Archiv

Cem Özdemir zur Türkei
"Die Opposition ist de facto Freiwild"

Der türkische Präsident Erdogan tue alles, um die Parlamentswahl im November nicht zu verlieren, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir im DLF. Aufgrund der angespannten Lage riskierten Anhänger der pro-kurdischen HDP im Wahlkampf ihr Leben. Dass die türkische Regierung nichts über den Anschlag von Ankara wisse, sei bemerkenswert.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, spricht am 10.10.2015 beim Landesparteitag der baden-württembergischen Grünen in Pforzheim (Baden-Württemberg)
    Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir (picture alliance / dpa / Uli Deck)
    "In Ankara fliegt kein Vogel, ohne dass die Regierung Bescheid weiß", sagte der Grünen-Politiker im Deutschlandfunk. Dass Bomben hochgehen, sei "schon bemerkenswert". Bereits vor dem Attentat ist laut Özdemir auf Veranstaltungen der Regierungspartei AKP öffentlich angekündigt worden, dass "sehr viel Blut fließen wird". Dass sich die AKP nun um Aufklärung bemühe, bezweifle er.
    Die Europäische Union forderte Özdemir auf, die Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Erdogan auszusetzen. Die EU benötige die Türkei, aber keinen Mann, der sein Land ins Chaos stürze, sagte Özdemir im Deutschlandfunk. Bis zur Parlamentswahl am 1. November solle alles vermieden werden, was so aussehe, als würde man Erdogan stärken.
    Erdogan tue alles, um die Wahl nicht zu verlieren. "Ich versuche mir vorzustellen, wie ein Wahlkampf stattfinden soll in einer Situation, in der die Opposition de facto Freiwild ist." Wahlkampf in der Türkei bedeute vor allem öffentliche Kundgebungen - und hierbei riskiere man als Anhänger der pro-kurdischen HDP sein Leben, so Özdemir.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Dirk-Oliver Heckmann: Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Herr Özdemir.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Was halten Sie von dem Vorwurf, mitverantwortlich zumindest sei die Regierung Erdogan? Ist das nicht ein bizarrer Vorwurf?
    Özdemir: Erst mal will ich auch in Anwesenheit des türkischen Botschafters herzliches Beileid wünschen an alle Hinterbliebenenfamilien. Wir wissen jetzt noch nicht mal die genauen Zahlen, die Zahlen divergieren ja deutlich. Die türkischen Behörden sprechen von 95 Toten, die HDP hat jetzt eine Liste von 120 Personen veröffentlicht, acht weitere vermisst. Die Regierung spricht oder die Behörden sprechen von 245 Verletzten, die HDP hat jetzt eine Liste von tausend veröffentlicht, davon 100 schwer. Das zeigt die ganze Dramatik der Situation. Ich versuche, mir gerade vorzustellen, wie ein Wahlkampf eigentlich stattfinden soll in einer Situation, wo die Opposition de facto Freiwild ist. Wer die Türkei kennt weiß: Wahlkampf heißt überwiegend öffentliche Wahlkundgebungen. Eine Wahlkundgebung der HDP bedeutet, dass man sein Leben riskiert. Und jetzt kann man sich die Frage stellen, wer ist dafür verantwortlich in einer Stadt wie Ankara, die vollgestellt ist mit Überwachungskameras. Ich bin mal sehr gespannt, ob es diesmal wenigstens Bilder geben wird davon. Oder ob die auch zufälligerweise verschwunden sein werden.
    Heckmann: Das heißt, Sie unterstellen den Behörden in der Türkei, ihre Arbeit nicht zu machen?
    Özdemir: In Ankara fliegt kein Vogel, ohne dass der Staatspräsident und die Regierung Bescheid wissen darüber. Und dass hier mehrere Bomben hochgehen und man nichts darüber weiß, das ist doch schon sehr bemerkenswert. Der türkische Ministerpräsident hat gestern mehrfach gesagt, der Staat hätte auch das Verbrechen, das von ISIS offensichtlich war, letztes Mal aufgeklärt und den Täter gefasst in dem Ort Suruc damals an der Grenze zu Syrien, wo sich ebenfalls junge Menschen versammelt hatten, die nichts anderes vorhatten, als in Kobane Aufbau zu leisten. Man muss nur wissen: Der Täter ist nicht gefasst worden, sondern der ist bei einem Selbstmordattentat selber ums Leben gekommen. Also ein Ministerpräsident, der so gut informiert ist über die Situation im eigenen Land, da macht man sich doch ein Fragezeichen, inwiefern die Aufklärung stattfindet. Übrigens wird das in der Türkei mittlerweile auch gar nicht mehr versteckt.
