegen. Denken Sie vor allen Dingen an Maggie Thatcher.
Deswegen war das richtig und notwendig, dass die Währungsunion in ihrer Ausgestaltung unvollständig ist. Das sehen wir jeden Tag, und bald wird die Diskussion ja auch beginnen, wie wir dieses Europa jetzt weiterentwickeln. Ich bin in der Tat fest davon überzeugt, dass alle Vorschläge, die sich auf die Wirtschafts- und Währungsunion beziehen, also nicht nur auf die Ausgaben, sondern auf die Einnahmeseite der Politik ausgedehnt werden muss.
Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn wir auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik einen größeren Fortschritt erzielt hätten, und so sehr wir ja ohne jeden Zweifel derzeitig uns in einer Krise in Europa befinden, ich glaube, dass das auch eine Chance ist, uns zu besinnen und uns zu fragen, brauchen wir nicht auch auf diesem Felde mehr. Es gibt ja Anzeichen dafür. Auf dem Gebiet der Sicherheits…, der inneren Sicherheit – aber was heißt heute innere Sicherheit, innen und außen verschwimmen eben, aber auf dem, was man so bezeichnet, gibt es ja auch diese Zusammenarbeit.
Da ist die Notwendigkeit so eklatant durch die Attentate von Paris und Brüssel uns so drastisch vor Augen geführt worden, dass das doch wirklich begonnen hat, einschließlich der Zusammenarbeit der Geheimdienste und wir nun endlich mal aufhören sollten, uns wechselseitig zu beschnüffeln. Das ist so verrückt. Um die Denkweise französischer Beamten zu erfahren, brauche ich nicht den BND, so sehr ich seine Notwendigkeit im Übrigen natürlich anerkenne. Also es kommt, und so sehr auch ich der Überzeugung bin, dass wir uns bei der Intervention in anderen Ländern, der militärischen Intervention zurückhalten müssen, es kann eine Situation geben, wo es notwendig ist. Da können wir uns dann auch nicht drücken.
Welter: Ich will doch noch mal zurückspringen, weil Sie vorhin etwas angedeutet haben: Damals wollten alle die Währungsunion. In der Tat, Mitterrand sah Sachsen und Preußen wieder auferstehen. Man musste was anbieten. Heute kann man das kaum noch vermitteln, dass damals die anderen die Währungsunion wollten und nicht wir, Deutschland also. Wie ist das damals gelaufen?
Die Anfangsfehler, die gemacht wurden, haben sich gerächt, und man sieht heute, dass manches Land vielleicht doch nicht so schnell in die Währungsunion gesollt hätte. Sie waren damals, wenn ich mich richtig erinnere, nicht dafür, dass Italien reinkommen sollte. Wie ist das gelaufen? Sie waren der außenpolitische Sprecher, viele in Europa dachten, Sie seien der Außenminister von Helmut Kohl, weil Sie viel Einfluss hatten. Wie ist das gelaufen?
Lamers: Dieses Image, ich sei nicht für die Mitgliedschaft Italiens in der Währungsunion, das ist total falsch. Das stimmt überhaupt nicht. Ich war damals sehr oft in Frankreich, sehr oft, aber noch öfters in Italien. Eine kleine Anekdote: Damals war Prodi Premier in Italien, und er hat in einem zweistündigen Gespräch in dem prachtvollen Palazzo Chigi mir in seinem nuscheligen Englisch seine Klagen erzählt, wie schwer er es doch hätte und wieso Italien unbedingt da reinmüsste. Also ich habe akustisch nicht alles verstanden, aber was er meinte, habe ich sehr wohl verstanden, und natürlich habe ich das Helmut Kohl erzählt, deswegen hatte Prodi es mir ja auch gesagt.
Na ja, in einem Spaziergang am Rhein habe ich das dem Kanzler alles erzählt, und er sagte und sagte und sagte nichts, und ich wiederholte immer wieder dasselbe. Dann fuhr er mich schließlich an, halt doch den Mund, natürlich gehören die dazu, aber sage es keinem.
Welter: Also Italien sollte rein.
Lamers: Ja, natürlich. Das ging auch nicht anders. Es ging nicht anders. Ich bin schon nicht gerade glücklich darüber, dass das, wozu sie sich damals verpflichtet haben, zum großen Teil nicht gemacht haben. Erst jetzt hat Renzi angefangen, einiges umzusetzen. Sie haben die dadurch verbilligten Zinsen durch die Mitgliedschaft in der Währungsunion nicht dazu genutzt, um jetzt Reformen zu machen. Das ist doch der eigentliche Zweck der Ausgestaltung der Währungsunion. Das haben wir auch seinerzeit, Schäuble und ich, noch mal gesagt: Ihr sollt ein großes Reform- und Genesungsprogramm der europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften machen, das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sollte gestärkt werden.
