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Cem Özdemir zu Sicherheitsvorschlägen
"Grüne verschließen sich der Debatte nicht"

Die Grünen seien offen für eine Diskussion über das Sicherheitspapier von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, sagte deren Vorsitzender Cem Özdemir im DLF. Zunächst müssten aber offene Fragen im Zusammenhang mit dem Anschlag von Berlin geklärt werden. Es entstehe der Eindruck, dass mit den Vorschlägen von Versäumnissen abgelenkt werden solle.

Cem Özdemir im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der Grünen-Politiker Cem Özdemir
    Der Grünen-Politiker Cem Özdemir (picture alliance/dpa - Marijan Murat)
    Es stelle sich etwa die Frage, warum der Attentäter Anis Amri nicht mehr beobachtet worden sei, obwohl er den Behörden als Gefährder lange bekannt gewesen sei. Die gesetzlichen Grundlagen dafür seien vorhanden gewesen. Er habe deshalb den Eindruck, dass mit den neuen Vorschlägen von Versäumnissen abgelenkt werden solle, so Özdemir.
    Zudem werde das Problem des Verfassungsschutzes nicht dadurch gelöst, dass Landesämter geschlossen würden. Hier müsse sich auch inhaltlich etwas ändern. Ähnliches gelte für das Bundeskriminalamt. Wenn de Maizière da aufräumen und für mehr Effektivität sorgen wolle, werde das an den Grünen nicht scheitern, betonte Özdemir.
    Fußfesseln hätten Anschlag nicht verhindert
    Dass die jetzt diskutierten Fußfesseln den Attentäter an seinem Vorhaben gehindert hätten, bezweifle er. Özdemir äußerte sich auch zu den Forderungen nach sogenannten Ausreisezentren. Diese seien keine Lösung, solange Tunesien oder Marokko ihre Landsleute nicht zurücknähmen. Es gehe darum, die Menschen, die keine Chancen auf Asyl in Deutschland hätten, "aus dem Land zu schaffen". Die Verfahren müssten beschleunigt und die Zusammenarbeit mit den Heimatländern intensiviert werden.
    Özdemir betonte, alle Parteien im Deutschen Bundestag müssten sich für die Sicherheit zuständig fühlen, die Grünen machten hier keine Ausnahme. Dass seine Partei über das Thema länger diskutiere, hänge möglicherweise damit zusammen, dass die Grünen bisher noch keine Innenminister auf Landesebene stellten. Seiner Partei gehe es auch darum, dass sich die Dinge in der Praxis bewährten.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Und am Telefon ist jetzt Cem Özdemir, der Parteichef der Grünen. Schönen guten Morgen, Herr Özdemir!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
    Armbrüster: Herr Özdemir, wir haben da schon zwei wichtige Stichworte gehört in diesem Bericht: Ausreisezentren und elektronische Fußfesseln für Gefährder. Das klingt sinnvoll nach allem, was wir im Fall Anis Amri gelernt haben. Sind die Grünen auch dafür?
    "Vorschläge um der Vorschläge willen, das macht die Opposition nicht mit"
    Özdemir: Ich habe ja schon mal gesagt, wir verschließen uns der Debatte nicht über die Vorschläge des Bundesinnenministers de Maizière, aber erst mal gibt es offene Fragen, die in Ihrem Beitrag ja auch gestellt worden sind. Es stellen sich unglaublich viele Fragen, nach der Rolle der Bundesebene, nach der Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Die müssen doch erst mal geklärt werden. Er war den Behörden seit Monaten als Gefährder bekannt. Was ist mit diesen Informationen passiert? Er hat sich ja offensichtlich in ISIS-Kreisen als Selbstmordattentäter angeboten, er hat nach einer Waffe gesucht. Warum wurde er nicht weiterhin als Gefährder beobachtet? Die Rechtsgrundlagen waren vorhanden, dass der Verfassungsschutz anschließend ihn hätte weiter beobachten können. Er hätte sogar für sechs Monate mit einer möglichen Verlängerung in Sicherungshaft genommen werden können. Also, die gesetzlichen Grundlagen, um diesen Amri aus dem Verkehr zu ziehen, waren vollständig da. Wenn man jetzt Vorschläge macht für Gesetzesänderungen, habe ich manchmal den Eindruck, dass man ablenken möchte von der Verantwortung für diesen Fall. Der Fall muss aufgeklärt werden. Danach bin ich gern bereit, über alles zu reden, was sinnvoll ist und was für den Fall geholfen hätte. Aber einfach Vorschläge um der Vorschläge willen, um möglicherweise abzulenken von Versäumnissen, das macht die Opposition nicht mit.
    Armbrüster: Ja, aber der Fall Anis Amri ruft doch geradezu danach, die Arbeit der Sicherheitsbehörden neu zu strukturieren, und da sind doch die Vorschläge, den Staatsschutz sozusagen in Berlin zu zentralisieren – erscheinen ja zumindest auf den ersten Blick als ein sinnvoller Baustein.
