Auf Daguerrotypien tragen sie buschige Vollbärte, als begänne Freiheit dort, wo man sich keinem Zwang zur Rasur unterwerfen müsse. Wer Bakunin neben Karl Marx sieht, mag beide optisch miteinander verwechseln, inhaltlich jedoch trennten sie Welten. Der eine vagabundierender Anarchist und immer dabei, wenn es nach Aufstand, Revolte, Umsturz roch; der andere ein gnadenloser Systematiker, dem das theoretische Prinzip und dessen Wahrheitsanspruch über alles ging. Einig waren sich beide nur in der Ablehnung bestehender Ordnungen von restaurativer Monarchie in Europa und republikanischem Industriekapitalismus in den USA. Doch damit endeten schon alle Gemeinsamkeiten.
"Es ist mehr eine peinliche Pflicht als Rechthaberei darauf hinzuweisen, dass Anarchisten seit den Tagen, als es den Kommunismus erst als Ideenskizze gab, sein Scheitern vorausgesagt haben und die Gründe für dieses Scheitern benannten. [...] Peinlich, weil es für sie beschämend wäre, in den Verdacht billiger Schadenfreude zu geraten. Sie möchten sich ungern in den Chor jener überheblichen Leichenfledderer einreihen, die selbst keinerlei Lösungen anzubieten haben und deshalb besser daran täten zu schweigen. Pflicht, weil gerade der Zusammenbruch des Kommunismus die Aufmerksamkeit auf unsere Gesellschaft lenken muss, die ebenso unerwartet zusammenbrechen könnte."
Schon aus diesem kurzen Absatz von Horst Stowassers voluminösem Erläuterungsversuch "Anarchie" liest sich ein Credo heraus: Alle existierenden Gesellschaftsordnungen sind ungenügend, weswegen ihr Zusammenbruch so wünschenswert wäre, wie er nicht unerwartet käme. Die Ursache für Unfreiheit, Ungerechtigkeit und schiefe Wohlstandsverteilung liegt dabei stets im Konzept der Staatlichkeit an sich, das Herrschaft einiger über viele bedeutet. Die Spielart des autoritären Kommunismus machte da ebenso wenig eine Ausnahme wie die der repräsentativen Demokratie.
"Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft."
Ein alter Freiheitstraum, der nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt hat, auch wenn sich die Lage der Unterprivilegierten im Vergleich zum 19. Jahrhundert hierzulande dramatisch verbesserte. Von der garantierten Lebenssicherheit eines Hartz-IV-Empfängers lässt sich kaum eine Linie zurück zum Lumpenproletariat vergangener Tage ziehen, ohne sich unglaubwürdiger Übertreibungen schuldig zu machen. Stowasser, ein alter Kämpe der Bewegung mit buntem Lebenslauf, ist dementsprechend vorsichtig. Er weiß, dass man sich mit anarchistischer Kritik am Status quo auf dünnem Eis bewegt, da die Feindbilder massiv überzeichnet werden müssten, um mit den vertrauten der Vergangenheit konkurrieren zu können. Der Staat wird ja kaum mehr als Gegner gesehen, weil ihn auch kaum jemand übermäßig adoriert:
"Die glühenden Patrioten sind heutzutage fast ausgestorben; moderne Staatsbürger haben stattdessen eine 'negative Identifikation' mit dem Staat, und diese Hassliebe ist zäh und schwerer zu erschüttern als der hohle Nationalismus vergangener Epochen - ein Phänomen, das Anarchisten übrigens oft unterschätzen."