Welter: Sie haben den Namen Schäuble genannt, und ich muss auf das Papier zu sprechen kommen, das berühmte Schäuble-Lamers-Papier, das wo jetzt gerade ist? Gibt es das noch?
Der "magnetische Kern" Europas
Lamers: Das Papier? Ja, natürlich gibt es das noch, nicht wahr, und das ist nach wie vor richtig. Es sahen ja auch viele … also glauben Sie, schon voriges Jahr, als die Griechenkrise auf dem Höhepunkt war, habe ich wie viele Interviews gemacht, auch mit ausländischen Zeitungen, europäischen, wo ich danach gefragt wurde.
Der Gedanke ist ja im Grunde ganz einfach: Wir wollten die Wirkung zeigen, die von einem festen Kern ausgeht. Das ist nämlich eine magnetische Wirkung. Vielleicht hätten wir das besser noch hinzugesetzt. Wir haben auch nicht "harter Kern" gesagt, sondern "fester Kern". Leider ist es im Englischen mit hard core und im Französischen mit noyau dur übersetzt worden – mein Fehler. Ich hätte das vielleicht erkennen müssen bei der Durchsicht der Übersetzung. Also das ist auch jetzt noch besonders deutlich, weil wir sehen, dass wir ja in Europa das Problem der Ungleichzeitigkeit haben.
Die Erfahrungen der Länder, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die Europäische Union aufgenommen werden konnten, sind ja ganz andere als die Erfahrungen, die wir in den Jahrzehnten nach 1945 gemacht haben, machen konnten und auch machen mussten, und dass sie nicht zu allem bereit sind, mitzugehen, noch nicht, wozu wir bereit sind, bis jetzt jedenfalls waren, nicht mehr ohne Weiteres die öffentliche Meinung in unseren Ländern. Das ist nur allzu verständlich. Also brauchen wir so etwas.
Die Idee, die dahintersteckt, ist im Grunde ganz einfach. Wissen Sie, wenn eine ausreichend große Gruppe von Ländern mit einem ausreichend großen Gewicht eine gemeinsame Politik macht, dann wird der Bewegungsspielraum der anderen immer eingeengter.
Welter: Aber woran sind Sie damals gescheitert, Herr Lamers? Sie sind '94 mit dem Papier nach Paris und …?
Lamers: Ja, die Franzosen, haben mir nachher manche gesagt, ich glaube, euch ist gar … dass er bedauert, dass die Franzosen nicht genügend drauf eingegangen sind, aber der Gedanke ist ja nicht weg.
Welter: Wie lief das ab damals?
Lamers: Wie lief das ab – also große Aufregung war zunächst, auch in der Bundesregierung, der damalige Außenminister, den ich menschlich sehr schätze, Kinkel hat gesagt, das sei Kernspaltung Europas. Also mit Verlaub, nein.
In Paris, auf das ja dieses Papier in erster Linie zielte – wir haben ja auch gesagt, der Kern des Kerns sind eben Frankreich und Deutschland, wer wollte das bestreiten –, dadurch fühlten sie sich natürlich einerseits geschmeichelt, aber andererseits war wohl doch auch die Angst, dass sie – ich weiß nicht, ich versuche, mich vorsichtig auszudrücken –, sie vielleicht von diesem Deutschland, das wieder so stark schien nach der Wiedervereinigung, eben noch stärker nicht erdrückt werden könnten, aber doch zu sehr beengt werden könnten in ihren freien Entscheidungen.
Es war zweifelsfrei ein Fehler, aber der Gedanke, wie gesagt, lebt ja noch, und ich glaube, dass es jetzt – unbeschadet der Frage, wann welche konkreten Schritte für die weitere Integration gegangen werden sollen und gegangen werden können, die einzig doch vorherrscht – wir haben nur gemeinsam eine Chance. Und Krisen – derzeitig haben wir zweifelsfrei eine tiefe Krise, und ich glaube, sogar die ernsteste von den vielen, die wir gehabt haben –, Krisen sind der Entwicklungsmodus solcher politischer Großprojekte.
"In einer Welt, die immer mehr zu einer wird, kann man nicht sagen, das interessiert uns nicht, ich ziehe mich zurück in mein nationales Schneckenhaus. Das ist der Anfang vom Untergang."
