Die CDU habe sich auf ihrem Parteitag von der Angst vor einem Erstarken der AfD leiten lassen, kritisierte Özdemir. Die sogenannte Optionspflicht bei der Staatsbürgerschaft wieder einzuführen, sei jedoch die falsche Entscheidung. Vielmehr komme es darauf an, Ausländer zu Inländern zu machen, betonte Özdemir.
Das Modell der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern sei dabei ein wichtiges Mittel zum Zweck. Ziel sei es, dass aus Türken, die hier lebten, auf Dauer Menschen würden, deren "Antennen nach Deutschland gerichtet werden". Der CDU-Beschluss stehe jedoch für das Gegenteil und zeige, dass die Partei für Parallelgesellschaften stehe.
Die CDU hatte gestern in Essen mit knapper Mehrheit beschlossen, die 2014 gemeinsam mit der SPD eingeführte doppelte Staatsbürgerschaft wieder aufheben zu wollen. Die Delegierten stimmten damit gegen eine Empfehlung der CDU-Spitze. Bundeskanzlerin Merkel distanzierte sich später von dem Beschluss.
Das Interview in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: Am Telefon ist Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen. Guten Morgen!
Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Büüsker!
Büüsker: Herr Özdemir, Sie haben sich ja gestern recht schnell mit Kritik auf diesen Beschluss gestürzt. Was spricht denn dagegen, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden?
Özdemir: Erst mal merkt man doch, dass das ein Parteitag der Angst war, den die CDU da hinter sich gebracht hat, Angst vor dem Erstarken der AfD. Die Antwort, die die CDU offensichtlich drauf hat, ist, die doppelte Staatsbürgerschaft denen wieder zu entziehen, denen sie sie kurz vorher selber gegeben hat. Planungssicherheit, was ja auch mal eine bürgerliche Tugend der CDU war, davon ist nicht mehr viel übrig. Aber das entscheidende Problem ist doch: Die doppelte Staatsbürgerschaft ist doch kein Selbstzweck. Sie ist ein Mittel zum Zweck mit dem Ziel, aus Ausländern Inländer zu machen, weil man von Inländer zu Inländer die Probleme des Landes besser besprechen kann, die Leute in die Pflicht nehmen kann. Ich will, dass aus Türken, die hier leben, auf Dauer Menschen werden, deren Antennen nach Deutschland gerichtet werden. Nach diesem Beschluss ist klar: Die CDU steht für Parallelgesellschaften, und die sind das Gegenteil.
"Der deutsche Pass muss die Hauptrolle spielen"
Büüsker: Aber, Herr Özdemir, Ausländer zu Inländern machen, das geht doch auch, wenn die Personen sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden.
Özdemir: Eben! Da bin ich ganz wie die Amerikaner dafür, dass wir ein Selbstbewusstsein entwickeln und sagen, entscheidend ist der deutsche Pass, und der wird immer wichtiger mit jeder weiteren Generation und die Bedeutung des Passes des anderen Landes nimmt ab. Aber wir sehen doch gegenwärtig, dass was ganz anderes passiert. Hier leben Menschen russischer Herkunft, von denen manche auf Knopfdruck demonstrieren, weil Herr Lawrow sagt, angeblich wurde ein deutsch-russisches Mädchen vergewaltigt, das stellt sich als Fehlmeldung heraus. Andere versammeln sich in Köln, weil Herr Erdogan kommt und himmeln ihn an. Wenn man nicht will, dass das zunimmt, dann müssen wir uns dringend darum kümmern, dass die hier geborenen Kinder, wie wir das unter Rot-Grün gemacht haben, mit der Geburt Staatsbürger werden. Und da sie eben über ihre Eltern den Pass des anderen Landes erwerben - gewöhnlich sucht man sich den Pass ja im Kreissaal nicht aus, zumindest war es bei mir so -, also müssen wir schauen, wie schaffen wir es, dass sie sich nicht für den türkischen oder russischen oder was auch immer Pass entscheiden. Sondern der deutsche muss die Hauptrolle spielen. Und da ist die doppelte Staatsbürgerschaft eine Krücke, ein Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck, um das klar zu sagen. Ich habe selber nur einen Pass. Ich sammel keine Pässe. Ich finde, es gibt schönere Dinge auf der Welt zum Sammeln wie Pässe. Aber man muss doch rational vom Ziel her argumentieren und dieses Ziel, das ist auf dem CDU-Parteitag völlig aus dem Blick geraten.
Büüsker: Verstehe ich Sie denn richtig, dass Sie davon ausgehen, dass die Kinder ausländischer Eltern sich erst mal eher für den Pass ihrer Eltern entscheiden würden als für den deutschen?
