"Was machst du denn?"- "Ich mach Tee gerade. So, was brauchen wir jetzt noch? Müsli brauchen wir noch. Hier, bringst du das Müsli mal rüber."
Donnerstagmorgen in Jenas Norden. Studentin Carola und ihre dreijährige Tochter Lida bereiten das Frühstück vor. Eigentlich sollte Lida schon im Kindergarten sein, doch weil so viele krank sind, hat die Einrichtung die Eltern gebeten, die Kleinen nach Möglichkeit Zuhause zu lassen. Spielplatz also statt Studium. Die Hausarbeit, an der Carola gerade schreibt, bleibt liegen. Wieder einmal. Die Thüringerin studiert Soziologie und Islamwissenschaften.
Eng geht es zu in der kleinen Dreizimmerwohnung. Schuhe stapeln sich im Flur, neben der Garderobe Lidas dicke Winterjacken. Mitten im Wohnraum ein altes Küchenbuffet, daneben ein Regal - vollgestopft mit arabischen Wörterbüchern, Reclamheften, Romanen von Thomas Mann, Kinderbüchern, Akten und Ordnern. Zwischendrin Grünpflanzen, ein kleiner Tisch, ein Sofa. 400 Euro warm kosten Carola die drei Zimmer im Monat. Sie hat Glück gehabt damals, als sie schwanger in Jena auf Suche ging. Die Studentin bewarb sich für die Sozialwohnung in dem schlichten 50er-Jahre-Block und bekam den Zuschlag. Wirklich wohlfühlen kann sie sich hier aber nicht:
"Wenn wir auf dem Spielplatz sind, merke ich schon, wie so ein ganz anderer Umgang mit den Kindern ist. Unter uns wohnt eine Familie, die brüllen ständig ihre Kinder an. Das ist hier einfach ein anderes Milieu, man merkt schon, dass die Kinder recht gewalttätig miteinander umgehen. Das ist nicht so schön."
Die Chance, in Jena als Studierende mit Kind etwas anderes Bezahlbares zu finden, ist gleich null, sagt Carola. Sie hat sich Wohngemeinschaften angesehen, auch um als Mutter mit Kind ein soziales Umfeld zu haben.
"Das hat nicht funktioniert. Erstens sind die Zimmer viel zu teuer, für zwei Zimmer 400 Euro, wenn man Glück hat. Und die WGs, die müssen dann auch noch ein Kind wollen. Und das wollen sie meistens nicht."
Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Geld von den Eltern, ab und zu ein Job an der Uni, Wohngeld: Rund 800 Euro hat Carola im Monat, die Hälfte davon geht für Miete drauf. Um über die Runden zu kommen, kauft sie nur beim Discounter ein, strickt Socken und Pullis für die Kleine, bekommt gebrauchte Kinderkleidung von Freunden geschenkt und geht auf Flohmärkte:
"Diese Wintersachen hier, die habe ich ihr neu gekauft, weil es da gerade so einen Kälteeinbruch gab und niemand irgendwas hatte. Die waren schon reduziert und bei H&M, aber so 50 Euro, das reißt dann schon ein ganz schönes Loch. Das ist das Einzige, was ich seit Langem selbst gekauft habe. Es ist nicht so, dass wir jetzt großartig sparen können oder was großartig Teures machen oder kaufen können."
Es ist Mittag geworden, Carola und Lida sind in die Mensa der Universität gefahren, mitten in der Innenstadt. Hier können die beiden günstig essen, für Kinder von Studierenden gibt es gegen Vorlage eines Ausweises eine kostenlose Portion. Das schont die ohnehin klamme Kasse.
BAföG-berechtigt war Carola nie. Studierende ohne BAföG-Anspruch mit Kind fielen durch alle sozialen Netze, so die Studentin. Ein elternunabhängiges BAföG würde hier viel helfen:
"Während der Elternzeit habe ich Hartz IV bekommen. Als ich wieder angefangen habe zu studieren, stand ich wirklich vor der Frage, was soll ich jetzt machen, wie soll ich mein Leben finanzieren mit dem Kind? Einfacher wäre es gewesen, wenn ich abgebrochen hätte und für immer im Hartz IV-Bezug geblieben wäre. Und das ist total tragisch. Ich habe mich damals so gefühlt, dass ich bestraft werde, weil ich mein Studium zu Ende machen will, obwohl ich ein Kind habe."
Das Studium zieht sich in die Länge, auch bei Carola. Fast 30 ist sie mittlerweile und immer noch an der Uni:
"Nach der Babypause hatte ich gearbeitet, da habe ich mich komplett alleine finanziert. Ich habe dann aber gemerkt, dass das nicht geht, wenn ich im Studium vorankommen will. Das war extrem stressig, das war so eine Fünffach-Belastung. Wir hatten noch keinen Betreuungsplatz. Das war schon hart."