Der Zeitgenosse
Welter: Die handelnden Personen spielen ja auch immer eine Rolle. Damals war es ein Schäuble-Lamers-Papier, heute ist Schäuble im Kabinett derjenige, der als Europäer gefeiert wird oder jedenfalls wahrgenommen wird. Was ist mit der Kanzlerin, mit Angela Merkel? Kann sie – an ihrer Seite Francois Hollande in Frankreich –, kann sie diese gestalterische Kraft aufbringen?
Lamers: Also ich mache keinen Hehl draus, dass ich nicht so von vornherein von Angela Merkel, gerade was die europäische Orientierung angeht, überzeugt bin, aber ich glaube, sie hat gelernt und begriffen, dass wir nur gemeinsam eine Zukunft haben können, und sie hat es verstanden, so mit dem Sarkozy – Klammer auf, was, weiß Gott, nicht leicht ist – wie auch mit Francois Hollande ein gutes Verhältnis zu entwickeln, und sie hat auch die Enttäuschung überwunden, dass Frankreich sich schwertut bei der Übernahme auch eines Teils der Flüchtlinge.
Das zeigt mir, dass sie verstanden, dass Frankreich insofern überfordert ist. Frankreich steckt ja mit den Flüchtlingen, die ehemals aus Algerien und Nordafrika gekommen sind, in einer … das ist ein nichtintegrierter Teil der französischen Gesellschaft, und sie können nicht noch mehr verkraften. Die "Libération", Frau Welter, ein linksliberales Blatt, hat, als Angela Merkel die Tore geöffnet hat für die Flüchtlinge gesagt, Angela Merkel hätte die Ehre Europas gerettet.
Welter: Ja, allerdings hat dieser Zuspruch nicht so lange gehalten.
Lamers: Nein.
Welter: Das heißt, die Kritik war auch in Frankreich dann recht schnell sehr groß, und auch "Libération" hat geschrieben irgendwann dann mal im Verlaufe der Zeit, dass Angela Merkel auch eine Marine Le Pen stark gemacht habe.
"Wir müssen uns zusammenraufen, sonst sehe ich keine Zukunft für uns"
Lamers: Ja, das ist natürlich eine Verkürzung. Das größte Bauwerk der Welt ist bekanntlich die chinesische Mauer. Was sollte sie bewirken – die Mongolen abzuhalten, die übrigens nicht aus Kampfeslust getrieben waren, sondern auch aus Hungersnöten. Die haben auch die Chinesische Mauer überwunden. Das Flüssige ist immer erfolgreicher als das Harte. Wo wir schon bei China sind – die haben ein wunderschönes Wort: Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen. In diesem Sinne finde ich, müssen wir diese Herausforderung, die es zweifelsfrei ist, angehen.
Unbeschadet all der Schwierigkeiten, die das macht, ja auch uns macht – obwohl es ja schon jetzt seit einiger Zeit viel besser läuft mit der Aufnahme der Flüchtlinge, und es wird auch mit der Integration besser werden, es ist schon zum Teil besser geworden –, es ist ja doch auch so: Selbst wenn sie, wie Frauke Petry gesagt hat, an der Grenze schießen, die Menschen kommen, und wenn wir in einer solchen Situation wären, dann würden wir uns auch auf die Wanderung begeben.
Das, glaube ich, dauert eine Zeit lang, bis sich das allgemein im Bewusstsein festgesetzt hat, und dann werden wir uns zusammenraufen, und wenn wir es nicht tun, dann sehe ich keine Zukunft für uns, wirklich nicht. In einer Welt, die immer mehr zu einer wird, kann man nicht sagen, das interessiert uns nicht, ich ziehe mich zurück in mein nationales Schneckenhaus. Das ist der Anfang vom Untergang. Letztlich ist es eine Frage, ob wir die Kraft aufbringen. Es ist eine Herausforderung, die ernster ist als die anderen. Ja, es ist eine Herausforderung auch unserer innersten Überzeugungen, wie sie in der Demokratie zum Ausdruck kommen.
Der Volksentscheid in Großbritannien: eine Riesentorheit
Welter: Die Gleichzeitigkeit der Krisen, der großen Krisen, der kleineren, der Herausforderung für Politiker von heute – haben Sie Verständnis, dass sie manchmal auch nicht mehr recht wissen, wo lang?
Lamers: Ja, natürlich habe ich dafür Verständnis. Also erstens haben natürlich die Politiker immer die größere Verantwortung – das ist keine Frage –, und welchen Unsinn der Souverän, das Volk anrichten kann, das haben wir gerade in Großbritannien erlebt. Normalerweise sollen Volksentscheide befrieden. Das Gegenteil ist eingetreten, aber natürlich – die Politiker haben das veranlasst, dass es dazu kommt. Deswegen, sie haben die größere Verantwortung.
