Die Verärgerung Oettingers über die belgischen Regionen ist deutlich zu hören: Er mische sich als EU-Kommissar auch nicht in Angelegenheiten beispielsweise der Bundesländer ein, sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk. Das Handels- und Wettbewerbsrecht sei eine Kernkompetenz der Europäischen Union. "Wenn man einen Binnenmarkt hat, dann muss man auch nach außen mit einer Stimme verhandeln. Wenn jedes Land seine eigenen Handelsabkommen hätte, dann müssten wir an der Grenze zwischen Straßburg und Kehl kontrollieren."
Für künftige Verhandlungen müssen die Kompetenzen der EU, der Staaten und der Regionen nach Oettingers Ansicht klarer voneinander abgegrenzt werden. Es gehe dabei nicht nur um TTIP, das geplante Handelsabkommen mit den USA, sondern auch um weitere Übereinkünfte beispielsweise mit Australien und China.
Die Zusatzerklärung zum CETA-Abkommen, die von den belgischen Regionen jetzt durchgesetzt wurde, enthalte eigentlich nichts Neues, betonte Oettinger. Diese Klarstellungen seien eigentlich nur Wiederholungen, alle Inhalte seien auch schon im Vertragsentwurf festgeschrieben gewesen. Aber wenn ein Mitgliedsstaat diese Erklärung benötige, dann habe man das in Kauf zu nehmen.
Günther Oettinger (CDU) ist Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Die Meldung aus der belgischen Innenpolitik kam gestern kurz nach zwölf Uhr, also etwa eine Frittenlänge vor dem Mittagessen. Im Streit um das europäisch-kanadische Handelsabkommen CETA hat sich die Zentralregierung mit den Regionen des Landes geeinigt. Die Wallonie, die übrigens in eindrucksvollem Umfang Waffen nach Saudi-Arabien liefert, mit Kanada aber nur mäßig Handelsverbindungen unterhält, hat die schweren Bedenken überwunden und CETA zugestimmt.
Ebenso die Hauptstadtregion Brüssel und die französischsprachige Gemeinschaft. Da war es aber schon zu spät für den Gipfel Justin Trudeau hatte geduldig bis tief in die Nacht auf weißen Rauch in Namur gewartet. Irgendwann hat sich der kanadische Ministerpräsident dann aber ins Bett gelegt. Kann ja mal passieren, wenn man mit dieser Europäischen Union Verträge schließen möchte. Ende gut, alles gut? - Nach dem Durchbruch in den belgischen Verhandlungen stimmen heute die Regionalparlamente über den Kompromiss ab.
Am Telefon ist Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Guten Morgen.
Günther Oettinger: Guten Morgen.
Heinemann: Hat sich die Wallonie um die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Europa verdient gemacht?
Oettinger: Ich glaube, dass diese Klarstellungen im Kern nur Wiederholungen sind. Das heißt, Sie können sehen, dass der Vertragsentwurf eigentlich all diese Sorgen und diese Erwartungen schon erfüllt, aber es wurde eben nochmals wiederholt, wenn Sie wollen klargestellt. Wenn dies notwendig war, haben wir es in Kauf zu nehmen. Das Grundproblem ist ein anderes. Wir haben einen europäischen Binnenmarkt mit einem Standard für Waren und Güter, zum Beispiel indem wir sagen, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel bei uns nicht verkauft werden dürfen. Wenn jetzt die Mitgliedsstaaten einzelne Handelsabkommen machen würden und Frankreich würde dies gestatten, Deutschland nicht, dann müssten wir an der Grenze von Straßburg nach Kehl Kontrollen durchführen. Und wenn Sie einen Binnenmarkt haben, dann müssen Sie auch nach außen gemeinsam verhandeln, mit einer Stimme verhandeln.
Heinemann: Frage ist nur, auf welchem Standard.
Oettinger: Ja, ja. Aber der Standard, der kann ja im Rat, im Handelsministerrat, an dem Herr Gabriel teilnimmt, von den Mitgliedsstaaten stark geprägt werden.
Wir als Kommission verhandeln auf der Grundlage eines Mandates. Das geben uns die Mitgliedsstaaten. Das heißt, indem die Belgier, die Deutschen, alle anderen 28 Länder insgesamt uns ein Mandat geben, Vorgaben geben, haben sie in der Hand, was geht und was geht nicht. Zum Beispiel dürfen wir um Kultur nicht verhandeln, um Grundversorgung bei den Medien, ARD, ZDF, Deutschlandradio nicht verhandeln, um das Thema öffentlich-rechtliche Theater nicht verhandeln, und diese Grenzen halten wir alle ein.
Heinemann: Aber die Wallonie ist doch noch viel weiter gegangen. Die haben gesagt, Justiz darf nicht privatisiert werden, Wasserversorgung darf nicht privatisiert werden, wir brauchen das Vorsorgeprinzip. Das heißt, dass zum Beispiel Chemikalien, die möglicherweise schädlich sind, schon verboten werden und nicht erst, wenn der Beweis erbracht wird. Noch mal: Wieso bedarf es einer Region, um diese Rechte der Bürger durchzubringen, und nicht der Kommission?
