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Chamäleon und Schaufensterdekorateur

Der Wahlberliner Thomas Melle wurde zusammen mit Ariane Breidenstein, Paul Brodowsky und Kevin Vennemann für eine Jugend-Frühjahrsoffensive des Suhrkamp-Verlags unter dem Motto "Und nichts an mir ist freundlich" rekrutiert. Als Prosaautor beweist Melle einen ausgeprägten Sinn für Farben und Formen, für Oberflächenstrukturen. Die recht einsamen Multimedia-Fetischisten, die Thomas Melle schildert, erliegen dem Rausch des Kontrollverlusts - die meisten am PC, wenige in der Wirklichkeit.

Von Katrin Hillgruber |
    Raumforderung - das kann eine bedrohliche Volumenzunahme durch einen Krankheitsprozess bedeuten. "Raumforderung" kann aber auch die Wünsche eines überdrehten Pärchens in Berlin bezeichnen, das bei der samstäglichen Besichtigungstour fünf Zimmer mit Parkett für sich beansprucht. Im Bad der Traumwohnung drehen die beiden zum Entsetzen der Makler und Mitinteressenten durch, bis die Intensivstation winkt.

    Sei es die psychedelische Schönheit einer Schimmelwucherung oder die Zerstörung einer Beziehung via Internet: Lustvoll stellt Thomas Melles Prosadebüt ein gleißend buntes Jetzt aus, das in seiner Hybris vom Verfall bedroht ist. Gleich mit dem ersten Satz "Ediths Wohnung hat Krebs" gehen Medizin und Innenarchitektur eine gewagte Verbindung ein. Krebs wird hier als Metapher für grassierenden Geschmacksverfall gebraucht, für einen Dekorations-Overkill.

    " Die Metastasen treiben Plastikblumen, Goldherzen, Blumenkränze in die Ecken und Augenwinkel. Bunte Karzinome wuchern von allen Seiten in Richtung Fernseher. Alte Adventskränze nadeln auf persische Aldi-Teppiche, darüber streiten Stillleben aus der Maltherapie mit billigen Kunstdrucken um die Vorherrschaft. "Wuchernde Netze" heißt eine der zentralen Erzählungen des Buches. Darin geht es um einen Großschriftsteller, der unter einer Schirrmacher-Phobie leidet, seit ihn der FAZ-Herausgeber als "Goethes Fußabtreter" diffamierte. Die geschmacklich fragwürdige Metapher Krebs wird zum Stilmittel geadelt, um als "Krebsbarock" in der sarkastischen Lebensbeichte jenes Autors aufzutauchen.

    " Sie kennen das berühmte Diktum über Mörder und ihren extravaganten Stil? Ich hoffe. Ein weiteres, nicht minder berühmtes Diktum besagt, Die Sprache sei ein Virus. Aber das sind alles Schaumschlägereien. Deshalb noch ein Wort zu meinem (von einem befreundeten Professor in der ihm eigenen Anschmiegung an das Fremde tatsächlich so genannten und in einem Oberseminar ausgiebig analysierten) "Krebsbarock".

    Seit einigen Jahren denke ich nur noch in Netzwerken. Sehe ich eine Gruppe von Menschen, sehen ich ein engmaschiges Beziehungsgeflecht, ein Netz aus Vektoren, Korrelationen, Abhängigkeiten. Sehe ich ein Fernsehbild, sehe ich die Redaktion dahinter samt Akten, Allüren und Affären. "

    Diesem herrlich exaltierten Luxusgeschöpft des Literaturbetriebs bietet sich die Welt nur noch als "Gewebe und Vernetzung" dar. Doch nun droht den Schriftsteller offenbar selbst das Leiden ereilt zu haben, das ihm so viele bösartige Metaphern lieferte. Währenddessen macht ihm sein Sohn, der von jugendlicher Schizophrenie genesen ist, als Autor Konkurrenz.

