30 Jahre nach dem Fall der Mauer und der politischen Wende in Ostdeutschland hat die CDU-Politikerin Gabriele Brakebusch ihre Partei zur Selbstkritik ermuntert. Angesprochen auf die starken Stimmenverluste der Christdemokraten bei den letzten Landtagswahlen, sagte die Landtagspräsidentin von Sachsen-Anhalt im Dlf, die CDU müsse "lernen, auch wieder den Menschen richtig zuzuhören und einfach eingestehen, dass wir Fehler machen". Man habe vielleicht "nicht die richtigen Wege gefunden, nicht die richtigen Gesetze erlassen".
Angesichts der CDU-Debatte über Abgrenzung oder Gespräche mit der AfD sagte Brakebusch, die CDU solle sich von der AfD "massiv abgrenzen, aber nicht ausgrenzen". Zugleich erklärte sie: "Ja, an manchen Stellen müssen wir miteinander auch sprechen, nicht miteinander regieren, nicht miteinander koalieren. Das schließen wir vollkommen aus."
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Es ist die Woche des Gedenkens an den Fall der Mauer und das Ende der DDR vor 30 Jahren. Im ganzen Land finden vor diesem Hintergrund Veranstaltungen statt. Besonders viel steht in der Hauptstadt auf dem Programm. Am Montag eröffnete der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, eine ganze Festivalwoche. Der Höhepunkt sind die Feierlichkeiten am kommenden Samstag, dem 9. November selbst, bei denen unter anderem auch Bundespräsident Steinmeier dabei sein wird. Aber auch in anderen Landesteilen hat man sich zu 30 Jahren Mauerfall etwas einfallen lassen. In Bayern zum Beispiel wird CSU-Innenminister Herrmann symbolisch ein Grenztor öffnen in einem Dorf, das jahrzehntelang durch die Grenze geteilt war.
Gabriele Brakebusch gehört der CDU an. Sie ist Präsidentin des Landtages von Sachsen-Anhalt. Sie wuchs in der DDR in der Nähe von Halberstadt auf. Als sie heiratete, zog sie 1973 ins Sperrgebiet nahe des damaligen Grenzübergangs Marienborn. Ich habe sie vor der Sendung gefragt, was ihre Erinnerung an die Tage ist, in denen vor 30 Jahren die Mauer gefallen ist.
Gabriele Brakebusch: Wir haben selbst, mein Mann und ich, gemerkt, dass irgendwie Unruhen in der ganzen DDR waren. Es war eine aufgewühlte Stimmung. Und wir hatten uns beide gesagt, wir wollen nicht einfach bloß Zuschauer sein und Beobachter; wir wollen einfach aktiv werden. So sind wir beide dann montags nach Oschersleben gefahren - Oschersleben war damals die Kreisstadt – zu den Montagsgebeten, die in der St.-Marien-Kirche, in der katholischen Kirche uns allen angeboten wurden, ob Christen oder auch Nichtchristen.
"Die Menschen wurden immer mutiger"
Kaess: Was war dort für eine Stimmung?
Brakebusch: Das waren die Montagsgebete. Erst mal muss man sagen, es war ja immer doch ein unheimliches Schaudern, was man immer hatte, weil man Angst hatte, wie komme ich denn wieder nachhause. Unsere ersten Gedanken waren, wir müssen alle wichtigen Papiere und unsere zwei Kinder zu unseren Schwiegereltern bringen, und dann fahren wir nach Oschersleben, weil wir nicht wussten, kommen wir auch wieder heile nachhause oder nicht.
Dann haben die Kirchen uns Raum geboten, wo wir einfach auch frei reden konnten, das heißt immer eingebettet in christlichen Gebeten, in christlichen Gesängen und so was, so dass man das im Prinzip etwas ein bisschen auch vertuschen wollte, was dort geschieht. Aber das war nachher ein Selbstläufer und die Menschen wurden immer mutiger und haben dann auch wirklich von ihrer Rede, auch von dem freien Wort Gebrauch gemacht und sind anschließend dann immer zum Rathaus gewandert, hingepilgert fast mit unseren Kerzen, immer in den Hauseingängen sehend, dass dort auch immer Männer standen mit hochgeschlagenen Kragen. Wir wussten schon, dass das tatsächlich dann auch die Staatssicherheit war. Deswegen: Es war immer eine Angst, die wir hatten, aber der Mut war doch viel stärker und wir haben gesagt, wir wollen einfach nicht mehr so ängstlich sein, wir wollen auftreten und wollen was ändern.
Kaess: Sie haben schon gesagt, Sie haben damals im Sperrgebiet gelebt, in der Nähe des damals größten Grenzübergangs Marienborn. Sie hatten quasi das Grenzregime direkt vor der Haustür. Wie haben Sie das erlebt?
