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Chancengleichheit unerwünscht

Die wenigsten Kinder aus bildungsfernen Schichten schaffen es auf weiterführende Schulen, geschweige denn auf Hochschulen. Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer ist einer von ihnen, und er hat es geschafft. Die Demütigungen auf dem Weg zur akademischen Reife hat Preisendörfer nicht vergessen. Und deshalb hat er ein zorniges Buch geschrieben über ein Bildungswesen, das in seinen Augen den wirklich Bedürftigen alle Chancen systematisch vorenthält. Mehr über das Buch von Sandra Pfister.

    Segregation und Selektion seien die Kernstücke des deutschen Bildungswesens:

    Lieschen Müller und Fritz Klein sind stets nur Gastarbeiter im bürgerlichen Bildungssystem. Ihre Rekrutierung hängt von Konjunkturen ab. Chancengleichheit muss man sich leisten können, Gerechtigkeit ist ein Luxusartikel für fette Jahre.
    Das beste Beispiel ist der Sputnik-Schock 1957. Kleine-Leute-Kinder, so der Autor, wären ohne den Sputnik-Schock nie auch nur in die Nähe einer höheren Schule oder einer Hochschule gelangt. Im Kalten Bildungskrieg, so nennt Preisendörfer die bildungspolitische Aufrüstung, zählten Lehrer an der Bildungsfront und Ingenieure an der technologischen Front.

    Der technische Vorsprung der Sowjetunion konnte nur eingeholt werden, wenn es gelang, die Begabungsreserven im Volk zu mobilisieren.
    Preisendörfer hingegen bekennt sich enthusiastisch zu Ralf Dahrendorfs Forderung aus den 60ern, Bildung als Bürgerrecht zu betrachten, unabhängig vom wirtschaftlichen Nutzen. Ein Bürgerrecht, allerdings, das derzeit vor allem die Mittel- und Oberschicht nutzten, schreibt der Autor.

    Man selektiert die Schulen, um der Selektion der Kinder zuvorzukommen, und das kann man wirklich verstehen. Ich würde es auch nicht anders halten. Allerdings ohne den für die Bigotterie der multikulturellen Mittelschicht typischen Versuch, so zu tun, als wäre das Omelett zu haben, ohne Eier zu zerschlagen.

    Preisendörfer: "Und was mich dann wirklich kirre macht, ist, wenn Menschen gleichzeitig das Interesse und die Moral haben wollen. Und das geht nun oft nicht."

    Privilegierte schreiben ihre Bildungserfolge der eigenen Begabung zu, nicht der "Pole Position", die ihnen im Rennen durch die Institutionen vom Kindergarten bis zur Hochschule zuvorkommend eingeräumt oder von den Eltern erkämpft wird.

    Preisendörfer ist Schriftsteller, und so verschränken sich Autobiographie, literarisches Werk, Essay und Sachbuch zu einem lesenswerten Hybridwerk, in dem auch Pinocchio zu Wort kommt. Was hat uns Pinocchio bildungspolitisch mitzuteilen? Pinocchio ist ein geschnitzter Hampelmann, der davon läuft, weil er nicht in die Schule will. Einen Bildungsweg hat er aber dann trotzdem vor sich, und am Ende dieses Weges gelingt ihm das, was er sich immer gewünscht hat: Er wird in einen richtigen Jungen verwandelt.

    "Das Interessante an dieser Bildungsgeschichte ist: Pinocchio war aus gewöhnlichem Holz. Und ursprünglich sollte daraus ein Tischbein gemacht werden. Und der Schreiner hackt halt auf dem Holzstück herum, und dann schreit der Pinocchio, und dann wird halt eben dieser Hampelmann aus dem Holz geholt, weil wer will schon Tischbein sein, und erlebt seine Abenteuer und wird dann im Laufe dieser Abenteuer von einer Tortur durch die andere geschickt, um endlich zu einem vollwertigen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Also da ist in dieser parabelhaften Form das ganze Drama der Erziehung mit aufbewahrt."
    Pinocchio ist aus einfachem Holz gemacht; Pinocchio ist also der Proletarier unter den Bildungshungrigen, er ist ein Bif, ein Bildungsferner, an dem sich Preisendörfers Grundthese durchexerzieren lässt. Die Herkunft bestimmt den Bildungserfolg.

    Promoviert gezeugte Kinder gehen nicht auf die Hauptschule.
    Preisendörfer hat es - wie Pinocchio - zwar geschafft, aber glücklich gemacht hat es ihn nicht. Wütend wirkt er und will sich die Wut auch von der Seele schreiben, polemisch sein. Vom ersten Augenblick spürt man: Hier rechnet einer ab mit einem Bildungssystem, das ihm so manchen Tort angetan hat. Erst bekam er nur eine Empfehlung für die Realschule, dann flog er wegen Latein vom Internatsgymnasium, um anschließend doch noch die Kurve zu kriegen und ein gelungenes Studium zu absolvieren. Doch das traut er, bei aller Sympathie, den Bildungsarmen von heute kaum noch zu.

    Die Unterschichten sind mental zu derangiert, um so etwas wie Bildungsneid überhaupt entwickeln zu können.