Was für die Zukunft bleibt, sagt Horst Stowasser, ist der Versuch, sich von der Anarchie als Antihaltung zu verabschieden. Denn genau dieser Negativfixierung sei es geschuldet, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts blutige Attentate zutrugen, die mit dem Wesen des Anarchismus an sich wenig zu tun hätten. Dem versucht der Autor eine positive Fundierung entgegenzusetzen. Das freilich ist mühselig. Erstens hat die marxistische Utopie gezeigt, wie man mit der für jede Fundierung unabdingbaren Systematik dem Abgrund entgegenwirtschaftet. Zweitens stellt sich das Prinzip "Herrschaftsfreiheit" selbst quer zum Diktat jeglicher Regelwerke. Was eine "anarchistische Ordnung" - contradictio in adjecto? - zu bieten hat, bleibt darum notgedrungen diffus:
"Wenn wir 'anarchistisch' als 'freiheitlich' definieren und diesen unscharfen Begriff mit Inhalten wie dezentral, nicht hierarchisch, gewaltfrei, solidarisch, föderalistisch, selbstverwaltet und vielfältig füllen, mit Techniken wie freier Vereinbarung, Bedürfnisprinzip, Selbstorganisation, Konsens und Assoziationsfreiheit oder mit Tugenden wie gegenseitiger Hilfe, Solidarität und Gewaltverzicht, so nimmt die praktische Nutzanwendung solcher Grundwerte auf konkrete Gesellschaften durchaus realistische Züge an, die bei der bloßen anarchistischen Idealutopie 'Herrschaftsfreiheit' nicht ohne weiteres einleuchten.2"
Deutlich schimmern die Probleme des Anarchismus als reale Lebensform durch: Es sind die unauflöslichen Widersprüche, die selbst gutwilligen Menschen auf Schritt und Tritt begegnen. So erscheint die im Buch vielfach gepriesene Technik der "freien Vereinbarung" ihrerseits hoch repressiv, denn die Tatsache, dass klare, für jedermann einsichtige und damit effiziente Handlungs- und Umgangsregeln durch einen unaufhörlichen Diskurs ersetzt werden sollen, muss jeden entscheidungsfreudigen Menschen in Wut oder Resignation treiben. Die Pflicht zur Debatte, ja zum angestrebten Konsens dabei stellt einen gewaltiger Zwang dar.
""Wer nicht souverän mit den Elementen 'Delegation', 'Vertrauen' und dem Zusammenspiel von Groß- und Kleingruppe umgehen kann, wird wenig Freude an Basisdemokratie und Konsens haben. Hunderte von alternativen Projekten, die glaubten, jeden Nagel in einer Wand und jedes Wort in einem Text konsensmäßig ausdiskutieren zu müssen, können davon ein tragikomisches Lied singen: Entweder haben sie dazugelernt und ihre Methoden verfeinert, oder aber sie sind daran zerbrochen."
Das ist der erfrischend undogmatische Tonfall in Horst Stowassers "Anarchie". Obwohl das Buch eindeutig zur Gattung der Klientelliteratur zählt, sich also an eine eingeweihte, zumindest mit dem Anliegen sympathisierende Leserschaft wendet, spart es nicht mit Kritik an Gesinnungsgenossen und spießt süffisant die wildesten Sumpfblüten der Bewegung auf; das Totdiskutieren von Projekten aller Art gehört fraglos dazu. Eine Siegesgeschichte um den Preis der Unwahrheit will der Autor nicht erzählen, auch wenn er vielerlei kleine und große Versuche recherchiert hat, die in den letzten 150 Jahren erfolgreich begannen und allesamt scheiterten. Leicht lässt sich in den Fällen der Pariser Commune, des Spanischen Bürgerkriegs und anderer anarchistischen Großunternehmungen , zu denen auch eine weithin unbekannte Episode in der Ukraine, ja sogar eine in Korea zählt, auf den Eingriff militärischer Mächte verweisen.
Doch ist das redlich argumentiert? Eine Gesellschaftsform, die auf die Toleranz ihrer erbittertsten Gegner hoffen muss, hat nüchtern betrachtet keinerlei Realisierungschancen. Dabei ist der immanente Pazifismus das sympathischste Element in Stowassers Anarchiekonzept. Es schlägt sich im bergpredigtgleichen Leitsatz nieder, in den praktizierten Mitteln müsse stets das Ziel anwesend sein. Eine machtfreie Gesellschaft lässt sich so niemals mit Gewalt herbeibomben. Das unterscheidet den Anarchismus der milden Geistesart von der kommunistischen Revolutionsdoktrin, die für eine "gerechte Gesellschaft" Millionen umbringen lassen kann, ohne dabei das Konzept der Gerechtigkeit im Mindesten beeinträchtigt zu sehen. Doch halt, auch Horst Stowasser mag verquere Dialektik, leider.
"Die 'Anwesenheit des Ziels in den Mitteln' ist ein kluger Grundsatz des Anarchismus. Jeder Mensch weiß, dass auch dieser Grundsatz ein Ziel ist, ein Ziel, das beständig angestrebt werden muss, aber nicht immer erreicht wird. Eine Maxime, wie die Philosophen sagen."