Die junge Frau ist ehrlich: Dass sie so lange studiere, liege nicht nur an der Mehrfachbelastung mit Kind – aber auch. Eine bezahlbare Kinderbetreuung in Jena zu finden, ist schwierig. Kindergartenplätze sind begehrt, aber es gibt zu wenig davon. Carola meldete ihre kleine Tochter zunächst bei einer Tagesmutter an:
"Die ist relativ oft krank geworden und ausgefallen. Dann stand ich wieder da und hatte nichts. Das ist tatsächlich auch ein Grund, warum ich meine Hausarbeiten noch so verschleppt habe. Es erfordert sehr viel Organisationsaufwand, sehr viel Improvisation."
Leipzig am späten Samstagnachmittag. Luise Jungs sitzt in einem nüchternen Seminarraum der Handelshochschule Leipzig, kurz HHL. Zusammen mit drei Kommilitonen bereitet die Studentin eine Präsentation vor, Sonntagabend muss die fertig sein. Alles auf Englisch, wie immer. Hausarbeiten aufschieben, Vorlesungen ausfallen lassen: An der HHL ist so etwas nicht möglich, die Ansprüche an die Studierenden sind hoch. Die private Hochschule ist eine der führenden Business Schools in Europa. Wer hier seinen Abschluss macht, dem stehen die Türen meist offen. Luise Jungs macht gerade ihren Master of Science and Management.
Der Besuch der HHL hat seinen Preis. 25.000 Euro kostet Luises Masterstudium. Ihre Eltern, beide Akademiker, übernehmen die Kosten, auch für die Zweizimmermietwohnung in einem sanierten Altbau im Stadtteil Reudnitz. Die 23-Jährige kann sich so voll auf Vorlesungen und Seminare konzentrieren. Nach ihrem Bachelorstudium an einer öffentlichen Fachhochschule in Leipzig waren die hohen Studiengebühren an der Handelshochschule für sie eher ein Qualitätskriterium:
"Das war ehrlich gesagt für mich fast noch ein Faktor, das definitiv zu machen, weil ich das im Bachelorstudium erlebt habe, dass auch im Bereich BWL Leute dabei sind, die tatsächlich nicht das Engagement an den Tag legen, das man sich von Kommilitonen erhofft. Und so was gibt es an der HHL einfach nicht. Jeder, der dort ist, will das machen, will das Hundert Prozent machen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich und viele meiner Kommilitonen, die ich kenne, für die Einführung von Studiengebühren sind, nicht um irgendjemanden auszuschließen vom Studium, aber einfach um sicherzustellen, dass jeder, der dort ist, das auch wirklich will."
Auf dem Parkplatz vor dem Hochschulgebäude stehen ein paar größere Audis, ein Mercedes ist auch dabei, kein Porsche – wenn es auch einige wenige Studierende gibt, die einen fahren, erzählt Luise Jungs und lächelt. Sie selbst hat einen alten Skoda, bei dem die Zentralverriegelung gerade streikt.
Die Studentin steht kurz vor dem Abschluss. Ihr klares Ziel: ein gut bezahlter Job in einer Unternehmensberatung:
"Es ist so, dass bei uns die Wenigsten Angst haben müssen unter einem bestimmten Einstiegsgehalt einsteigen zu müssen, weil sie nichts anderes finden. Das gibt es nicht. Es ist nicht so, dass wir alle furchtbar reich werden wollen, es geht aber um so Sachen, wenn ich vier Tage freihabe und ich habe Lust, nach Paris zu fliegen, dann möchte ich mir keine Gedanken darüber machen, ob vielleicht die Lufthansa noch hundert Euro mehr kostet, und solche Sachen sind es eher, wo man die Zeit, die man hat, auch entsprechend nutzen möchte, ohne jeden Euro umdrehen zu müssen."
Zählt Luise sich zur Elite? Die Studentin hält inne, überlegt eine Weile, schüttelt langsam den Kopf. Elite? Der Begriff ist so negativ besetzt, antwortet sie. Eines aber stimme schon: Wer Akademikereltern habe, werde eher Richtung Studium geleitet als vielleicht Kinder von Nicht-Akademikern. Bei ihr sei immer klar gewesen, dass sie studiert. Dennoch ist die 23-Jährige davon überzeugt, dass es in Deutschland Bildungsgerechtigkeit gibt. Auch ein Studium an einer privaten Hochschule sei letztendlich nicht vom Einkommen der Eltern abhängig. Auch an der HHL hätten 30 bis 40 Prozent der Studierenden einen günstigen Studienkredit aufgenommen:
"Trotzdem gibt es genug Möglichkeiten, das Studium zu finanzieren. Und wenn das jemand wirklich will und die entsprechenden Leistungen hat, dann geht das. Und diese Ausrede, ich kann oder darf an irgendeiner Uni nicht studieren, weil das kostet ja Geld, das sehe ich ehrlich gesagt nicht ein."
Dann widmet sich Luise Jungs wieder ihren Kommilitonen und der gemeinsamen Präsentation. Die muss schließlich bald fertig sein.