Özdemir: Na ja, ich bringe sie doch in eine schwierige Situation, dass sie sich entscheiden müssen zwischen den Eltern und zwischen dem Land, in das sie hineingeboren worden sind. Jetzt ist ja die Entscheidung oder die Debatte wird ja nicht nur im Deutschlandfunk geführt, sondern die wird leider auch über Medien geführt, die aus der Türkei, aus anderen Ländern zu uns strahlen. Und da wird ihnen jeden Tag eingeredet, dass sie in Deutschland quasi auf Feindesterritorium leben und so weiter. Ich will, dass wir die Auseinandersetzung aufnehmen um die Herzen, um den Verstand dieser jungen Menschen, damit sie ankommen in diesem Land, in das sie hineingeboren werden, und unsere Bürger werden. Das muss das Ziel werden. Mein Eindruck ist, dass die Union über das Ziel sich gar nicht im Klaren ist. Das ist eine geradezu erratische Beschlusslage der Union: auf der einen Seite mal eine liberale Flüchtlingspolitik, dann wieder das Gegenteil. Dann wird unter der Union - das haben ja nicht wir beschlossen - die doppelte Staatsbürgerschaft ausgeweitet, und dann beschließt der Parteitag dessen Einschränkung wieder, wohl wissend, dass das natürlich ein wohlfeiler Beschluss ist, weil er ja gar nicht umsetzbar ist, weil es dafür keine Mehrheit gibt, weder mit dem jetzigen Koalitionspartner, noch mit möglichen anderen Koalitionspartnern.
Büüsker: Sie argumentieren also ganz klar pro zwei Pässe beziehungsweise die Möglichkeit dafür offenzuhalten. Wenn wir jetzt aber Personen mit zwei Pässen angucken, beispielsweise deutsch und türkisch. Die Personen haben dann die Möglichkeit, sowohl hier zu wählen als auch in der Türkei. Warum ist es in diesem Fall legitim, dass die Leute mehr demokratische Privilegien genießen?
Özdemir: Ich werbe ja schon immer dafür, dass die Leute in dem Land wählen, in dem sie leben, und nicht in einem anderen Land, weil da zahlt man keine Steuern, lebt man nicht, und muss vor allem auch für die Konsequenzen des Wahlverhaltens den Kopf nicht hinhalten. Das ist nicht mein Punkt. Ich war nie ein Anhänger davon, dass man ein langes Auslandswahlrecht hat. Ich fänd es gut, wenn man sich prinzipiell darauf verständigen würde, auch bei Doppelstaatsbürgern, dass irgendwann mal in dem Land ausschließlich gewählt wird, in dem man lebt. Aber so wie wir unser Wahlrecht im Ausland ausgeweitet haben, hat es die Türkei auch gemacht. Und wenn wir es unseren Bürgern zugestehen, kann man natürlich schlecht sagen, dass andere das nicht auch dürfen. Aber noch mal, mein Ausgangspunkt ist: Ich glaube, dass man von Inländer zu Inländer Probleme besser lösen kann. Ich sehe das als ein Problem an, wenn Menschen jahrzehntelang in einem Land leben, in der zweiten, in der dritten Generation, und nicht Bürger unseres Landes werden. Wenn man Bürger ist, dann sind die Probleme in der Kommune, dann sind die Probleme, die in dem Land entstehen, auch die eigenen Probleme. Und irgendwann mal richtet man auch die Antennen in dieses Land, sieht den Bürgermeister als den eigenen Bürgermeister, die Ministerpräsidentin, die Kanzlerin als die eigenen und weiß, die Zukunft der Kinder ist hier in diesem Land. Wenn das unser Ziel ist, dann rate ich dazu, rational zu überlegen, was dazu hilft. Und ich glaube, dass der Beschluss der Großen Koalition, bei der doppelten Staatsbürgerschaft ja nicht zu sagen, dass man sie jetzt generell zulässt, sondern ganz explizit für die Jugendlichen, von denen wir wollen, dass sie am Ende des Tages unsere Staatsbürger sind, da großzügig zu sein, der richtige war.
"Etwas komisches Verständnis von Führung durch die Bundeskanzlerin"
Büüsker: Die CDU hat das Ganze jetzt gegen den Willen der Bundeskanzlerin durchgesetzt. Das heißt, die CDU als Partei steht auch dahinter, zahlreiche Mitgliederinnen und Mitglieder. Ist Schwarz-Grün damit auf Bundesebene erst mal gestorben?