    " Die Psychosen-Geschichte nun, die meinen Sohn und mich entzweien sollte, konzipierte ich als strukturell internetanalog. Ich betone: strukturell, als Gewebe ohne Mitte, als unkontrollierte Wucherung ohne Anfang und Ende. Die Ineinssetzung von Netz und Geist zu betreiben, [...] läge mir fern. Trotz deftiger Details bin ich nämlich ein höchst theoretischer Schriftsteller, der sich lieber in die nächste Metaschleife hochschraubt, anstatt in schnödem Realismus den Asphalt der Straße zu besingen. Ich bin ein Tänzer in Virtualität. "

    Der Vergleich der Gehirnstruktur mit der des virtuellen Netzes ist alles andere als neu, auch wenn das Ganze zu einem Text im üppigen sogenannten Krebsbarock verarbeitet wird. Unzählige Male lässt Gilles Deleuzes überstrapazierte Rhizom-Theorie aufs herzlichste grüßen. Das Bild vom Rhizom als einem demokratischen Wurzelgeflecht konterkariert den traditionellen, hierarchisch gegliederten Wissensbaum.

    " "Das Internet ist überall und nirgends. Es ist dem menschlichen Hirn nachempfunden, arbeitet über Assoziationen und verlinkt alles, wie das Hirn, nach der zweiten oder dritten Station mit Sex."

    Thomas Melle wurde zusammen mit Ariane Breidenstein, Paul Brodowsky und Kevin Vennemann für eine Suhrkampsche Jugend-Frühjahrsoffensive unter dem Motto "Und nichts an mir ist freundlich" rekrutiert. Emphatisch propagiert die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz in ihrem Vorwort zu einem Sonderdruck, dass es in der deutschen Literatur - Zitat - "endlich wieder um Sprache geht und um die Sprachlosigkeit in der Sprache". Das revolutionäre Quartett erzähle nicht nach, sondern vor - was immer das bedeuten mag.

    Ähnlich unausgegoren wie diese Ankündigung liest sich leider ebenso mache Erzählung in "Raumforderung". Das Niveau des Buches ist starken Schwankungen ausgesetzt. Da fallen Sätze ins Auge, die originell und einprägsam wie Songtexte der Neuen Deutschen Welle sind:

    "Speed in den Bahnen, innen und außen, von Geburt an: Blutspur und Bundesbahn."

    Oder es mischt sich in die Beschäftigung mit dem unendlichen Masterplan die jähe Melancholie des jungen Erwachsenenlebens:

    " Dieser Moment der Entfremdung, ein Zeitblitz im Bewusstsein, wenn du dich siehst, wie du vor Jahren warst. "


    Als Prosaautor verfügt der Wahlberliner Melle über Fähigkeiten, die sowohl einem Chamäleon als auch einem Schaufensterdekorateur zur Ehre gereichen würden. Ein ausgeprägter Sinn für Farben und Formen, für Oberflächenstrukturen und die spezifischen "Benutzeroberflächen" der Protagonisten prägt seine Texte. Die recht einsamen Multimedia-Fetischisten, die Thomas Melle schildert, erliegen dem Rausch des Kontrollverlusts - die meisten am PC, wenige in der Wirklichkeit. Zwischendurch kommt überraschend ein Kind zur Welt.

    Mancher verheddert sich in einem banalen Psychoslang wie in der Erzählung "Der Ken". Andere Nachwuchsdenker erliegen den Versuchungen des Abendlandhasses im Geiste des Dr. Benn, was sich hier aber nur spätpubertär liest. Doch trotz dieser eher schwachen seminaristischen Passagen begeistert "Raumforderung" immer wieder durch schiere, emphatische Lust an der Sprache, durch die vielen Brüche und nicht immer appetitlichen Überraschungen.
    " Dies ist mein vorletztes Kunstwerk:

    Gehe ich in die Küche, sehe ich in den Topf. Der Topf steht seit Wochen in meiner Küche. Ich wohne jetzt in einem Berliner Zimmer mit Ofenheizung, so wie früher. Die Küche ist immer kalt. Vor Wochen hatte ich im Verdacht, in diesem Topf könnte noch etwas sein, den Deckel abgehoben. Mit einem sanften Ploppen hatte er sich vom Rand des Topfes gelöst. So auch jetzt. Innen im Topf sieht es nach Pop-Art aus, oder nach den Relikten eines lange vergangenen Kindergeburtstags. Ein Miniaturgebirge aus Schimmel starrt mich an, flaumüberbacken, grell und pelzig ungesehen. Ein Ballen Sumpfgrün harrt am Topfrand träge der Dinge, während eine Biegung Krabbenrosé sich von links an ihn heranmacht, von einem ziemlich ätzenden Gelbgeäst angestachelt, das in einem großen Knoten Giftorange zusammenläuft. "

    Thomas Melle: Raumforderung. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 203 Seiten, 15,90 Euro.