Rund 30 junge Männer und eine junge Frau sitzen in einem hellen Seminarraum der Frankfurt School of Finance and Management und machen Gruppenarbeit. Das Ganze hat etwas von einer Schulklasse. Es geht um Präsentationstechniken bei Vorträgen und Hausarbeiten – ein eher "weiches" Fach, wie ein Student meint. Die Studierenden des Bachelorjahrgangs beschäftigen sich ansonsten vor allem mit der komplizierten und anspruchsvollen Welt der Finanzen. Einer von ihnen ist Philipp Amely. Der 21-Jährige absolviert in der Bankenmetropole am Main eine duale Ausbildung: Blockweise arbeitet er bei der Deutschen Postbank, dazwischen studiert der gebürtige Bonner BWL. Ein 13/ 14-Stunden-Tag ist an der Hochschule normal. Das Studium fordert einen extrem, sagt Philipp:
"Für mich persönlich wird es erst mal meine Belastungsgrenzen aufzeigen, dass ich sehe, wie belastbar ich in welchen Bereichen bin und wo für mich Ende ist. Andererseits bringt es auch intellektuell viel, weil man hat hier die perfekte Ausbildung, und ich denke, dass die Ausbildung einen sehr gut auf den weiteren Lebensweg vorbereitet und dass man dadurch die verschiedensten Möglichkeiten für die spätere Zukunft hat. "
Die Entscheidung für die private Hochschule bereut Philipp nicht - trotz Stress und wenig Freizeit. Der 21-Jährige hat sich den Schritt hierher gut überlegt, die Eltern waren seine wichtigsten Berater – immerhin ist der Vater BWL-Professor.
"Ich finde es ganz wichtig, dass man sich gerade da mit seinen Eltern austauscht, weil die Eltern ja doch das eine oder andere Jahr mehr Berufserfahrung haben als man selbst. Ihre Meinung war so das Wichtigste für mich in der Findungsphase."
Genauso wie die HHL in Leipzig kostet auch die Finanzhochschule in Frankfurt Geld, viel Geld. Rund 30.000 Euro wird Philipp Amely für das Bachelorstudium aufbringen müssen, inklusive Auslandssemester. Für ihn allerdings war von vornherein klar: Er will das alleine schultern mit einem Studienkredit – auch wenn die Eltern ihn sicher gerne unterstützt hätten. Die Schulden, die er sich für später aufbürdet, sind ihm bewusst, unruhig machen sie den jungen Mann mit dem grauen Kapuzenpulli nicht. Im Gegenteil: Er schaut selbstbewusst und recht gelassen in seine berufliche Zukunft, die ihn voraussichtlich erst einmal in eine Bank führen wird:
"Wenn man später mal etwas erreichen will, denke ich, ist die Ausbildung doch das Wichtigste und legt die entsprechenden Grundlagen. Und ob man da jetzt 2.000 oder 10.000 Euro für eine entsprechende Ausbildung bezahlt, ist, wenn man die entsprechenden Grundlagen hat und finanziell auch durch die Eltern irgendwo abgesichert ist, nicht so entscheidend. In einer meiner ersten Vorlesungen an der Frankfurt School wurde mir gezeigt, was so das Durchschnittsgehalt nach dem Abschluss eines Bachelors oder eines Masters ist, mit welchen Zahlen man da so rechnen kann. Wenn man diese Zahlen sieht, das bestärkt einen einfach auch, das Richtige zu studieren. Irgendwo guckt jeder doch später aufs Gehalt. Auch wenn Geld nicht alles im Leben ist. Es macht vieles im Leben leichter."
Daniela Matheis sitzt an ihrem Laptop in der Bibliothek der Universität Dresden und schreibt Bewerbungen. Die 27-Jährige hat gerade ihren Master in BWL gemacht und will jetzt ins Berufsleben starten, am liebsten im Bereich Marketing bei einem Lebensmittelkonzern. Daniela ist in ihrer Familie die erste mit einem akademischen Abschluss. Ihr Vater ist Elektriker, die Mutter Hausfrau. Damit gehört die junge Frau zu einer Minderheit in Deutschland.
Laut einer Studie des Deutschen Studentenwerks schaffen von hundert Nichtakademikerkindern gerade mal 24 den Sprung auf die Universität. Bei Kindern von Akademikern sind es 71 von 100, also fast dreimal so viele. In keinem europäischen Land ist der Bildungserfolg der Kinder so stark abhängig vom Bildungshintergrund der Eltern wie in Deutschland. Die hohe finanzielle Belastung ist dabei nur einer von vielen Gründen, die Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, häufig von einem Studium abhalten.
Daniela ist diesen für ihre Familie neuen Weg erfolgreich gegangen. Ihre Eltern haben sie immer unterstützt, sagt sie. Anders aber als bei Philipp Amely konnten sie aber bei der Wahl des Studienfachs und auch bei Finanzierung nur wenig helfen.
Die junge Frau aus Rheinland-Pfalz studierte zunächst an der Fachhochschule Koblenz, nah am Heimatort. Die ersten Schritte an der Hochschule, im akademischen Milieu, waren schwierig, erinnert sich Daniela:
"Ich will nicht sagen, dass Akademikerkinder auch die eine oder andere Hürde haben und sich am Anfang am Campus auch nicht zurecht finden. Aber ich finde es ganz wichtig, dass die Eltern schon eine gewisse rhetorische Basis ihren Kindern mitgegeben haben und gewisse Fremdwörter schon im normalen Sprachgebrauch vorhanden sind. Und das war bei mir nicht der Fall. Ich saß am Anfang in der Vorlesung und habe mir Fremdwörter, ganz normale Fremdwörter, keine Fachwörter, mitgeschrieben und Zuhause nachgeschlagen. Ich musste z.B. nachschlagen, was "Kommilitone" bedeutet, weil ich das nicht wusste."