Welter: Finden Sie es richtig oder wie stehen Sie dazu, dass zum Beispiel auch die nächste Generation der konservativen Politiker in Frankreich – ich nenne Bruno Le Maire – sagen, jemand, der Deutschland gut kennt, sagen, wenn ich Präsident werde, lasse ich auch die Franzosen abstimmen, ob sie dieses Europa, so wie es ist, wollen oder nicht? Also das wird in Großbritannien womöglich, Herr Lamers, nicht die letzte Abstimmung gewesen sein, die letzte Volksabstimmung, die wir gesehen haben.
Lamers: Also, ich sage es mal zynisch: Dann muss er nur den richtigen Zeitpunkt abwarten, wo er abstimmen lässt, dann ist es ja in Ordnung. Wenn man sicher sein kann, dass wirklich eine Befriedung stattfindet durch einen Volksentscheid, dann ist es ja okay. Wenn man aber in einer solchen Situation, wie jetzt in Großbritannien, das möglicherweise bald Kleinengland heißt, nicht wahr, abstimmen lässt, dann ist das eine Riesentorheit.
Ich hoffe, dass Bruno Le Maire diese Torheit nicht begeht. Es ist allerdings riskant, was er gesagt hat. Hat er denn eine Alternative für Europa? Er hat sie nicht. Niemand hat das, niemand hat das. Und zu sagen, Stillstand oder gar Rückkehr zu früheren Verhältnissen, ist unmöglich. Der Zeitpfeil geht nur in eine Richtung. Es geht nicht anders. Ob wir wollen oder nicht. Ja, Einsicht in die Notwendigkeit.
Welter: Und Windmühlen bauen.
Lamers: Und Windmühlen bauen.
Welter: Karl Lamers, zum Schluss: Erinnern Sie sich an Ihre letzte Bundestagsrede, September 2002?
Verbrechen an den Juden ist von konstitutiver Bedeutung für mein politisches Bewusstsein
Lamers: Ich weiß gar nicht mehr, was meine letzte Rede war. Ich weiß aber, dass eine der Letzten zu Israel war. Das hat mich sehr getroffen. Ich hatte ein Interview gemacht, und da einige kritische Bemerkungen zur israelischen Politik gemacht, und da habe ich Dinge erlebt, die mich sehr geschmerzt haben, denn das Vergehen, das Verbrechen an den Juden, das ist für meine ganze Generation natürlich von gar zu konstitutiver Bedeutung für mein politisches Bewusstsein gewesen. Ich weiß noch, als die Israelis siegten im Jom-Kippur- und im Sechs-Tage-Krieg, da habe ich gejubelt.
Aber was sich heute in Israel abspielt, ich will das gar nicht im Einzelnen und schon mal gar nicht moralisch bewerten, obwohl man davon natürlich nicht absehen kann – das kann nicht gut gehen. Das Gesetz der Zahl spricht dagegen. Und wenn man dann subkutan und offen als Antisemit bezeichnet wird, und damals hatten wir eine Debatte im Bundestag, und dann hat ein junger SPD-Abgeordneter aus München, hat gerufen, Herr Lamers ist kein Antisemit. Ja, da hatte ich Tränen in den Augen. Das war das, was mich in meinem ganzen politischen Leben bewogen hat und natürlich auch, weil dieser junge Kollege das dann sagte, auch wieder glücklich gemacht hat.
Welter: Gut, dass das jemand klarstellte.
"So schlecht haben wir Deutschen es nach 1945 nicht gemacht"
Lamers: Ja, und zwar aus einer anderen Partei, die auch zeigte, wo mir klar war, das war nicht eine parteipolitische Angelegenheit, sondern das war unser gemeinsamer Standort. Ich hoffe nur, dass wir Deutsche da uns besonders zurückhalten, ist richtig. Manchmal denke ich allerdings, wären wir auch die Einzigen, die etwas sagen könnten und müssten.
Ich hoffe, dass es zumindest in camera caritatis geschieht. Bin leider nicht so ganz sicher. Nun kommen junge Juden nach Berlin. Mein Gott, wer hätte das für möglich gehalten. Ich kann nur sagen, so schlecht, glaube ich, haben wir Deutschen es nach 1945 nicht gemacht. Daran ein klein wenig – wirklich, glauben Sie, es ist keine übergroße Bescheidenheit, sondern man kann nur immer ein klein wenig dazu beitragen –, dazu mit beigetragen zu haben, das lässt mich mit meiner politischen Vergangenheit trotz all der Fehler und Schwächen, Unzulänglichkeiten ganz gut leben.
Welter: Karl Lamers, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!
Lamers: Gerne, Frau Welter!
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Wir haben das Gespräch am 04. Juli aufgezeichnet.