"Der 23. März war ein großartiger Tag an Bord. Um 6 Uhr morgens haben wir die enorme Tiefe von 4.600 nautischen Faden gemessen." So berichtete der Schiffssteward Joseph Matkin seiner Mutter in einem Brief von dem großen Ereignis im Jahr 1875. "Weil wir uns unsicher waren, ob das stimmte, haben wir die Messung mit einem schwereren Gewicht und zwei Thermometern wiederholt."
Die Wassertiefe im offenen Meer zu messen ist verzwickt, denn Schiffe driften und Tiefenströmungen können das Lot davontragen. Die Lotmaschine an Bord der Challenger war die Speerspitze der Technik – mit mehreren Gewichten, die an kräftigem Garn hingen und am Meeresboden ausgehakt wurden. Eine dünne, durch die Gewichte gesteckte Stange wurde nach oben gezogen. An ihrer Spitze klebte etwas Tiefseeschlamm – der Beweis für die Bodenberührung.
"Wir müssen das Lot in ein Tiefseetal abgelassen haben, dort ging es so weit von der Oberfläche in die Tiefsee hinab, wie der Mount Everest hoch ist."
Der tiefste gemessene Punkt auf der Erdoberfläche
8.184 Meter war das Meer hier tief: der tiefste bis dahin gemessene Punkt auf der Erdoberfläche. Die Männer an Bord der HMS-Challenger hatten den Marianengraben entdeckt, eine Tiefseerinne im Pazifik, 2.000 Kilometer östlich der Philippinen. Ingenieurassistent W.J.J. Spry notierte:
"Die Proben aus dieser Tiefe bestanden aus einem dunklen, mit Mangan gemischten Vulkansand. Durch den enormen Druck in dieser Tiefe zerbrachen die meisten Thermometer. Eines überstand diese Prüfung und zeigte eine Temperatur von 1,5 Grad Celsius an, wobei die Oberflächentemperatur (des Wassers) 27,5 Grad betrug."
Wettlauf mit den Amerikanern
Die Expedition der HMS Challenger markiert den Beginn der Tiefseeforschung. 200.000 britische Pfund – rund 15 Millionen Euro – investierte die Regierung Ihrer Majestät in das Projekt – mehr als in alle anderen. Zum einen brauchte man für die Verlegung der Telegraphenkabel zwischen den Kontinenten bessere Kenntnisse über den Ozeanboden. Zum anderen hatte ein wissenschaftlicher Wettlauf begonnen:
"Wir haben kürzlich davon erfahren, dass andere Nationen die Physik und Biologie der Tiefsee erforschen wollen, und deshalb erscheint es mir und meinen Kollegen an der Zeit zu sein, die Bedeutung einer systematischen Erforschung der Tiefsee vor unsere Regierung zu bringen", schrieb der Zoologe und Expeditionsleiter Charles Wyville Thomson 1871 an die Royal Society.
Ein Jahr später, am 21. Dezember 1872, legte die HMS Challenger im Hafen von Portsmouth ab. Vier Jahre sollte der eilig zum Forschungsschiff umgebaute Dreimaster mit Hilfsmotor die Weltmeere bereisen und dabei fast 70.000 Seemeilen zurücklegen.
"Wir legten 362 Beobachtungsstationen an, die so gleichmäßig wie möglich verteilt wurden. Sofern es die Umstände erlaubten, haben wir an jeder dieser Stationen folgende Messungen durchgeführt: die exakte Tiefe bestimmt, eine Bodenprobe genommen, eine Probe des Bodenwassers, die Temperatur am Boden gemessen."
Auf der Suche nach dem Urschleim
Unterstützt von 216 Crewmitgliedern und 21 Offizieren erkundeten die sechs Forscher Physik, Chemie und Biologie der Tiefsee und des Meeresbodens. Es ging um Fragen wie: Ist die Tiefsee tot? Ein Rückzugsort für andernorts ausgestorbene Tiere vergangener Epochen? Existiert Bathybius haeckelii, dieser Urschleim, der Übergang zwischen "Ding und Sein"? Als die Challenger am 24. Mai 1876 nach England zurückkehrte, stand fest: Es gibt keinen Urschleim – aber: "Fische und alle Mitglieder der Wirbellosen leben in allen Tiefen der Ozeane."
Und jedes dieser Tiere hat Ahnen im flachen Wasser, schrieb John Murray. Er hatte nach dem Tod von Charles Wyville Thomson die wissenschaftliche Leitung übernommen. Ehe alle Daten und Proben der Challenger-Expedition ausgewertet waren, sollten 20 Jahre vergehen. An jenem 23. März 1875 erwischte die Besatzung der HMS Challenger zwar nicht die absolut tiefste Stelle im Marianengraben – die liegt, wie 2014 gemessen, bei 10.984 Metern und ist 500 Kilometer entfernt. Doch zu Ehren aller Expeditionsteilnehmer heißt dieses Gebiet heute "Challengertief".
*Wir haben eine zeitliche Angabe korrigiert.