Mit diesen Erfahrungen steht die 27-Jährige nicht alleine da. 2008 gründete Katja Urbatsch, damals Doktorandin in Gießen, das Internetportal "Arbeiterkind.de". Wie Daniela Matheis war auch Urbatsch die erste Akademikerin in ihrer Familie. Auch sie war an der Universität auf viele Hürden gestoßen. "Arbeiterkind" will Kindern von Nichtakademikern den Weg zu Abitur und Hochschulabschluss erleichtern. Die Ehrenamtlichen gehen an Haupt- und Realschulen sowie an Gymnasien, erzählen ihre Geschichte, geben Ratschläge. Fast über Nacht wurde das Internetportal zu einer bundesweiten Initiative. 2009 wurde "Arbeiterkind" im Wettbewerb "Deutschland – Land der Ideen" ausgezeichnet. Katja Urbatsch ist inzwischen hauptamtlich für die Initiative tätig. 70 Ortsgruppen gibt es mittlerweile und ein Onlinenetzwerk. Mehr als 5000 ehrenamtliche Mentoren arbeiten bundesweit mit. Auch Daniela Matheis:
"Wenn es darum geht, sich für ein Stipendium zu bewerben, auch da einfach nur Mut machen und sagen, das ist nicht nur was für absolute Überflieger und Hochbegabte, sondern auch für Leute, die sich engagieren, die trotzdem gute Leistungen haben. Da haben auch oft Arbeiterkinder so eine gewisse Bescheidenheit und trauen sich viele Dinge nicht zu, und die muss man so ein bisschen anstupsen, damit sie sich einfach trauen, das zu probieren."
Gegen 12 macht Daniela eine Pause, holt sich in der Mensa einen Salat und setzt sich zu Matthias Schüssler an den Tisch. Der junge Mann mit der runden Brille studiert an der Universität Dresden Politik und Soziologie. Die beiden kennen sich von "Arbeiterkind". Auch Matthias ist als Mentor tätig:
"Ich hatte letztens versucht, an einer Mittelschule unsere Initiative vorzustellen. Da wurde gesagt, also wir haben hier ganz andere Probleme. Bei uns sind nicht die Arbeiterkinder das Problem, sondern die Arbeitslosenkinder, so nach dem Motto: So eine Perspektive wie Abitur oder Studium, das ist für unsere Schüler nichts. Und da habe ich schon wieder gemerkt, da ist schon wieder diese Schranke im Kopf. Und wenn wir nur einem Schüler in der Klasse die Perspektive aufgeben und der vielleicht diesen Weg geht, dann wäre das ja schon ein Erfolg."
Auch für seinen eigenen Werdegang hätte Matthias sich eine solche Unterstützung gewünscht. Der heute 35-Jährige kam erst über viele Umwege an die Universität, obwohl er sich schon als Jugendlicher für Politik und Gesellschaft interessiert hatte. Doch nach der mittleren Reife im Rheinland-pfälzischen
Idar-Oberstein besuchte der Sohn eines kaufmännischen Angestellten und einer Stewardess zunächst eine Berufsschule für Wirtschaft – eine naheliegende Option, wie er heute sagt:
"Zum einen wusste ich zum damaligen Zeitpunkt auch noch nicht, was ich machen möchte. Es war zumindest so, dass das ein Berufsweg ist, den man nachvollziehen kann, den man kennt. Ich habe auch gesagt, ok, ich probiere es aus, vielleicht ist es ja was für mich."
Buchhaltung, DIN-gerechte Geschäftsbriefe schreiben, Finanzen – bald stellte sich heraus: Es war nicht der richtige Weg für Matthias Schüssler:
"Das war mir zu starr, zu langweilig. Und ich habe danach Praktikum in einer Werbeagentur gemacht, weil ich damals schon viel am Computer grafisch gearbeitet habe, und habe dann gemerkt, ok, in diese Richtung kann ich mir das eher vorstellen. Seit dem damaligen Zeitpunkt habe ich auch angefangen, mich politisch zu engagieren, habe viel im Wahlkampf mitgeholfen. Diese Schnittstelle zwischen Werbung, Internet, Wahlkampf und politischer Arbeit, das hat sich dann so nach und nach rauskristallisiert, dass ich das machen möchte beruflich."
Spätestens zu diesem Zeitpunkt, erinnert sich der angehende Politologe, hätte ihm eine Organisation wie "Arbeiterkind" viel geholfen. Wie mache ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur? Welche Fächer studiere ich am besten für mein berufliches Ziel? Heute weiß er, was er beruflich machen möchte: Wahlkampfmanager, Pressearbeit für Parteien - etwas in diese Richtung.
Bei "Arbeiterkind" wollen sich Daniela und Matthias auch weiterhin engagieren und dafür kämpfen, dass es in Deutschland in Zukunft mehr Bildungsgerechtigkeit gibt.