Oettinger: Die Daseinsvorsorge ist eine Erwartung, die in Deutschland lange besteht. Die hat die Bundesregierung formuliert im Rahmen der Mandatierung und die beachten wir. Dazu wäre eine Region nicht notwendig gewesen. Wenn sie hier noch mal ein Ausrufezeichen setzen will, weil sie es braucht, dann in Gottes Namen, aber genau diese Erwartungen, die haben wir von den Mitgliedsstaaten. Die kann eine nationale Regierung formulieren, die kann im Mandat klargestellt sein, dann beachten wir sie auch.
Heinemann: Sind die Kanadier Ihres Wissens eigentlich bereit, die von den Belgiern formulierten Präzisierungen und Vorbehalte uneingeschränkt jetzt mitzutragen?
Oettinger: Davon gehen wir aus. Diese Punkte sind ja nicht in den letzten Stunden aufgekommen, die sind seit einigen Tagen, gar Wochen da, die wurden von meiner Kollegin Malmström auch mit der kanadischen Ministerin kommuniziert. Wir glauben, dass jetzt die Chancen, heute die Regionalparlamente, dann die Ratifizierung, vorher die Unterschrift durch die Mitgliedsstaaten, dann die vorläufige Anwendung, dass dies alles laufen kann. Aber das Verfahren der endgültigen Genehmigung bis hin zum notwendigen Urteil in Karlsruhe, das wird noch einige Monate benötigen.
"Wir haben alle Vorbehalte bestätigt, dass Europa schwer handlungsfähig wäre"
Heinemann: Herr Oettinger, hat sich die EU in dieser Woche blamiert?
Oettinger: Zumindest haben wir alle Vorbehalte bestätigt, dass Europa schwer handlungsfähig wäre. Schauen Sie, ich mische mich als Kommissar in Lehrpläne und Schulpolitik unserer Bundesländer nicht ein. Dies ist Ländersache. Ich halte mich in vielen Fragen der Bundespolitik, Steuerrecht zum Beispiel, völlig raus. Aber umgekehrt: Wettbewerbsrecht und Handelsrecht und Binnenmarktrecht sind europäische Kernkompetenz.
Und ich glaube, dass eine Entflechtung der Kompetenzen dringend nötig ist, und deswegen erwarte ich mit großer Hoffnung das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das im Frühjahr nächsten Jahres kommen wird, in dem die Frage, welches Abkommen ist gemischt und was ist EU-only-Kompetenz, was ist allein Sache von Rat, Parlament und Kommission in Brüssel und Straßburg, dass diese Klärung im Frühjahr erfolgt. Dann hätten wir in Zukunft vermutlich weniger Probleme und weniger Mischzuständigkeiten und wären schneller handlungsfähig.
"Es geht insgesamt um die Frage der europäischen Wirtschaft"
Heinemann: Fragt sich, was das für die Zukunft bedeutet. Nach CETA ist ja vor TTIP. Sollte man den USA signalisieren, vergesst es gerade?
Oettinger: Mit Sicherheit wird man in den nächsten Wochen diese Frage beantworten müssen, sind wir noch handlungsfähig. Ich glaube, ja. Übrigens: Es geht ja nicht nur um die USA. Australien, Neuseeland sind vor der Tür. Wir müssen mit China unser bestehendes Recht modernisieren. Das heißt, es geht insgesamt um die Frage der Beziehungen der europäischen Wirtschaft, der europäischen Arbeitswelt zu anderen Märkten auf der Welt, und deswegen müssen wir sicherlich das Urteil vom Frühjahr nächsten Jahres im Auge besprechen, wie wir die Handlungsfähigkeit und die Zuständigkeit zwischen der EU-Ebene, der nationalen Ebene, der regionalen Ebene klarstellen.
"Die anderen werden mit Sicherheit in Zukunft weniger Vertrauen in uns haben"
Heinemann: Aber kann man sich vorstellen, dass die Airforce One in Washington auf der Startbahn wartet, bis der Stadtrat von Charleroi zu Potte gekommen ist?
Oettinger: Schwer vorstellbar. Die anderen werden mit Sicherheit in Zukunft weniger Vertrauen in uns haben und erst mal sich zurücklehnen und abwarten, bis Europa seine Entscheidungen, egal wie komplex sie sein mögen, getroffen hat.
Heinemann: Gregor Gysi hat am Mittwoch bei uns im Deutschlandfunk in diesem Zusammenhang folgenden Zustandsbericht der Europäischen Union abgegeben:
Gregor Gysi: "Wir haben doch eine Situation in Europa, dass viele Mehrheiten der Bevölkerung heute die EU gar nicht mehr wollen. Ich kritisiere die EU auch scharf, sage, sie ist unsozial, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig, bürokratisch und vor allen Dingen auch intransparent.