Will heißen: Die Regel gilt ganz uranarchistisch bestenfalls als unverbindliche Empfehlung, deren Verletzung keine Grundsätze negiert. Schon sind wir um eine Illusion ärmer. Die Bergpredigt hat nicht funktioniert, "Anwesenheit des Ziels in den Mitteln" bleibt in der Praxis ebenfalls uneingelöst. Dass es sich dennoch lohnt, das bei kleinen stilistischen Ausreißern flüssig geschriebene, wissenspralle und anekdotenreiche Buch zu lesen, liegt an seiner grundsätzlichen Weigerung, sich dem verengten Blick der Szene zu unterwerfen. Ihr attestiert der Autor, am Scheideweg zwischen sozialer Bewegung und Sekte zu stehen, wobei nicht ausgemacht sei, ob sie denn als soziale Bewegung überhaupt Erfolge zeitigen könne. Als Monographie taugt das umfangreiche Buch mit opulentem Bildteil leider dennoch nicht, weist es dafür doch zu deutlich zwei blinde Flecke auf. Zum einen werden seine ökonomischen Betrachtungen kaum der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts gerecht, sie sind rückwärtsgewandt, kurzschlüssig und werfen schon mal ausgesprochene Antipoden wie Milton Friedman und John Kenneth Galbraith in einen Topf. Zum anderen negiert Stowasser eine ihm offensichtlich unbequeme Fraktion völlig, nämlich die radikalen Anarchokapitalisten der USA, die in ihrer Ablehnung von Staatlichkeit und ihrer Vorliebe für autonome Einheiten durchaus Gesinnungsgenossen sind. Nur in einem einzigen, tadelnden Nebensatz auf 500 Seiten findet deren Haupttheoretiker Murray Rothbard Erwähnung.
Doch auch die Anarchokapitalisten bezeichnen sich als "Libertäre", und wer dem menschlichen Zusammenleben eine "andere Grammatik" jenseits der Staatlichkeit geben will, muss sich mit deren Ideologie auseinandersetzen. Letztlich glauben die Vertreter des Linksanarchismus immer noch ans sozialistische Paradies des allgemeinen Zugriffs von jedermann auf alles zu jeder Zeit und verabscheuen ganz anders als die Anarchokapitalisten den Begriff den Eigentums aus tiefstem Herzen. So reichen sich Marx und Bakunin im Himmel - oder in der Hölle? - versöhnend die Hand.
Horst Stowasser: Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven
Edition Nautilus, Hamburg
448 Seiten, 24,90 Euro
"Es ist mehr eine peinliche Pflicht als Rechthaberei darauf hinzuweisen, dass Anarchisten seit den Tagen, als es den Kommunismus erst als Ideenskizze gab, sein Scheitern vorausgesagt haben und die Gründe für dieses Scheitern benannten. [...] Peinlich, weil es für sie beschämend wäre, in den Verdacht billiger Schadenfreude zu geraten. Sie möchten sich ungern in den Chor jener überheblichen Leichenfledderer einreihen, die selbst keinerlei Lösungen anzubieten haben und deshalb besser daran täten zu schweigen. Pflicht, weil gerade der Zusammenbruch des Kommunismus die Aufmerksamkeit auf unsere Gesellschaft lenken muss, die ebenso unerwartet zusammenbrechen könnte."
Schon aus diesem kurzen Absatz von Horst Stowassers voluminösem Erläuterungsversuch "Anarchie" liest sich ein Credo heraus: Alle existierenden Gesellschaftsordnungen sind ungenügend, weswegen ihr Zusammenbruch so wünschenswert wäre, wie er nicht unerwartet käme. Die Ursache für Unfreiheit, Ungerechtigkeit und schiefe Wohlstandsverteilung liegt dabei stets im Konzept der Staatlichkeit an sich, das Herrschaft einiger über viele bedeutet. Die Spielart des autoritären Kommunismus machte da ebenso wenig eine Ausnahme wie die der repräsentativen Demokratie.
"Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft."