Alle Beiträge der Serie"Vom großen Wort Gerechtigkeit" im Überblick
Donnerstagmorgen in Jenas Norden. Studentin Carola und ihre dreijährige Tochter Lida bereiten das Frühstück vor. Eigentlich sollte Lida schon im Kindergarten sein, doch weil so viele krank sind, hat die Einrichtung die Eltern gebeten, die Kleinen nach Möglichkeit Zuhause zu lassen. Spielplatz also statt Studium. Die Hausarbeit, an der Carola gerade schreibt, bleibt liegen. Wieder einmal. Die Thüringerin studiert Soziologie und Islamwissenschaften.
Eng geht es zu in der kleinen Dreizimmerwohnung. Schuhe stapeln sich im Flur, neben der Garderobe Lidas dicke Winterjacken. Mitten im Wohnraum ein altes Küchenbuffet, daneben ein Regal - vollgestopft mit arabischen Wörterbüchern, Reclamheften, Romanen von Thomas Mann, Kinderbüchern, Akten und Ordnern. Zwischendrin Grünpflanzen, ein kleiner Tisch, ein Sofa. 400 Euro warm kosten Carola die drei Zimmer im Monat. Sie hat Glück gehabt damals, als sie schwanger in Jena auf Suche ging. Die Studentin bewarb sich für die Sozialwohnung in dem schlichten 50er-Jahre-Block und bekam den Zuschlag. Wirklich wohlfühlen kann sie sich hier aber nicht:
"Wenn wir auf dem Spielplatz sind, merke ich schon, wie so ein ganz anderer Umgang mit den Kindern ist. Unter uns wohnt eine Familie, die brüllen ständig ihre Kinder an. Das ist hier einfach ein anderes Milieu, man merkt schon, dass die Kinder recht gewalttätig miteinander umgehen. Das ist nicht so schön."
Die Chance, in Jena als Studierende mit Kind etwas anderes Bezahlbares zu finden, ist gleich null, sagt Carola. Sie hat sich Wohngemeinschaften angesehen, auch um als Mutter mit Kind ein soziales Umfeld zu haben.
"Das hat nicht funktioniert. Erstens sind die Zimmer viel zu teuer, für zwei Zimmer 400 Euro, wenn man Glück hat. Und die WGs, die müssen dann auch noch ein Kind wollen. Und das wollen sie meistens nicht."
Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Geld von den Eltern, ab und zu ein Job an der Uni, Wohngeld: Rund 800 Euro hat Carola im Monat, die Hälfte davon geht für Miete drauf. Um über die Runden zu kommen, kauft sie nur beim Discounter ein, strickt Socken und Pullis für die Kleine, bekommt gebrauchte Kinderkleidung von Freunden geschenkt und geht auf Flohmärkte:
"Diese Wintersachen hier, die habe ich ihr neu gekauft, weil es da gerade so einen Kälteeinbruch gab und niemand irgendwas hatte. Die waren schon reduziert und bei H&M, aber so 50 Euro, das reißt dann schon ein ganz schönes Loch. Das ist das Einzige, was ich seit Langem selbst gekauft habe. Es ist nicht so, dass wir jetzt großartig sparen können oder was großartig Teures machen oder kaufen können."
Es ist Mittag geworden, Carola und Lida sind in die Mensa der Universität gefahren, mitten in der Innenstadt. Hier können die beiden günstig essen, für Kinder von Studierenden gibt es gegen Vorlage eines Ausweises eine kostenlose Portion. Das schont die ohnehin klamme Kasse.
BAföG-berechtigt war Carola nie. Studierende ohne BAföG-Anspruch mit Kind fielen durch alle sozialen Netze, so die Studentin. Ein elternunabhängiges BAföG würde hier viel helfen:
"Während der Elternzeit habe ich Hartz IV bekommen. Als ich wieder angefangen habe zu studieren, stand ich wirklich vor der Frage, was soll ich jetzt machen, wie soll ich mein Leben finanzieren mit dem Kind? Einfacher wäre es gewesen, wenn ich abgebrochen hätte und für immer im Hartz IV-Bezug geblieben wäre. Und das ist total tragisch. Ich habe mich damals so gefühlt, dass ich bestraft werde, weil ich mein Studium zu Ende machen will, obwohl ich ein Kind habe."
Das Studium zieht sich in die Länge, auch bei Carola. Fast 30 ist sie mittlerweile und immer noch an der Uni:
"Nach der Babypause hatte ich gearbeitet, da habe ich mich komplett alleine finanziert. Ich habe dann aber gemerkt, dass das nicht geht, wenn ich im Studium vorankommen will. Das war extrem stressig, das war so eine Fünffach-Belastung. Wir hatten noch keinen Betreuungsplatz. Das war schon hart."
Die junge Frau ist ehrlich: Dass sie so lange studiere, liege nicht nur an der Mehrfachbelastung mit Kind – aber auch. Eine bezahlbare Kinderbetreuung in Jena zu finden, ist schwierig. Kindergartenplätze sind begehrt, aber es gibt zu wenig davon. Carola meldete ihre kleine Tochter zunächst bei einer Tagesmutter an:
"Die ist relativ oft krank geworden und ausgefallen. Dann stand ich wieder da und hatte nichts. Das ist tatsächlich auch ein Grund, warum ich meine Hausarbeiten noch so verschleppt habe. Es erfordert sehr viel Organisationsaufwand, sehr viel Improvisation."