Und dann sage ich aber, wir müssen sie retten, aus mehreren Gründen. Der wichtigste Grund: Es gab noch nie zwischen zwei Mitgliedsländern der EU einen Krieg. Diese Kriege haben aber vorher die gesamte europäische Geschichte gekennzeichnet. Also sage ich, müssen wir was tun. Wir brauchen einen Neustart und wir müssen endlich die Bevölkerung mitnehmen."
"Ich mag Gregor Gysi"
Heinemann: Das Gespräch mit Gregor Gysi, Herr Oettinger, war eines der meistgelesenen bei uns auf Deutschlandfunk.de, und bezeichnenderweise hat sich ein Vertreter der EU-Kommission in Deutschland bei uns über dieses Interview beschwert. Wie sehen Sie das? Sollte man die EU herunterfahren und neu starten?
Oettinger: Beschwerden über Interviews sind generell falsch.
Heinemann: Können wir das schriftlich haben?
Oettinger: Übrigens: Ich mag Gregor Gysi. Ich traf ihn mehrfach in Berlin, er ist ein spannender Kopf. Aber er ist der Einzige, den ich seit mehr als fünf Jahren nach Brüssel eingeladen habe, der nie kam. Das heißt: Wenn ein führender deutscher Politiker die europäische Arbeit nur aus Berlin betrachtet und sich nie die Mühe macht, einmal in Brüssel mit Kommissionsvertretern, mit Parlament, mit den Diensten zu sprechen, dann ist diese Kritik und die Forderung eines Neustarts wenig glaubwürdig.
Ich würde sagen, Herr Gysi soll mal rasch starten und nach Brüssel kommen, dann können wir darüber reden. Aber nicht mit Kommandos aus Berlin.
"Wir sollten einmal die Vorteile wieder in den Vordergrund rücken"
Heinemann: Wir hoffen, er hört uns. - Aber stimmt denn die Grundaussage? Eine Situation, sagt er, in der viele Menschen, eine Mehrheit der Bevölkerung diese EU nicht mehr wollen, und wir brauchen eine Situation, in der wir die Bevölkerung wieder mitnehmen können.
Heinemann: Wir hoffen, er hört uns. - Aber stimmt denn die Grundaussage? Eine Situation, sagt er, in der viele Menschen, eine Mehrheit der Bevölkerung diese EU nicht mehr wollen, und wir brauchen eine Situation, in der wir die Bevölkerung wieder mitnehmen können.
Oettinger: Ich glaube, dass die EU bei allen Problemen viele Aufgaben täglich erfüllt. Wir sprechen mehr denn je mit einer Stimme, wenn es um Entwicklungshilfe im Norden Afrikas geht, wenn es um den Donbass und den Konflikt mit den Russen geht. Wir haben einen täglichen Waren- und Güterverkehr am Rhein zwischen Colmar, Freiburg, Straßburg, Kehl. Die Menschen sind freizügig. Waren kaufen, arbeiten, Freizeit genießen, Sport machen, Urlaub machen in Europa. Wir haben 19 Länder mit einer Währung. Ich musste früher von Tübingen nach Südtirol fahren, wo ich Hilfsschullehrer war, und musste D-Mark in Ösis und Ösis in Lira umtauschen, habe acht Geldbeutel gehabt für meine kleinen Münzen. Heute eine Währung!
Ich glaube, wir sollten einmal die Vorteile wieder in den Vordergrund rücken. Hätten wir einen Tag Europa nicht, würden wir erst begreifen, wie richtig und wichtig die Europäische Union mit all den vielen Vorteilen, Frieden, Werte, Binnenmarkt, Währung, Freizügigkeit längst geworden ist.
Heinemann: Eine Frage habe ich noch. Dass das Wort der EU-Kommission Gewicht hat, das hat ja nicht zuletzt der Kirchengemeinderat von Biberach zu spüren bekommen. Seit Ihrem Zitat ist der quasi in die Weltöffentlichkeit gerückt worden. Haben Sie mit den Gemeinderäten schon mal gesprochen oder die mit Ihnen?
Oettinger: Nein, aber ich habe das Interview des Dekans mit Freude gelesen in der Süddeutschen vor zwei Tagen, glaube ich, und mein Büro ist dabei, ein Telefonat zu vermitteln. Ich kenne Biberach sehr gut, eine stolze starke Stadt, eine wirtschaftlich erfolgreiche Stadt. Aber ein früherer Landtagsabgeordneter sagte einmal zu mir: Günther, lieber der Pfarrer in Biberach als Meisner in Stuttgart.
Damit wollte er sagen, wir sind zwar ländlicher Raum, aber sind unabhängig und stolz.
Und ich wollte einfach an diesem Beispiel, weil ich Biberach liebe, das gehört zu Oberschwaben, zu meiner Heimat, meine Mutter stammt aus der Nachbarschaft, aufzeigen: Es kann doch nicht sein, dass jede stolze Stadt mitwirkt, wenn in Wahrheit, nehmen Sie einmal die ostbelgische Gemeinschaft derzeit, die müssen zustimmen, das sind 70.000 Einwohner, damit wäre Europa mit 500 Millionen Einwohnern nicht mehr handlungsfähig.
Heinemann: Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Oettinger: Einen guten Tag!
Heinemann: Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.