Brakebusch: In Harbke waren wir unmittelbar davor. Das heißt, wir konnten nicht frei einfach auf der Straße gehen, immer den Ausweis, den Personalausweis dabei. Selbst mit dem Kinderwagen mussten wir immer den Personalausweis dabei haben, und ich bin ein Familienmensch. Wir konnten nicht die Familienmitglieder alle zu uns nach Harbke einladen, sondern nur Verwandte ersten Grades, das heißt Eltern und Geschwister, aber nicht mal die angeheirateten Verwandten oder Großeltern.
Kaess: Weil die auf der anderen Seite waren?
Brakebusch: Nein, die waren nicht im Sperrgebiet. Die wohnten nicht im Sperrgebiet. Die wohnten in der DDR. Kloster Gröhning ist ja bei Halberstadt, das ist ja alles noch DDR. Und ich habe das nicht empfunden, dass die Grenze in Kloster Gröhning ganz nah war, aber in Harbke habe ich es dann richtig massiv empfunden. Wir haben die Signalzäune gesehen, wenn wir dort rein- und rausfuhren. Ich hatte ja damals auch in Oschersleben gearbeitet und musste dann immer mit dem Bus wieder zurück ins Sperrgebiet. Ständige Kontrollen auch und mitten im Dorf musste man immer vorbereitet sein, dass Grenzsoldaten mit Maschinengewehren auch auf der Straße gingen. Die hielten einen an und kontrollierten einen, ob man tatsächlich Bürger aus Harbke war, das heißt berechtigt, in diesem Sperrgebiet zu wohnen.
"Mein Mann sagte: Gabi, stell Dir vor, die Grenzen sind offen"
Kaess: Dann fiel die Mauer. Was haben Sie damals erwartet? Was haben Sie gehofft?
Brakebusch: Ich muss dazu sagen, mein Mann und seine Familie stammen alle aus dem Südharz, aus Clausthal-Zellerfeld, Osterode, Scharpfeld, und wir hatten ganz enge familiäre Bedingungen. Meinen Eltern bin ich heute noch dankbar, dass sie damals alle drei, vier Wochen immer viele Verwandte mit zu sich eingeladen haben und wir dort auch immer unsere Treffen abhalten konnten. Wir haben aber immer uns gesagt, irgendwann wird tatsächlich auch die Grenze mal fallen. Wir werden das nicht mehr erleben, leider Gottes, haben wir immer gesagt, aber vielleicht unsere Enkelkinder.
Dass wir doch diesen Tag so erleben konnten – ich selbst kann Ihnen auch schildern, wie das an dem gleichen Abend war. Ich war damals schon Leiterin einer Kindereinrichtung, einer Kinderkrippe, und alle, die eine leitende Tätigkeit hatten, mussten an den Gemeindevertretersitzungen – so hießen die ja damals – teilnehmen, um an diesem politischen Leben auch mit gestalten zu müssen. Das war einfach Pflicht. Da ging die Sitzung bis abends spät und ich kam nachhause, und mein Mann sagt: Gabi, stell Dir vor, die Grenzen sind offen. – Es war ein anstrengender Tag und ich sagte zu meinem Mann: Schön! Wenn der Traum mal in Erfüllung gehen würde, wäre das fantastisch. – Und da sagte er: Komm! Wir schalten den Fernseher wieder an.
Dann sind wir gleich hoch nach Marienborn. Dort oben ist ja die sogenannte GÜST gewesen. Das war ja die Abfertigungsstelle zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt rüber. Wobei ich dazu sagen muss: Dieses Gebiet gehört zu Harbke, heißt aber Gedenkstätte deutsche Teilung, weil das damals auch der Grenzübergang Marienborn war.
Wir sind dort hochgefahren, kamen aber noch gar nicht bis ran zur Grenze, weil die Grenzer bei uns haben das überhaupt noch nicht gehört, noch nicht wahrgenommen. So sind wir denselben Abend wieder nach Hause gefahren, aber sind dann zum Wochenende gefahren, und da kann ich Ihnen vielleicht eine kleine Anekdote noch sagen. Die ist mir heute immer noch so in Erinnerung. Wir hatten dann noch mal 1988 ein kleines Mädchen zu unseren zwei Jungs bekommen und sie war gerade ein Jahr. Wir sind am 11. 11. Dann rübergefahren nach Helmstedt. Meine Schwiegereltern waren dort bei einer Kusine meiner Schwiegermutter und mein Schwiegervater war im Garten. Dann habe ich zu meinem Mann gesagt: Guck mal, der Vati ist im Garten, wir schicken unsere Josefin dort rüber. – Das haben wir auch gemacht. Soll ich Ihnen sagen, was mein Schwiegervater gerufen hat? – Lieselotte! Lieselotte! Komm raus: Unsere Kinder sind über die Grenze abgehauen. Die haben das gar nicht mitbekommen, und das sind einfach Erlebnisse. Ich sage immer, es ist für uns Gottes Geschenk, dass wir dieses überhaupt so erleben durften, und wenn Sie mich jetzt sehen würden, dann merken Sie auch, das ist emotional immer noch ganz, ganz tief drin.