Leipzig am späten Samstagnachmittag. Luise Jungs sitzt in einem nüchternen Seminarraum der Handelshochschule Leipzig, kurz HHL. Zusammen mit drei Kommilitonen bereitet die Studentin eine Präsentation vor, Sonntagabend muss die fertig sein. Alles auf Englisch, wie immer. Hausarbeiten aufschieben, Vorlesungen ausfallen lassen: An der HHL ist so etwas nicht möglich, die Ansprüche an die Studierenden sind hoch. Die private Hochschule ist eine der führenden Business Schools in Europa. Wer hier seinen Abschluss macht, dem stehen die Türen meist offen. Luise Jungs macht gerade ihren Master of Science and Management.
Der Besuch der HHL hat seinen Preis. 25.000 Euro kostet Luises Masterstudium. Ihre Eltern, beide Akademiker, übernehmen die Kosten, auch für die Zweizimmermietwohnung in einem sanierten Altbau im Stadtteil Reudnitz. Die 23-Jährige kann sich so voll auf Vorlesungen und Seminare konzentrieren. Nach ihrem Bachelorstudium an einer öffentlichen Fachhochschule in Leipzig waren die hohen Studiengebühren an der Handelshochschule für sie eher ein Qualitätskriterium:
"Das war ehrlich gesagt für mich fast noch ein Faktor, das definitiv zu machen, weil ich das im Bachelorstudium erlebt habe, dass auch im Bereich BWL Leute dabei sind, die tatsächlich nicht das Engagement an den Tag legen, das man sich von Kommilitonen erhofft. Und so was gibt es an der HHL einfach nicht. Jeder, der dort ist, will das machen, will das Hundert Prozent machen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich und viele meiner Kommilitonen, die ich kenne, für die Einführung von Studiengebühren sind, nicht um irgendjemanden auszuschließen vom Studium, aber einfach um sicherzustellen, dass jeder, der dort ist, das auch wirklich will."
Auf dem Parkplatz vor dem Hochschulgebäude stehen ein paar größere Audis, ein Mercedes ist auch dabei, kein Porsche – wenn es auch einige wenige Studierende gibt, die einen fahren, erzählt Luise Jungs und lächelt. Sie selbst hat einen alten Skoda, bei dem die Zentralverriegelung gerade streikt.
Die Studentin steht kurz vor dem Abschluss. Ihr klares Ziel: ein gut bezahlter Job in einer Unternehmensberatung:
"Es ist so, dass bei uns die Wenigsten Angst haben müssen unter einem bestimmten Einstiegsgehalt einsteigen zu müssen, weil sie nichts anderes finden. Das gibt es nicht. Es ist nicht so, dass wir alle furchtbar reich werden wollen, es geht aber um so Sachen, wenn ich vier Tage freihabe und ich habe Lust, nach Paris zu fliegen, dann möchte ich mir keine Gedanken darüber machen, ob vielleicht die Lufthansa noch hundert Euro mehr kostet, und solche Sachen sind es eher, wo man die Zeit, die man hat, auch entsprechend nutzen möchte, ohne jeden Euro umdrehen zu müssen."
Zählt Luise sich zur Elite? Die Studentin hält inne, überlegt eine Weile, schüttelt langsam den Kopf. Elite? Der Begriff ist so negativ besetzt, antwortet sie. Eines aber stimme schon: Wer Akademikereltern habe, werde eher Richtung Studium geleitet als vielleicht Kinder von Nicht-Akademikern. Bei ihr sei immer klar gewesen, dass sie studiert. Dennoch ist die 23-Jährige davon überzeugt, dass es in Deutschland Bildungsgerechtigkeit gibt. Auch ein Studium an einer privaten Hochschule sei letztendlich nicht vom Einkommen der Eltern abhängig. Auch an der HHL hätten 30 bis 40 Prozent der Studierenden einen günstigen Studienkredit aufgenommen:
"Trotzdem gibt es genug Möglichkeiten, das Studium zu finanzieren. Und wenn das jemand wirklich will und die entsprechenden Leistungen hat, dann geht das. Und diese Ausrede, ich kann oder darf an irgendeiner Uni nicht studieren, weil das kostet ja Geld, das sehe ich ehrlich gesagt nicht ein."
Dann widmet sich Luise Jungs wieder ihren Kommilitonen und der gemeinsamen Präsentation. Die muss schließlich bald fertig sein.
