Cees Nooteboom wird geschätzt als Beobachter, der sich ein wenig abseits von seinem Gegenstand hält. Gerade deshalb erkennt er das Wesentliche und macht es für den Leser erspürbar. Denn es geht ihm nicht so sehr um das Äußerliche, nicht um die Handlungen seiner Figuren. Vielmehr sucht er nach verborgenen Verbindungen zwischen dem Hier und dem Dort, zwischen dem Vergangenen und dem Heute, und bewegt sich gern im Grenzraum zwischen Wirklichkeit und Traum.
Diese Herangehensweise ist auch erkennbar im Gedichtzyklus, den Nooteboom im Winter und Frühjahr 2015-2016 verfasst hat. Der Dichter hielt sich in diesen Monaten auf der Balearen-Insel Menorca auf, wo er einen Teil des Jahres lebt, und besuchte die niederländische Nordseeinsel Schiermonnikoog. Deren Namen verkürzt er zu Monnikoog, also das Mönchsauge, das dem Band seinen Titel gibt.
Klosterschüler Nooteboom
Auch hier balanciert Nooteboom: Es geht ihm zwar weniger um die reale Insel. Aber deren Identität bleibt doch noch erkennbar und enthält zudem einen biografischen Bezug: Als Kind und Jugendlicher wurde Nooteboom an Klosterschulen erzogen. Mönche vermittelten ihm die Liebe zu den lateinischen und griechischen Dichtern.
Die Gedichte haben keine Titel und sind bis auf eine Ausnahme exakt gleich lang. Die niederländische Insel erscheint mit ihren charakteristischen Zügen: Farben, Material, Klang und Bewegung:
"Wolken aus Zink, Kasematten aus Wasser, grau, / streunend im Mittagslicht, Geräusch der Wellen (...)"
Das Merkmal des Leuchtturms teilt Schiermonnikoog mit Menorca, ansonsten scheinen die Gegensätze auf:
"Auf der anderen Insel Felsen statt Dünen, / schwarz, Pflanzen mit Haken und Zähnen, Steine trinkend, / festgebissen im Geröll (...)"
Nootebooms Insel-Impressionen werden begleitet von Bildern des deutschen Künstlers Matthias Weischer. Speziell für diese zweisprachige Ausgabe hat Weischer, fast zwei Generationen jünger als Nooteboom, die beiden Inseln besucht. Mal kräftig in schwarz-weiß mit Kohle gemalt, mal in zart leuchtender Kreide- und Pastell-Kolorierung, strahlen die Landschaften. Meist sind sie menschenleer. Wesentliches wird gerade mal kräftig genug angedeutet, dass der Betrachter der Landschaft mit freiem Blick begegnen kann. Menorcas sattes Frühjahrsgrün strahlt, die schroffe Felsküste widersteht unbeeindruckt dem Sturm und dem Meer.
Im Mittelpunkt: die menschliche Erinnerung
Auch wenn der Dichter dem Land und der Natur ein Leben schenkt, hat er die Hauptrolle der menschlichen Wahrnehmung und Erinnerung zugeteilt. Er ist ein Spieler, der sich selbst vielerlei Gestalten annehmen lässt, mal ist er ein Priester, mal ein "Mann aus Luft", dann wieder schlüpft er in die Rolle der Vorfahren jener, an deren Grundstück er entlanggeht:
"Tausend Meter lang die Mauer, niemand in Sicht. / Ich geh wie ein Vorfahr über ihr Land, erdenke, wer sie waren. / Nichts weiß ich, alles was ich sage, ist Erfindung."
In den Gedanken, denen die Insel-Spaziergänge den Raum geben, treten Mitmenschen auf, die nicht mehr leben, Sokrates und Phaidros in ein Gespräch vertieft, die Mutter, die aus dem Jenseits erzählt und den beobachtenden Sohn nicht wahrnimmt, Bruder, Halbbruder und die erste Geliebte. Für sie kniet er sich in den Sand der Düne:
" (...) Tanz für einen / Mann allein. In seinen Armen ein Trugbild, die leere / Luft einer Toten, noch immer nicht stumm, // das Gekrächz eines ersten Verlangens, / verweht und zerschellt an einer Vielzahl / von Jahren, die Distel des Nichtvergessenwollens, / nimm mich mit, nimm mich mit, / / aber wohin?"
Die Toten verschwinden nicht, sie verstören die Ruhe des Jetzt. Es ist aus mit der Kontemplation – so wie es in einem der Gedichte programmatisch heißt:
" (...) Gedichte kennen kein / Fragezeichen, sie müssen den Wahnsinn / zähmen, nicht abstreiten (...)."