    "An der inhaltlichen Arbeit der Inlandsnachrichtendienste muss sich grundsätzlich was ändern"
    Özdemir: Da haben wir uns ja auch sehr differenziert zu geäußert, und manche der Vorschläge sind ja auch Vorschläge, die wir schon früher gemacht haben. Nehmen Sie den Fall NSU. Da hatten wir ja vergleichbare Debatten. Einer Debatte um die Zentralisierung verschließen wir uns nicht grundsätzlich beim Verfassungsschutz. Aber ich glaube nicht, dass das Problem beim Verfassungsschutz, das wir ja beim NSU schon gesehen haben, einfach dadurch gelöst wird, dass wir die Landesämter schließen, sondern da muss sich auch an der inhaltlichen Arbeit der Inlandsnachrichtendienste grundsätzlich was ändern. Ähnliches gilt fürs BKA. Wir wollen kein deutsches BKA, aber natürlich muss man gucken, wie kann das sein, das einer der Top-Gefährder, dessen Überwachung offenbar daran gescheitert ist, dass er zwischen den Ländern, also zwischen den Bundesländern hin- und hergewechselt ist, das kann ja wohl nicht sein, wenn wir aufpassen müssen, dass wir die Akzeptanz der Bevölkerung nicht verlieren, für diejenigen, die sich zu Recht bei uns aufhalten, wenn solche Top-Gefährder offensichtlich aus dem Radar verschwinden der zuständigen Behörden. Und was die Zuständigkeitsregelungen angeht, auch da kann man natürlich manches besser machen. Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum wie eine Bundespolizei haben, dann haben wir eine Zollpolizei, wir haben das BKA, dann haben wir das Zollkriminalamt. So richtig verstehen tu ich das nicht, wenn Herr de Maizière da aufräumt, für mehr Effektivität sorgt, wird das an uns sicherlich nicht scheitern.
    Armbrüster: Das heißt, wir können festhalten, da springen Sie Thomas de Maizière durchaus bei.
    Özdemir: Immer Punkt für Punkt. Jeden Punkt muss man bewerten. Bei uns geht es nicht um Ideologie, sondern bei uns geht es um die Frage, machen die Dinge Sinn? Tragen sie dazu bei, dass wir Sicherheit verbessern und gleichzeitig die Freiheit erhalten. Das sind die Parameter, um die es da geht.
    Armbrüster: Herr Özdemir, jetzt sind wir an diesem Donnerstagmorgen auch schon wieder einen Schritt weiter. Ich habe schon mal gesagt, es gibt diese beiden neuen Stichworte: Ausreisezentren und elektronische Fußfesseln für Gefährder. Noch mal gefragt: Das klingt nach den Lektionen aus diesen Ermittlungsfehlern und aus den Fehlern, die da generell gemacht wurden im Fall Amri, ja durchaus sinnvoll. Können Sie sich solche Einrichtungen auch vorstellen, einmal die Ausreisezentren, und dass wir solche Gefährder künftig mit elektronischen Fußfesseln ausstatten?
    "Er hätte Nordrhein-Westfalen gar nicht verlassen dürfen"
    Özdemir: Ob die elektronische Fußfessel jetzt konkret im Fall Amri dazu beigetragen hätte, dass man ihn daran gehindert hätte, das weiß ich nicht.
    Armbrüster: Na ja, aber es macht zumindest ja die Beobachtung deutlich einfacher.
    Özdemir: Na ja, die Beobachtung heißt, nur, damit das mal die Hörer wissen, dass bei einem Top-Gefährder 30 Leute notwendig sind, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Das würde bei einer Fußfessel bedeuten, dass je nachdem, wo er sich gerade aufhält, dann vor Ort die Leute entsprechend gewarnt sein müssen und das entsprechende Personal da sein muss, um gegebenenfalls zuzuschlagen. Also wir sind ja noch nicht so weit. Man kann über alles diskutieren, aber erst mal will ich wissen, wie kann das eigentlich sein, dass man wusste, wo er ist, dass man ihn zwingen konnte, in NRW zu bleiben. Er ist ja schließlich eingestuft gewesen als geduldet. Er hätte Nordrhein-Westfalen gar nicht verlassen dürfen. Wir haben ja die einfachen Fragen gar nicht geklärt.
    "Jetzt geht es darum, dass die Leute aus dem Land geschafft werden können"
    Und zu den Ausreisezentren: Das hätte jetzt in dem Fall erst mal das Problem nicht gelöst, weil er ist dann im Ausweisungszentrum, aber das Land, das ihn aufnehmen soll, nimmt ihn nicht auf, weil die Bundesregierung bis heute es nicht geschafft hat, dass Marokko, dass Tunesien, dass Algerien endlich diese Leute aufnimmt, die in der Bundesrepublik Deutschland keine Chance auf Asyl haben, weil sie aus Gründen hier sind, die mit Asyl erst mal nichts zu tun haben. Das scheint mir doch jetzt die erste Priorität. Wir müssen dringend dafür sorgen, Verfahren müssen beschleunigt werden. Da hat sich einiges getan, das muss man zugeben, aber jetzt geht es auch darum, dass die Leute aus dem Land geschafft werden können, die hier offensichtlich – da gibt es ja Einigkeit – nichts verloren haben. Solche Fälle eben aus Nordafrika, die hier keinerlei Asylchancen haben.