Rund 30 junge Männer und eine junge Frau sitzen in einem hellen Seminarraum der Frankfurt School of Finance and Management und machen Gruppenarbeit. Das Ganze hat etwas von einer Schulklasse. Es geht um Präsentationstechniken bei Vorträgen und Hausarbeiten – ein eher "weiches" Fach, wie ein Student meint. Die Studierenden des Bachelorjahrgangs beschäftigen sich ansonsten vor allem mit der komplizierten und anspruchsvollen Welt der Finanzen. Einer von ihnen ist Philipp Amely. Der 21-Jährige absolviert in der Bankenmetropole am Main eine duale Ausbildung: Blockweise arbeitet er bei der Deutschen Postbank, dazwischen studiert der gebürtige Bonner BWL. Ein 13/ 14-Stunden-Tag ist an der Hochschule normal. Das Studium fordert einen extrem, sagt Philipp:
"Für mich persönlich wird es erst mal meine Belastungsgrenzen aufzeigen, dass ich sehe, wie belastbar ich in welchen Bereichen bin und wo für mich Ende ist. Andererseits bringt es auch intellektuell viel, weil man hat hier die perfekte Ausbildung, und ich denke, dass die Ausbildung einen sehr gut auf den weiteren Lebensweg vorbereitet und dass man dadurch die verschiedensten Möglichkeiten für die spätere Zukunft hat. "
Die Entscheidung für die private Hochschule bereut Philipp nicht - trotz Stress und wenig Freizeit. Der 21-Jährige hat sich den Schritt hierher gut überlegt, die Eltern waren seine wichtigsten Berater – immerhin ist der Vater BWL-Professor.
"Ich finde es ganz wichtig, dass man sich gerade da mit seinen Eltern austauscht, weil die Eltern ja doch das eine oder andere Jahr mehr Berufserfahrung haben als man selbst. Ihre Meinung war so das Wichtigste für mich in der Findungsphase."
Genauso wie die HHL in Leipzig kostet auch die Finanzhochschule in Frankfurt Geld, viel Geld. Rund 30.000 Euro wird Philipp Amely für das Bachelorstudium aufbringen müssen, inklusive Auslandssemester. Für ihn allerdings war von vornherein klar: Er will das alleine schultern mit einem Studienkredit – auch wenn die Eltern ihn sicher gerne unterstützt hätten. Die Schulden, die er sich für später aufbürdet, sind ihm bewusst, unruhig machen sie den jungen Mann mit dem grauen Kapuzenpulli nicht. Im Gegenteil: Er schaut selbstbewusst und recht gelassen in seine berufliche Zukunft, die ihn voraussichtlich erst einmal in eine Bank führen wird:
"Wenn man später mal etwas erreichen will, denke ich, ist die Ausbildung doch das Wichtigste und legt die entsprechenden Grundlagen. Und ob man da jetzt 2.000 oder 10.000 Euro für eine entsprechende Ausbildung bezahlt, ist, wenn man die entsprechenden Grundlagen hat und finanziell auch durch die Eltern irgendwo abgesichert ist, nicht so entscheidend. In einer meiner ersten Vorlesungen an der Frankfurt School wurde mir gezeigt, was so das Durchschnittsgehalt nach dem Abschluss eines Bachelors oder eines Masters ist, mit welchen Zahlen man da so rechnen kann. Wenn man diese Zahlen sieht, das bestärkt einen einfach auch, das Richtige zu studieren. Irgendwo guckt jeder doch später aufs Gehalt. Auch wenn Geld nicht alles im Leben ist. Es macht vieles im Leben leichter."
Daniela Matheis sitzt an ihrem Laptop in der Bibliothek der Universität Dresden und schreibt Bewerbungen. Die 27-Jährige hat gerade ihren Master in BWL gemacht und will jetzt ins Berufsleben starten, am liebsten im Bereich Marketing bei einem Lebensmittelkonzern. Daniela ist in ihrer Familie die erste mit einem akademischen Abschluss. Ihr Vater ist Elektriker, die Mutter Hausfrau. Damit gehört die junge Frau zu einer Minderheit in Deutschland.
Laut einer Studie des Deutschen Studentenwerks schaffen von hundert Nichtakademikerkindern gerade mal 24 den Sprung auf die Universität. Bei Kindern von Akademikern sind es 71 von 100, also fast dreimal so viele. In keinem europäischen Land ist der Bildungserfolg der Kinder so stark abhängig vom Bildungshintergrund der Eltern wie in Deutschland. Die hohe finanzielle Belastung ist dabei nur einer von vielen Gründen, die Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, häufig von einem Studium abhalten.
Daniela ist diesen für ihre Familie neuen Weg erfolgreich gegangen. Ihre Eltern haben sie immer unterstützt, sagt sie. Anders aber als bei Philipp Amely konnten sie aber bei der Wahl des Studienfachs und auch bei Finanzierung nur wenig helfen.
Die junge Frau aus Rheinland-Pfalz studierte zunächst an der Fachhochschule Koblenz, nah am Heimatort. Die ersten Schritte an der Hochschule, im akademischen Milieu, waren schwierig, erinnert sich Daniela:
"Ich will nicht sagen, dass Akademikerkinder auch die eine oder andere Hürde haben und sich am Anfang am Campus auch nicht zurecht finden. Aber ich finde es ganz wichtig, dass die Eltern schon eine gewisse rhetorische Basis ihren Kindern mitgegeben haben und gewisse Fremdwörter schon im normalen Sprachgebrauch vorhanden sind. Und das war bei mir nicht der Fall. Ich saß am Anfang in der Vorlesung und habe mir Fremdwörter, ganz normale Fremdwörter, keine Fachwörter, mitgeschrieben und Zuhause nachgeschlagen. Ich musste z.B. nachschlagen, was "Kommilitone" bedeutet, weil ich das nicht wusste."