Ein alter Freiheitstraum, der nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt hat, auch wenn sich die Lage der Unterprivilegierten im Vergleich zum 19. Jahrhundert hierzulande dramatisch verbesserte. Von der garantierten Lebenssicherheit eines Hartz-IV-Empfängers lässt sich kaum eine Linie zurück zum Lumpenproletariat vergangener Tage ziehen, ohne sich unglaubwürdiger Übertreibungen schuldig zu machen. Stowasser, ein alter Kämpe der Bewegung mit buntem Lebenslauf, ist dementsprechend vorsichtig. Er weiß, dass man sich mit anarchistischer Kritik am Status quo auf dünnem Eis bewegt, da die Feindbilder massiv überzeichnet werden müssten, um mit den vertrauten der Vergangenheit konkurrieren zu können. Der Staat wird ja kaum mehr als Gegner gesehen, weil ihn auch kaum jemand übermäßig adoriert:
"Die glühenden Patrioten sind heutzutage fast ausgestorben; moderne Staatsbürger haben stattdessen eine 'negative Identifikation' mit dem Staat, und diese Hassliebe ist zäh und schwerer zu erschüttern als der hohle Nationalismus vergangener Epochen - ein Phänomen, das Anarchisten übrigens oft unterschätzen."
Was für die Zukunft bleibt, sagt Horst Stowasser, ist der Versuch, sich von der Anarchie als Antihaltung zu verabschieden. Denn genau dieser Negativfixierung sei es geschuldet, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts blutige Attentate zutrugen, die mit dem Wesen des Anarchismus an sich wenig zu tun hätten. Dem versucht der Autor eine positive Fundierung entgegenzusetzen. Das freilich ist mühselig. Erstens hat die marxistische Utopie gezeigt, wie man mit der für jede Fundierung unabdingbaren Systematik dem Abgrund entgegenwirtschaftet. Zweitens stellt sich das Prinzip "Herrschaftsfreiheit" selbst quer zum Diktat jeglicher Regelwerke. Was eine "anarchistische Ordnung" - contradictio in adjecto? - zu bieten hat, bleibt darum notgedrungen diffus:
"Wenn wir 'anarchistisch' als 'freiheitlich' definieren und diesen unscharfen Begriff mit Inhalten wie dezentral, nicht hierarchisch, gewaltfrei, solidarisch, föderalistisch, selbstverwaltet und vielfältig füllen, mit Techniken wie freier Vereinbarung, Bedürfnisprinzip, Selbstorganisation, Konsens und Assoziationsfreiheit oder mit Tugenden wie gegenseitiger Hilfe, Solidarität und Gewaltverzicht, so nimmt die praktische Nutzanwendung solcher Grundwerte auf konkrete Gesellschaften durchaus realistische Züge an, die bei der bloßen anarchistischen Idealutopie 'Herrschaftsfreiheit' nicht ohne weiteres einleuchten.2"
Deutlich schimmern die Probleme des Anarchismus als reale Lebensform durch: Es sind die unauflöslichen Widersprüche, die selbst gutwilligen Menschen auf Schritt und Tritt begegnen. So erscheint die im Buch vielfach gepriesene Technik der "freien Vereinbarung" ihrerseits hoch repressiv, denn die Tatsache, dass klare, für jedermann einsichtige und damit effiziente Handlungs- und Umgangsregeln durch einen unaufhörlichen Diskurs ersetzt werden sollen, muss jeden entscheidungsfreudigen Menschen in Wut oder Resignation treiben. Die Pflicht zur Debatte, ja zum angestrebten Konsens dabei stellt einen gewaltiger Zwang dar.
""Wer nicht souverän mit den Elementen 'Delegation', 'Vertrauen' und dem Zusammenspiel von Groß- und Kleingruppe umgehen kann, wird wenig Freude an Basisdemokratie und Konsens haben. Hunderte von alternativen Projekten, die glaubten, jeden Nagel in einer Wand und jedes Wort in einem Text konsensmäßig ausdiskutieren zu müssen, können davon ein tragikomisches Lied singen: Entweder haben sie dazugelernt und ihre Methoden verfeinert, oder aber sie sind daran zerbrochen."