    Da gibt es einen guten Vorschlag, der sehr praktikabel wäre, das heißt, enge Zusammenarbeit mit den Ländern, aus denen sie stammen. Da müsste man dann aber vielleicht auch mal die Ideologie beiseitelegen, nicht einfach nur schöne Interviews geben wie der Bundesinnenminister, sondern vielleicht auch mal sagen, wir bieten euch Stipendien, wir bieten euch Erleichterungen bei der Visa-Vergabe, bei Handelsabkommen, nur im Gegenzug müsst ihr diese Leute annehmen, und zwar so schnell wir möglich.
    Armbrüster: Sie haben jetzt sich für verstärkte Abschiebungen ausgesprochen, außerdem höre ich, dass Sie durchaus Sympathie haben für zumindest einige der Vorschläge von Thomas de Maizière. Wie einig ist sich denn Ihre Partei da eigentlich?
    "Ich bin mir sicher, dass die Grünen auch mal einen Innenminister stellen werden"
    Özdemir: Also es ist jetzt nicht so, dass die CDU/CSU zuständig ist für Sicherheit, und wir sind es nicht, sondern ich finde, alle Parteien im Deutschen Bundestag müssen sich für Sicherheit zuständig fühlen, das erwarten die Leute zu Recht von uns –
    Armbrüster: Aber bei den Grünen dauert die Debatte etwas länger.
    Özdemir: Na gut, das zeichnet die Grünen aus, dafür haben wir dann anschließend auch Ergebnisse, die tragfähig sind. Und überall dort, wo wir regieren, in den elf Ländern, kann man ja jetzt nicht sagen, dass die Grünen sich um Sicherheit nicht kümmern. Aber Sie haben recht, der Eindruck hat auch damit zu tun, dass wir jetzt in elf Landesregierungen sitzen, auch schon mal im Bund regiert haben und bislang nirgendwo einen Innenminister gestellt haben. Ich bin mir sicher, dass ich das noch erleben werde, dass die Grünen auch mal einen Bundes- oder Landesinnenminister stellen werden. Ich finde es wichtig, dass auch wir Grüne deutlich machen, das Thema Innere Sicherheit, da geht es nicht darum, wollen die einen es, wollen die anderen es nicht, sondern es geht darum, es gibt unterschiedliche Vorschläge, und jetzt muss man schauen, welche Vorschläge am sachdienlichsten sind. Bei uns geht es immer darum, die Dinge müssen sich in der Praxis bewähren.
    Armbrüster: Ich glaube, viele Menschen, die uns jetzt zuhören, die fragen sich da, haben wir denn tatsächlich jetzt noch diese viele Zeit, um so etwas jetzt wirklich richtig ausführlich zu diskutieren. Muss da nicht etwas Tempo rein, in diese Debatte?
    "Mit uns wird es einen Abbau von Freiheit zugunsten von Sicherheit nicht geben"
    Özdemir: Das ist richtig, aber genauso ist es auch wichtig, dass man immer lernt aus den Fällen. Nun schauen Sie sich mal an, all die Leute, die wir da bislang hatten mit ihren schrecklichen Terroranschlägen von Nizza bis nach Berlin, waren uns vorher bekannt. Sie waren auf dem Radar-Screen, sie haben sich zum Teil hier radikalisiert. Oder wir hatten ihre Spur, und dann sind sie irgendwann mal verschwunden. Und das sind wir, glaube ich, auch den Leuten, die zuhören, schuldig, das ist der Job der Opposition, kritisch nachzufragen. Das tun wir. Wir wollten ja heute eine Sondersitzung des Bundesinnenausschusses im Bundestag. Leider wollte die Große Koalition nicht. Da haben wir viele kritische Fragen. Das muss aufgearbeitet werden, und natürlich gehört es auch in die Aufgabenbeschreibung der Politik, zu schauen, wo gab es Versäumnisse, wo muss man gegebenenfalls ändern. Dem verschließen wir uns ja nicht, das habe ich sehr deutlich gesagt. Aber mit uns wird es sicherlich nicht einen Abbau von Freiheit zugunsten von Sicherheit geben. Wir brauchen beides gleichzeitig. Das können wir machen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir dafür Mehrheiten kriegen immer dann, wenn die Sachen sinnvoll und plausibel sind.
    Armbrüster: Sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen. Vielen Dank, Herr Özdemir, für Ihre Zeit heute Morgen!
    Özdemir: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.