Özdemir: Erst mal ist es ein etwas komisches Verständnis von Führung durch die Bundeskanzlerin, die in ihrer Abschlussrede auf dem Parteitag mit keinem Wort darauf eingeht und anschließend schnurstracks in die Kameras marschiert, um zu sagen, dass sie sich daran nicht gebunden fühlt. Ich versuche, mir gerade vorzustellen, wie will diese Bundesregierung eigentlich und diese Bundeskanzlerin in Europa Führung zeigen in einer Situation, wo wir es mit massiven Herausforderungen zu tun haben wie Brexit, wie Trump-Wahl, die Aspiration von Herrn Putin.
Büüsker: Herr Özdemir, ich verstehe, dass Sie jetzt die Position der Kanzlerin kritisieren möchten. Aber meine Frage war ja: Was wird aus Schwarz-Grün, der Option auf Bundesebene?
Özdemir: Das weiß ich nicht, weil ich keine Koalitionsdebatten führe, sondern mich damit beschäftige, wie die Grünen möglichst stark werden. Die Frage, ob es reicht am Ende arithmetisch und ob die Inhalte passen, das wird man nach der Wahl sehen. Aber das Problem, das Sie beschreiben mit der CDU, das haben wir natürlich genauso mit einem Teil der Linkspartei. Umso wichtiger, dass die Grünen die Partei sind der Vernunft, die Partei sind, die mit rationalen Argumenten und nicht mit Ideologie argumentieren. Wir haben einen starken Ideologieflügel bei der Union und einen starken Ideologieflügel bei der Linkspartei. Die Grünen stehen für eine Politik, die ganz rational überlegt, was hilft unserem Land, was ist gut für die Integration, was hilft dem Ziel, dass die Menschen hier in dieser Gesellschaft ankommen. Nach diesem CDU-Parteitag haben wir eine klare Aufstellung.
Büüsker: Aber haben Sie denn keine Angst, dass Sie unter Umständen grüne Stammwähler vergraulen, wenn Sie sich nicht klar von diesen Positionen der CDU distanzieren?
Özdemir: Na ja, das habe ich jetzt ja, glaube ich, sehr klar gemacht. Ich glaube, das war jetzt an Klarheit nicht zu überbieten. Es sei denn, irgendjemand hat es nicht genau verstanden.
"Ich schließe auch nicht aus, dass wir mit der Linkspartei und der SPD reden werden"
Büüsker: Aber trotzdem möchten Sie eine Koalition nicht grundsätzlich ausschließen?
Özdemir: Noch mal: Das ist nicht dasselbe. Ich führe keine Koalitionsdebatten im Dezember 2016 im Deutschlandfunk. Da bitte ich um Nachsicht. Sondern ich sage, ich will starke Grüne, und ich will dafür sorgen, dass grüne Inhalte, die in jeder Koalition gut wären, stark werden in der nächsten deutschen Bundesregierung. Und ich schließe weder das eine aus noch das andere aus. Sondern was ich ausschließe ist, dass es mit uns eine Umsetzung dieses Beschlusses der CDU geben wird, übrigens auch vieler anderer Beschlüsse. Die gibt es mit Bündnis 90/Die Grünen definitiv nicht.
Büüsker: Sie würden das also nicht umsetzen wollen, die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Aber Sie schließen nicht aus, dass Sie gemeinsam mit den Personen, die dahinter stehen, auch in eine Regierung gehen könnten?
Özdemir: Ich schließe auch nicht aus, dass wir mit der Linkspartei und der SPD reden werden. Schauen Sie, ich will keine spanischen Verhältnisse, wo jeder vor der Wahl sagt, ich rede mit Ihnen nicht, Sie reden mit mir nicht, gemeinsam reden wir mit Dritten nicht. Es gibt auch so was wie eine Verantwortung fürs Land, die vielleicht wichtiger ist wie die Verantwortung für jede einzelne Partei. Am Ende braucht Deutschland eine Regierung und muss stark geführt werden. Ich sehe, dass Frau Merkel nicht mehr stark ist in ihrer Partei. Ich sehe, dass die Große Koalition sich mit sich selbst beschäftigt, streitet wie die Kesselflicker. Ich will eine Regierung, die gute inhaltliche Politik macht, aber auch gute Umgangsformen hat, also das Gegenteil von dem, was die Große Koalition hat. Bündnis 90/Die Grünen können das, beweisen das jeden Tag in den Ländern, und am Ende entscheiden die Wählerinnen und Wähler, wie stark sie uns machen.
Büüsker: Cem Özdemir, der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, heute Morgen hier im Deutschlandfunk-Interview. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Özdemir.
Özdemir: Gerne! Tschüss.
Büüsker: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.