    "Und da ist in der Tat eine bedauernswerte und himmelschreiende Interesselosigkeit bei den Leuten, denen etwas vorenthalten wird, selber vorhanden. Also wenn ich meine Rechte und meine Interessen nicht geltend mache, sondern selber darauf, pardon, "scheiße", wie solche Leute dann gelegentlich zu sagen, pflegen, dann muss man sich nicht wundern, dass einem das, was man selbst mit Füßen tritt, auch gar nicht angeboten wird."
    Desinteresse, falsche Bescheidenheit, Pragmatismus - oder einfach die Angst, dass das eigene Kind später auf einen herabschauen könnte - Preisendörfer konstatiert viele Gründe dafür, dass aufstrebende Arbeitereltern sich bis heute häufig mit der zweitbesten Schulform zufrieden geben - der Realschule. Hier wird deutlich: Preisendörfer attackiert nicht nur die Undurchlässigkeit unseres Bildungssystems. Er verschränkt diese neutrale Perspektive auch mit seiner eigenen Erfahrungswelt, und da ist sein Buch am interessantesten und auch anrührend.

    "Man verlässt die Herkunft, es finden Entfremdungen statt, man redet ja ganz anders, man redet nicht mehr so, wie bei uns der Schnabel gewachsen ist, man verliert die Kontakte, vieles wird missverständlich, und kommt gleichzeitig, nicht immer, dort, wo man hin will, nie wirklich an."
    Bei aller Liebe zu den Bildungsfernen - auch der Bildungsgewinnler, Preisendörfer, distanziert sich von seiner Herkunft genau so, wie er es vorher in der Theorie beschrieben hat. Seine Attacke gegen die Dialekte, die wie ein Fremdkörper wirkt in diesem Buch, schießt über das Ziel hinaus.

    Man kann es auch so sagen: Dialekt macht dumm. Wer in den ersten Lebensjahren ausschließlich dialektal kommuniziert, ist bei allen intellektuellen Lernschritten der folgenden Jahre benachteiligt.
    Da überkompensiert jemand, weil der Dialekt seine Herkunft verrät, von der er so gerne endlich loskommen möchte.
    So fehl der Autor also mit dieser herzblutgetränkten Analyse geht, so treffend ist sein Gefühl für Sprache in anderen Fällen. So dekonstruiert er vermeintlich gut gemeinte Bildungsparolen wie den Satz, dass ein begabtes Arbeiterkind genau die gleichen Bildungschancen haben soll wie Akademikerkinder. Was ist daran falsch?

    "Der Pferdefuß oder das Teufelshorn ist natürlich das Adjektiv "begabt". Weil es wird ja kein Mensch auf die Idee kommen, zu sagen, jedes begabte Professorenkind soll auf die Universität gehen, da setzt man natürlich Begabung voraus."
    Die vermeintlich gut gemeinte Aussage enthält bereits eine herablassende Diskriminierung. Preisendörfer verleiht dieser "sozialen" Diskriminierung einen eigenen Namen: Er nennt sie etwa manieriert "Klassismus". Und der sei in der Bundesrepublik tabuisiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Sein dürfen aber Studiengebühren. Preisendörfer schwingt sich zu ihrem vehementen Verfechter auf; das hätte man von einem Kind mit Proletariervergangenheit und deutlich linken Ideen nicht erwartet.

    "Das Studium ist ein Privileg, und es ist nicht einzusehen, dass unten, an der untersten Ebene, jeder Kindergarten, jede Krippe ist gebührenpflichtig, dass da allen Geld abverlangt wird und oben, in den privilegierten Positionen, dann nichts verlangt wird."

    Studiengebühren ja, aber sozial verträglich bitte - aber was schlägt Preisendörfer über Studiengebühren hinaus vor? Auf jeden Fall - und das ist erfrischend - nicht den allfälligen Blick nach Finnland. Rezepte für ein 5,5 Millionen-Volk ließen sich nicht auf ein Volk mit 80 Millionen Menschen übertragen, das sei kurios.

    Von den Finnen lernen heißt gar nichts lernen, sobald es um Bildung und nicht um Saunen und Handys geht.

    Die Ratschläge der Finnen haben aber immerhin den Vorteil, konkret zu sein. Das geht Preisendörfer völlig ab. Er bleibt schwammig, und das ist schade bei einer so klarsichtigen Streitschrift.

    Es käme darauf an, analog zum Bürgersinn einen Bildungssinn zu entwickeln.

    Dem Staat empfiehlt Preisendörfer eine Bildungsentwicklungspolitik; sie soll nicht einfach nur die vorhandenen Angebote reorganisieren, sondern sich grundsätzlich Neues einfallen lassen. Das aber hätte auch Preisendörfer tun können, ja sollen. Preisendörfer hat also eloquent geschimpft, zarte Literatur einfließen lassen, seine eigene Bildungsbiographie anrührend beschrieben, trefflich analysiert. Aber warum geht er keinen Schritt weiter?

    Gestanzte Formeln von Bildungssinn, Bildungsbewegung und Bildungsentwicklungspolitik lassen nicht mal eine Idee davon aufkommen, was damit gemeint sein könnte. "Klingt das nicht nach Sonntagsrede?" fragt der Autor im vorletzten Absatz? Ja, das tut es. Aber das entwertet keineswegs die klugen Denkanstöße dieses Buches, das seinen Furor aus der Scham und der Wut entwickelt.

    Ein Lob mit Einschränkungen von Sandra Pfister für Bruno Preisendörfer und sein Buch: Das Bildungsprivileg: Warum Chancengleichheit unerwünscht ist, Eichborn Verlag, 195 Seiten, Euro 16,95.