"Das ist emotional immer noch ganz, ganz tief drin"
Kaess: Frau Brakebusch, wenn ich Sie so höre und wenn ich das so verstehe, was Sie sagen, dann würden Sie wahrscheinlich sagen, ich lebe heute in einem besseren Land.
Brakebusch: Ja.
Kaess: Warum können viele Ostdeutsche das nicht sagen?
Brakebusch: Weil viele wahrscheinlich auch andere Vorstellungen hatten. Ich muss auch sagen: Ganz am Anfang sind ja viele davon gar nicht ausgegangen, dass wir eine Wiedervereinigung bekommen, sondern sie wollten eine bessere DDR errichten. Das Rad drehte sich aber so schnell, so dass das alles überholt wurde und die Masse der Menschen dann sagte, wir sind nicht mehr das Volk, sondern wir sind ein Volk. Und dann wurden natürlich in Windeseile ganz viele Verträge, auch der Einigungsvertrag zusammengeschustert. Ich habe gesagt, wir könnten es heute nicht besser machen, wenn wir so eine kurze Zeit bloß gehabt hätten. Da sind einfach auch einige Dinge vergessen worden.
Kaess: Und das ist eventuell auch das, was wir heute sehen, wenn wir den Sprung in die heutige Zeit machen. Sie sind heute in einer Partei, der CDU, die im Osten gerade massiv an Wähler verliert. Ihnen gegenüber steht eine sehr starke AfD mittlerweile. Wie sollte speziell Ihre Partei damit umgehen?
Brakebusch: Wir sitzen natürlich auch sehr oft zusammen und ich sage immer wieder, mein politisches Leben wird sicherlich auch bald dem Ende entgegengehen, das heißt landespolitisch. Ich werde immer politisch bleiben. Aber wir müssen es einfach lernen, auch wieder den Menschen richtig zuzuhören, und auch einfach dann mal eingestehen, dass wir Fehler machen, dass wir einfach nicht die richtigen Wege gefunden haben, nicht die richtigen Gesetze angewendet haben oder erlassen haben. Da müssen wir einfach noch mal richtig drüber nachdenken.
Es sei mir trotzdem gestattet: Es sind natürlich trotzdem auch viele Dinge, wo heute einfach mit aufgesprungen wird, was sich in Windeseile auch manchmal dann verselbständigt. Und wenn ich dann einzelne Menschen auf der Straße frage, oder auch CDU-Freunde, dann sagen sie, mich betrifft das nicht, mir geht es gut, aber - deswegen sage ich manchmal, auch den Menschen müssen wir eigentlich klarmachen, dass nach 30 Jahren sich so viel positiv auch bei uns in Sachsen-Anhalt hier entwickelt hat, was viele Menschen gar nicht mehr sehen, weil wirklich eigentlich nur das Negative herausgezogen wird. Und ja, es ist uns immer noch nicht gelungen, viele Menschen, die nicht auf der sogenannten Sonnenseite stehen, es ist uns nicht gelungen, diese tatsächlich auch mit in ein Leben hineinzunehmen, wo sie Sicherheit verspüren, wo sie selbst auch für sich sorgen können, sondern immer noch auf Staatskosten im Prinzip leben müssen. Es sind viele, die gar nicht so leben wollen, aber manchmal auch aus dieser Spirale gar nicht mehr rauskommen.
"An manchen Stellen müssen wir mit der AfD sprechen"
Kaess: Und, Frau Brakebusch, sagen Sie uns noch zum Schluss, weil Sie gesagt haben, wir müssen auch manche Dinge anders machen. Gehört dazu auch, dass man der AfD gegenüber gesprächsoffen sein sollte? Es gibt diese Forderungen jetzt immer mehr aus der CDU im Osten.
Brakebusch: Ich kann Ihnen nur sagen, wir haben in Sachsen-Anhalt das Parlament gehabt, was den höchsten Anteil einer AfD-Fraktion bisher hatte und immer noch hat, und wir haben bei uns in Sachsen-Anhalt immer wieder gesagt, wir werden uns abgrenzen, massiv abgrenzen, wir werden aber nicht ausgrenzen. Das heißt: Ja, an manchen Stellen müssen wir miteinander auch sprechen, nicht miteinander regieren, nicht miteinander koalieren. Das schließen wir vollkommen aus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.