Mit diesen Erfahrungen steht die 27-Jährige nicht alleine da. 2008 gründete Katja Urbatsch, damals Doktorandin in Gießen, das Internetportal "Arbeiterkind.de". Wie Daniela Matheis war auch Urbatsch die erste Akademikerin in ihrer Familie. Auch sie war an der Universität auf viele Hürden gestoßen. "Arbeiterkind" will Kindern von Nichtakademikern den Weg zu Abitur und Hochschulabschluss erleichtern. Die Ehrenamtlichen gehen an Haupt- und Realschulen sowie an Gymnasien, erzählen ihre Geschichte, geben Ratschläge. Fast über Nacht wurde das Internetportal zu einer bundesweiten Initiative. 2009 wurde "Arbeiterkind" im Wettbewerb "Deutschland – Land der Ideen" ausgezeichnet. Katja Urbatsch ist inzwischen hauptamtlich für die Initiative tätig. 70 Ortsgruppen gibt es mittlerweile und ein Onlinenetzwerk. Mehr als 5000 ehrenamtliche Mentoren arbeiten bundesweit mit. Auch Daniela Matheis:
"Wenn es darum geht, sich für ein Stipendium zu bewerben, auch da einfach nur Mut machen und sagen, das ist nicht nur was für absolute Überflieger und Hochbegabte, sondern auch für Leute, die sich engagieren, die trotzdem gute Leistungen haben. Da haben auch oft Arbeiterkinder so eine gewisse Bescheidenheit und trauen sich viele Dinge nicht zu, und die muss man so ein bisschen anstupsen, damit sie sich einfach trauen, das zu probieren."
Gegen 12 macht Daniela eine Pause, holt sich in der Mensa einen Salat und setzt sich zu Matthias Schüssler an den Tisch. Der junge Mann mit der runden Brille studiert an der Universität Dresden Politik und Soziologie. Die beiden kennen sich von "Arbeiterkind". Auch Matthias ist als Mentor tätig:
"Ich hatte letztens versucht, an einer Mittelschule unsere Initiative vorzustellen. Da wurde gesagt, also wir haben hier ganz andere Probleme. Bei uns sind nicht die Arbeiterkinder das Problem, sondern die Arbeitslosenkinder, so nach dem Motto: So eine Perspektive wie Abitur oder Studium, das ist für unsere Schüler nichts. Und da habe ich schon wieder gemerkt, da ist schon wieder diese Schranke im Kopf. Und wenn wir nur einem Schüler in der Klasse die Perspektive aufgeben und der vielleicht diesen Weg geht, dann wäre das ja schon ein Erfolg."
Auch für seinen eigenen Werdegang hätte Matthias sich eine solche Unterstützung gewünscht. Der heute 35-Jährige kam erst über viele Umwege an die Universität, obwohl er sich schon als Jugendlicher für Politik und Gesellschaft interessiert hatte. Doch nach der mittleren Reife im Rheinland-pfälzischen
Idar-Oberstein besuchte der Sohn eines kaufmännischen Angestellten und einer Stewardess zunächst eine Berufsschule für Wirtschaft – eine naheliegende Option, wie er heute sagt:
"Zum einen wusste ich zum damaligen Zeitpunkt auch noch nicht, was ich machen möchte. Es war zumindest so, dass das ein Berufsweg ist, den man nachvollziehen kann, den man kennt. Ich habe auch gesagt, ok, ich probiere es aus, vielleicht ist es ja was für mich."
Buchhaltung, DIN-gerechte Geschäftsbriefe schreiben, Finanzen – bald stellte sich heraus: Es war nicht der richtige Weg für Matthias Schüssler:
"Das war mir zu starr, zu langweilig. Und ich habe danach Praktikum in einer Werbeagentur gemacht, weil ich damals schon viel am Computer grafisch gearbeitet habe, und habe dann gemerkt, ok, in diese Richtung kann ich mir das eher vorstellen. Seit dem damaligen Zeitpunkt habe ich auch angefangen, mich politisch zu engagieren, habe viel im Wahlkampf mitgeholfen. Diese Schnittstelle zwischen Werbung, Internet, Wahlkampf und politischer Arbeit, das hat sich dann so nach und nach rauskristallisiert, dass ich das machen möchte beruflich."
Spätestens zu diesem Zeitpunkt, erinnert sich der angehende Politologe, hätte ihm eine Organisation wie "Arbeiterkind" viel geholfen. Wie mache ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur? Welche Fächer studiere ich am besten für mein berufliches Ziel? Heute weiß er, was er beruflich machen möchte: Wahlkampfmanager, Pressearbeit für Parteien - etwas in diese Richtung.
Bei "Arbeiterkind" wollen sich Daniela und Matthias auch weiterhin engagieren und dafür kämpfen, dass es in Deutschland in Zukunft mehr Bildungsgerechtigkeit gibt.
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