    Über Cem Ödzdemir:
    Geboren 1965 in Urach, Baden-Württemberg. Studium der Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen. Seit 1981 Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen, seit November 2008 deren Bundesvorsitzender und seit 1994 Bundestagsabgeordneter. Özdemir war beim ersten Einzug zusammen mit Leyla Onur der erste Bundestagsabgeordnete mit türkischer Herkunft. Von 2004 bis 2008 war er Mitglied des Europäischen Parlaments.
    Heckmann: Und wenn das so ist, Herr Özdemir, wenn das so sein sollte, wie Sie sagen, war es dann nicht sehr weise vor diesem Hintergrund, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei faktisch auf Eis zu legen?
    Özdemir: Ich glaube, es war ein großer Fehler, dass Frau Merkel damals, als sie die Macht von Rot-Grün übernommen hat, sich um die Türkei nicht mehr gekümmert hat und die Türkei mehr oder weniger ignoriert hat. Das hat die antitürkischen Kräfte in der Türkei massiv gestärkt. Rot-Grün hat sich sehr intensiv um die Türkei gekümmert. Wir sind uns ja alle einig in Deutschland, dass die Türkei ein wichtiges Land ist und dass wir ein Interesse daran haben, dass die Türkei sich in die Richtung Demokratie entwickelt und nicht in eine Art Krisenstaat im Nahen Osten abgleitet. Ich befürchte, dass Letzteres gerade massiv passiert. Die Regierung in Ankara hat sich mehr oder weniger mit gewalttätigen ultranationalistischen Gruppierungen eingelassen. Einer der Aktivisten, Sedat Peker, der übrigens in Deutschland früher gelebt hat, hat einen Tag vorher auf einer Veranstaltung der AKP in der Stadt Risé wörtlich gesagt, es wird viel Blut fließen, wir werden ihnen unsere Kraft beweisen. Und jetzt kommt ein wichtiger Satz: "Wenn Erdogan verliert, sind wir alle verloren." Und genauso wird der Wahlkampf geführt. Offensichtlich fließt sehr viel Blut, öffentlich angekündigt auf AKP-Veranstaltungen. Und die AKP sagt auch klar, was für sie auf dem Spiel steht. Wenn sie die Macht verliert befürchten sie, dass es Ermittlungsverfahren geben wird gegenüber ihren Verfehlungen in der Vergangenheit. Und offensichtlich will Herr Erdogan wie bei der letzten Wahl alles tun, um diese Wahl nicht zu verlieren. Und alles heißt für ihn alles.
    Heckmann: Wir haben, Herr Özdemir, nicht mehr so viel Zeit, wollen aber darauf blicken, wie die Europäische Union reagieren sollte. Die EU, die braucht Erdogan ja jetzt in der Flüchtlingskrise.
    Özdemir: Ich widerspreche! Die EU braucht die Türkei, aber sie braucht nicht einen Mann, der sein Land ins Chaos stürzt.
    Heckmann: Es gibt Überlegungen, die Türkei auf eine Liste der sicheren Herkunftsstaaten zu setzen. Welche Konsequenzen sind aus den jüngsten Vorfällen zu ziehen?
    Özdemir: Ich stelle fest: Wir kämpfen gegen ISIS und betrachten ISIS als eine terroristische Organisation. Die Türkei hat nach übereinstimmenden Berichten türkischer Journalisten Waffen an ISIS und andere Islamisten geliefert. Da kann ich nicht sehen, dass wir ein gemeinsames Interesse hätten. Im sicheren Herkunftsland Türkei, wie sich es manche vorstellen, werden die Leichen von getöteten Kurden hinter Panzern gebunden und durch die Städte geschleppt, um die Menschen abzuschrecken, und Städte bombardiert. Ich gehe davon aus, dass sich die Debatte um das sichere Herkunftsland Türkei mit dem schrecklichen terroristischen Angriff erledigt haben dürfte.
    Heckmann: Und davon gehen Sie auch aus, dass das so ist?
    Özdemir: Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand, der alle Sinne beieinander hat, ernsthaft glaubt, dass vor dem 1. November Gespräche mit Herrn Erdogan, der sein Land bewusst ins Chaos stürzt, sinnvoll sein könnten. Wir sollten jetzt alles [Red. gemeint ist "nichts"] tun, was danach aussieht, dass wir Herrn Erdogan stärken. Wir sollten die Türkei stärken, wir sollten die demokratische Opposition stärken. Wir sollten Ihre Berufskollegen in der Türkei, die gerade sehr gefährdet sind, zusammengeschlagen zu werden, umgebracht zu werden oder eingesperrt zu werden. Die sollten wir stärken, aber sicherlich nicht autoritäre Kräfte in der Türkei. Wer mit der Türkei verhandeln möchte, kann auch warten, bis die Wahl am 1. November stattgefunden hat.
    Heckmann: Der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Özdemir, danke Ihnen für Ihre Zeit, für das Interview und Ihnen einen schönen Tag.
    Özdemir: Gerne! Ebenfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.