Das ist der erfrischend undogmatische Tonfall in Horst Stowassers "Anarchie". Obwohl das Buch eindeutig zur Gattung der Klientelliteratur zählt, sich also an eine eingeweihte, zumindest mit dem Anliegen sympathisierende Leserschaft wendet, spart es nicht mit Kritik an Gesinnungsgenossen und spießt süffisant die wildesten Sumpfblüten der Bewegung auf; das Totdiskutieren von Projekten aller Art gehört fraglos dazu. Eine Siegesgeschichte um den Preis der Unwahrheit will der Autor nicht erzählen, auch wenn er vielerlei kleine und große Versuche recherchiert hat, die in den letzten 150 Jahren erfolgreich begannen und allesamt scheiterten. Leicht lässt sich in den Fällen der Pariser Commune, des Spanischen Bürgerkriegs und anderer anarchistischen Großunternehmungen , zu denen auch eine weithin unbekannte Episode in der Ukraine, ja sogar eine in Korea zählt, auf den Eingriff militärischer Mächte verweisen.
Doch ist das redlich argumentiert? Eine Gesellschaftsform, die auf die Toleranz ihrer erbittertsten Gegner hoffen muss, hat nüchtern betrachtet keinerlei Realisierungschancen. Dabei ist der immanente Pazifismus das sympathischste Element in Stowassers Anarchiekonzept. Es schlägt sich im bergpredigtgleichen Leitsatz nieder, in den praktizierten Mitteln müsse stets das Ziel anwesend sein. Eine machtfreie Gesellschaft lässt sich so niemals mit Gewalt herbeibomben. Das unterscheidet den Anarchismus der milden Geistesart von der kommunistischen Revolutionsdoktrin, die für eine "gerechte Gesellschaft" Millionen umbringen lassen kann, ohne dabei das Konzept der Gerechtigkeit im Mindesten beeinträchtigt zu sehen. Doch halt, auch Horst Stowasser mag verquere Dialektik, leider.
"Die 'Anwesenheit des Ziels in den Mitteln' ist ein kluger Grundsatz des Anarchismus. Jeder Mensch weiß, dass auch dieser Grundsatz ein Ziel ist, ein Ziel, das beständig angestrebt werden muss, aber nicht immer erreicht wird. Eine Maxime, wie die Philosophen sagen."
Will heißen: Die Regel gilt ganz uranarchistisch bestenfalls als unverbindliche Empfehlung, deren Verletzung keine Grundsätze negiert. Schon sind wir um eine Illusion ärmer. Die Bergpredigt hat nicht funktioniert, "Anwesenheit des Ziels in den Mitteln" bleibt in der Praxis ebenfalls uneingelöst. Dass es sich dennoch lohnt, das bei kleinen stilistischen Ausreißern flüssig geschriebene, wissenspralle und anekdotenreiche Buch zu lesen, liegt an seiner grundsätzlichen Weigerung, sich dem verengten Blick der Szene zu unterwerfen. Ihr attestiert der Autor, am Scheideweg zwischen sozialer Bewegung und Sekte zu stehen, wobei nicht ausgemacht sei, ob sie denn als soziale Bewegung überhaupt Erfolge zeitigen könne. Als Monographie taugt das umfangreiche Buch mit opulentem Bildteil leider dennoch nicht, weist es dafür doch zu deutlich zwei blinde Flecke auf. Zum einen werden seine ökonomischen Betrachtungen kaum der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts gerecht, sie sind rückwärtsgewandt, kurzschlüssig und werfen schon mal ausgesprochene Antipoden wie Milton Friedman und John Kenneth Galbraith in einen Topf. Zum anderen negiert Stowasser eine ihm offensichtlich unbequeme Fraktion völlig, nämlich die radikalen Anarchokapitalisten der USA, die in ihrer Ablehnung von Staatlichkeit und ihrer Vorliebe für autonome Einheiten durchaus Gesinnungsgenossen sind. Nur in einem einzigen, tadelnden Nebensatz auf 500 Seiten findet deren Haupttheoretiker Murray Rothbard Erwähnung.
Doch auch die Anarchokapitalisten bezeichnen sich als "Libertäre", und wer dem menschlichen Zusammenleben eine "andere Grammatik" jenseits der Staatlichkeit geben will, muss sich mit deren Ideologie auseinandersetzen. Letztlich glauben die Vertreter des Linksanarchismus immer noch ans sozialistische Paradies des allgemeinen Zugriffs von jedermann auf alles zu jeder Zeit und verabscheuen ganz anders als die Anarchokapitalisten den Begriff den Eigentums aus tiefstem Herzen. So reichen sich Marx und Bakunin im Himmel - oder in der Hölle? - versöhnend die Hand.
Horst Stowasser: Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven
Edition Nautilus, Hamburg
448 Seiten, 24,90 Euro