Und so kann es passieren, dass Vergangenes und Fantasiertes zu einem irren Wirbel verdichten. Dieser endet dort, wo unter der Oberfläche einer bizarren Tier-Maskerade und einer malerischen Selbstbespiegelung eine lebensprägende Erfahrung zutage tritt: eine Erinnerung an den Krieg und an den Vater, der die Familie verlässt und 1945 bei einem Bombenangriff auf Den Haag stirbt:
"Allem begegne ich hier, den Teufeln aus anderen / Leben, Tieren aus einem vergessenen Wappen, / Frauen in Löwengestalt, Einhörnern, / maskierten Schweinen, ich falle aus meinem Gemälde und drehe mich um nach dem Maler, er hat meine Hand / noch nicht fertig, eine Ameise zieht durch die Farbe / der Pianist im Bunker spielt ein Lied / aus dem Krieg. So kriege ich alles wieder, den toten Piloten im Baum, die Stimme meines / Vaters, der essen konnte im Gehen, ich höre den / Klang, doch keine Worte, ich weiß es, / er will zu seinem Grab, doch ich kann ihm nicht helfen. // Er hat keins. "
Sehnsucht nach dem Leben
Für sich genommen könnte man die eine oder andere Zeile für wehmütig halten, für den Rückblick eines Mannes, der bald 85 wird. Aber die Sehnsucht nach dem Berührtwerden durch pulsierendes Leben ist zu offenkundig, wenn es zum Beispiel beim Marktbesuch an einen Fischstand geht:
"(...) das Graue, Silbrige, eben noch im Wasser, jetzt / angefasst, aufgeschnitten, voll Blut, noch zuckend , / mein Essen, der Mann mit dem Messer lacht mir zu, // wir machen dies gemeinsam (...)."
Da ist einer, der genießt und sich dem Moment hingibt, nicht zimperlich angesichts des Tierestodes und hoffend auch noch mehr Leben, wie er in den letzten Zeilen dieses Gedichtes sagt, nicht trotz, sondern wegen der Macht des Todes:
"So will ich schon noch ein Leben, Schlamm / an den Schuhen, Rettich und Äpfel in meinem Korb, / verkrümelte Ewigkeit, hundert Meter weiter / beginnt der Rand der Welt, pass auf, Träumer, / du stürzt ab wie ein Stein."
Ard Posthuma ist Nootebooms bewährter Lyrik-Übersetzer ins Deutsche. Er ist vertraut mit dessen Tonlage, Farben und Rhythmus. Die Übersetzungen von Mönchsauge werden dem Fluss der Bilder, Assoziationen und Erinnerungen auf überzeugende Weise gerecht. Man mag manche Frage haben zu Einzelentscheidung des Übersetzers. Er hält sich an die Maxime seines grimmigen Landsmannes Karel van het Reve: "Du musst übersetzen, was da steht."
Geruis van de zee
Abweichungen von der Übertragung mit großer Wort- und Klangnähe zum Original sind dadurch aber besonders sichtbar. "Ein mühsamer Gott", der Original-Anfang des ersten Gedichts, ist ein starker Beginn, aber dieser Gott rückt dann in der Übersetzung nach hinten: "Am Bettrand ein mühsamer Gott ... ", was sich nicht unmittelbar erschließt. Die Entscheidung, im 33. und letzten Gedicht das dreifach ausklingende "geruis van de zee" mit dem zunächst holprig wirkenden "das Geräusch vom Meer" und nicht mit "Meeresrauschen" zu übersetzen, verwundert ebenso. Aber dies ist kein Makel. Solche Zeilen wecken eher die Neugier nach den Beweggründen des Übersetzers. Dass wir fragen und zweifeln können, ist das Geschenk dieser sorgfältigen Übertragung.
Ein Gedichtband wie ein Konzeptalbum
Wäre dieser Band eine LP, würde man es ein Konzept-Album nennen, sorgfältig durchkomponiert, mit feinen Verbindungslinien und sprechenden Kontrasten. Die Gedichte, die Übersetzung, die Bilder, Nootebooms kurzes Nachwort, der schöne Druck, all das trägt zum Lesegenuss bei. Der stellt sich ein, wenn man einen stillen Fleck für eine Begegnung mit diesen Gedichten findet – eine Insel zum Beispiel.
Cees Nooteboom: "Mönchsauge" Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma. Illustriert von Matthias Weischer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2018. 128 Seiten, 24 Euro.